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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried     

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Erstes Buch

III

Unsre Erde ist vielerlei Revolutionen durchgegangen, bis sie das, was sie jetzt ist, worden

Den Beweis dieses Satzes gibt sie selbst, auch  schon durch das, was sie auf und unter ihrer Oberfläche (denn weiter sind die Menschen nicht gekommen)  zeiget. Das Wasser hat überschwemmt und Erdlagen,  Berge, Täler gebildet; das Feuer hat gewütet, Erdrinden zersprengt, Berge emporgehoben und die geschmolznen Eingeweide des Innern hervorgeschüttet;  die Luft, in der Erde eingeschlossen, hat Höhlen gewölbt und den Ausbruch jener mächtigen Elemente  befördert; Winde haben auf ihrer Oberfläche getobet,  und eine noch mächtigere Ursache hat sogar ihre  Zonen verändert. Vieles hievon ist in Zeiten geschehen, da es schon organisierte und lebendige Kreaturen gab; ja hie und da scheint es mehr als einmal, hier  schneller, dort langsamer, geschehen zu sein, wie fast  allenthalben und in so großer Höhe und Tiefe die versteinten Tiere und Gewächse zeigen. Viele dieser Revolutionen gehen eine schon gebildete Erde an und  können also vielleicht als zufällig betrachtet werden;  andre scheinen der Erde wesentlich zu sein und haben sie ursprünglich selbst gebildet. Weder über jene  noch über diese (sie sind aber schwer zu trennen)  haben wir bisher eine vollständige Theorie; schwerlich können wir sie auch über jene haben, weil sie  gleichsam historischer Natur sind und von zu viel  kleinen Lokalursachen abhängen mögen. Über diese  aber, über die ersten wesentlichen Revolutionen unsrer Erde, wünschte ich, daß ich eine Theorie erlebte.  Ich hoffe, ich werde es; denn obgleich die Bemerkun- gen aus verschiedenen Weltteilen lange noch nicht  vielseitig und genau genug sind, so scheinen mir doch sowohl die Grundsätze und Bemerkungen der allgemeinen Physik als die Erfahrungen der Chemie und  des Bergbaues dem Punkt nahe, wo vielleicht ein  glücklicher Blick mehrere Wissenschaften vereinigt  und also eine durch die andere erkläret. Gewiß ist  Buffon nur der Descartes dieser Art mit seinen kühnen Hypothesen, den bald ein Kepler und Newton  durch rein zusammenstimmende Tatsachen übertreffen und widerlegen möge. Die neuen Entdeckungen,  die man über Wärme, Luft, Feuer und ihre mancherlei Wirkungen auf die Bestandteile, auf Komposition und Dekomposition unsrer Erdwesen gemacht hat, die  simpeln Grundsätze, auf die die elektrische, zum Teil  auch die magnetische Materie gebracht ist, scheinen  mir dazu wo nicht nahe, so doch entferntere Vorschritte zu sein, daß vielleicht mit der Zeit durch  einen neuen Mittelbegriff es einem glücklichen Geist  gelingen wird, unsre Geogonie so einfach zu erklären, als Kepler und Newton das Sonnengebäude darstellten. Es wäre schön, wenn hiemit manche als qualitates occultae bisher angenommene Naturkräfte auf erwiesene physische Wesen reduziert werden könnten.

Wie dem auch sei, so ist wohl unleugbar, daß die  Natur auch hier ihren großen Schritt gehalten und die  größeste Mannigfaltigkeit aus einer ins Unendliche  fortgehenden Simplizität gewähret habe. Eh unsre  Luft, unser Wasser, unsre Erde hervorgebracht wer- den konnte, waren mancherlei einander auflösende,  niederschlagende stamina nötig; und die vielfachen  Gattungen der Erde, der Gesteine, der Kristallisationen, gar der Organisation in Muscheln, Pflanzen, Tieren, zuletzt im Menschen, wieviel Auflösungen und  Revolutionen des einen in das andre setzten die voraus! Da die Natur nun allenthalben auch jetzt noch  alles ans dem Feinsten, Kleinesten hervorbringt und,  indem sie auf unser Zeitmaß gar nicht rechnet, die  reichste Fülle mit der engsten Sparsamkeit mitteilet,  so scheint dieses auch, selbst nach der Mosaischen  Tradition, ihr Gang gewesen zu sein, da sie zur Bildung oder vielmehr zu Ausbildung und Entwicklung  der Geschöpfe den ersten Grund legte. Die Masse  wirkender Kräfte und Elemente, aus der die Erde  ward, enthielt wahrscheinlich als Chaos alles, was auf ihr werden sollte und konnte. In periodischen  Zeiträumen entwickelte sich aus geistigen und körperlichen staminibus die Luft, das Feuer, das Wasser, die Erde. Mancherlei Verbindungen des Wassers, der  Luft, des Lichts mußten vorhergegangen sein, ehe der  Same der ersten Pflanzenorganisation, etwa das  Moos, hervorgehen konnte. Viele Pflanzen mußten  hervorgegangen und gestorben sein, ehe eine Tierorganisation ward; auch bei dieser gingen Insekten,  Vögel, Wasser- und Nachttiere den gebildetern Tieren der Erde und des Tages vor, bis endlich nach allen die Krone der Organisation unsrer Erde, der Mensch, auftrat, Mikrokosmos. Er, der Sohn aller Elemente und  Wesen, ihr erlesenster Inbegriff und gleichsam die  Blüte der Erdenschöpfung, konnte nicht anders als  das letzte Schoßkind der Natur sein, zu dessen Bildung und Empfang viele Entwickelungen und Revolutionen vorhergegangen sein mußten.

Indessen war's ebenso natürlich, daß auch er noch  viele erlebte, und da die Natur nie von ihrem Werk  abläßt, noch weniger einem Zärtling zugut dasselbe  vernachlässigt oder verspätet, so mußte die Austrocknung und Fortbildung der Erde, ihr innerer Brand.  Überschwemmungen, und was sonst daraus folgte,  noch lange und oft fortdauern, auch da Menschen auf  Erden lebten. Selbst die älteste Schrifttradition weiß  noch von Revolutionen dieser Art, und wir werden  späterhin sehen, was diese fürchterlichen  Erscheinungen der ersten Zeit beinah aufs ganze  menschliche Geschlecht für starke Wirkungen gemacht haben. Jetzt sind Umwälzungen dieser ungeheuren Gattung seltner, weil die Erde ausgebildet oder vielmehr alt ist; nie aber können und werden sie unserm Geschlecht und Wohnplatz ganz fremde werden. Es war ein unphilosophisches Geschrei, das Voltaire  bei Lissabons Sturz anhub, da er beinah lästernd die  Gottheit deswegen anklagte. Sind wir uns selbst nicht  und alle das Unsre, selbst unsern Wohnplatz, die  Erde, den Elementen schuldig? Wenn diese, nach  immer fortwirkenden Naturgesetzen, periodisch aufwachen und das Ihre zurücke fordern; wenn Feuer und  Wasser, Luft und Wind, die unsre Erde bewohnbar  und fruchtbar gemacht haben, in ihrem Lauf fortgehn  und sie zerstören; wenn die Sonne, die uns so lang als Mutter erwärmte, die alles Lebende auferzog und an  goldenen Seilen um ihr erfreuendes Antlitz lenkte,  wenn sie die alternde Kraft der Erde, die sich nicht  mehr zu halten und fortzutreiben vermag, nun endlich  in ihren brennenden Schoß zöge: was geschähe anders, als was nach ewigen Gesetzen der Weisheit und  Ordnung geschehen mußte? Sobald in einer Natur  voll veränderlicher Dinge Gang sein muß, so bald  muß auch Untergang sein, scheinbarer Untergang  nämlich, eine Abwechselung von Gestalten und Formen. Nie aber trifft dieser das Innere der Natur, die,  über allen Ruin erhaben, immer als Phönix aus ihrer  Asche ersteht und mit jungen Kräften blühet. Schon  die Bildung unsres Wohnhauses und aller Stoffe, die  es hergeben konnte, muß uns also auf die Hinfälligkeit und Abwechselung aller Menschengeschichte bereiten; mit jeder nähern Ansicht erblicken wir diese  mehr und mehr.

 

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