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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Viertes Buch

II

Zurücksicht von der Organisation des menschlichen Haupts auf die niedern Geschöpfe, die sich seiner Bildung nähern

Ist unser Weg bisher richtig gewesen, so muß, da  die Natur immer gleichförmig wirkt, auch bei niedrigern Geschöpfen dieselbe Analogie im Verhältnis  ihres Haupts zu dem gesamten Gliederbau herrschen,  und sie herrscht auf die augenscheinlichste Weise.  Wie die Pflanze darauf arbeitet, das Kunstwerk der  Blume, als des Geschöpfs Krone, hervorzutreiben, so  arbeitet der ganze Gliederbau in den lebendigen Geschöpfen, um das Haupt als seine Krone zu nähren.  Man sollte sagen, daß der Reihe der Geschöpfe nach  die Natur allen ihren Organismus anwende, immer  mehr und ein feineres Gehirn zu bereiten, mithin dem  Geschöpf einen freiern Mittelpunkt von Empfindungen und Gedanken zu sammeln. Je weiter sie hinaufrückt, desto mehr treibt sie ihr Werk; soviel sie nämlich tun kann, ohne das Haupt des Geschöpfs zu beschweren und seine sinnlichen Lebensverrichtungen  zu stören. Lasset uns einige Glieder dieser hinaufsteigenden organischen Empfindungskette, auch in der  äußern Form und Richtung ihres Haupts, bemerken.

1. In Tieren, wo das Haupt mit dem Körper noch  horizontal liegt, findet die wenigste Ausarbeitung des  Gehirns statt; die Natur hat ihre Reize und Triebe tiefer umher verbreitet. Würmer und Pflanzentiere, Insekten, Fische, Amphibien sind dergleichen. In den  untersten Gliedern der organischen Kette ist kaum  noch ein Haupt sichtbar; in andern kommt's wie ein  Auge hervor. Klein ist's in den Insekten; in den Fischen ist Haupt und Körper noch eins, und in den  Amphibien behält es größtenteils noch seine Horizontallage mit dem ganzen kriechenden Körper. Je mehr  es sich losmacht und hebet, desto mehr erwacht das  Geschöpf aus seiner tierischen Dumpfheit, um so  mehr tritt auch das Gebiß zurück und scheinet nicht  mehr die ganze vorgestreckte Kraft des horizontalen  Körpers. Man vergleiche den Haifisch, der gleichsam  ganz Rachen und Gebiß ist, oder den verschlingenden schleichenden Krokodil mit feinern Organisationen,  und man wird durch zahlreiche Beispiele auf den Satz geführet werden, daß: je mehr das Haupt und der  Körper eines Tiers eine ungetrennte horizontale  Linie sind, desto weniger ist bei ihm zum erhöhetern Gehirn Raum, desto mehr ist sein hervorspringender, ungelenkiger Rachen das Ziel seiner Wirkung.

2. Je vollkommener das Tier wird, desto mehr  kommt's gleichsam von der Erde herauf: es bekommt  höhere Füße, die Wirbel seines Halses gliedern sich  nach der Organisation seines Baues, und nach dem  Ganzen bekommt der Kopf Stellung und Richtung.  Auch hier vergleiche man die Panzer- und Beuteltiere, den Igel, die Ratte, den Vielfraß und andre niedrige  Geschlechter mit den edleren Tieren. Bei jenen sind  die Füße kurz, der Kopf steckt zwischen den Schultern, der Mund stehet lang und vorwärts; bei diesen  wird Gang und Kopf leichter, der Hals gegliederter,  der Mund kürzer; natürlicherweise bekommt auch das Hirn dadurch einen höhern, weitern Raum. Man kann  also den zweiten Satz annehmen, daß: je mehr sich  der Körper zu heben und sich das Haupt vom Gerippe hinaufwärts loszugliedern strebt, desto feiner  wird des Geschöpfs Bildung. Nur muß dieser Satz, so wie der vorige, nicht nach einzelnen Gliedern, sondern nach dem ganzen Verhältnis und Bau des Tiers  verstanden werden.

3. Je mehr an dem erhöhetern Kopf die Unterteile  des Gesichts abnehmen oder zurückgedränget werden, desto edler wird die Richtung desselben, desto verständiger sein Antlitz. Man vergleiche den Wolf und  den Hund, die Katze und den Löwen, das Nashorn  und den Elefanten, das Roß und das Flußpferd. Je  breiter, gröber und herabziehender gegenteils die Unterteile des Gesichts sind, desto weniger bekommt der Kopf Schädel und der Oberteil des Gesichts Antlitz.  Hiernach unterscheiden sich nicht nur die Tierarten  überhaupt, sondern auch eine und dieselbe nach Klimaten. Man betrachte den weißen nordischen Bär und den Bär wärmerer Länder oder die verschiednen Gattungen der Hunde, Hirsche, Rehe; kurz, je weniger  das Tier gleichsam Kinnbacke und je mehr es Kopf  ist, desto vernunftähnlicher wird seine Bildung. Um  sich diese Ansicht klärer zu machen, ziehe man vom  letzten Halswirbel des Tiergerippes Linien zur höchsten Scheitelhöhe, zum vordersten Stirnbein und zum  äußersten Punkt der Oberkinnlade, so wird man in  den mancherlei Winkeln nach Geschlechtern und  Arten die mannigfaltige Verschiedenheit sehen, zugleich aber auch innewerden, daß alles dies ursprünglich vom mehr oder minder horizontalen Gange herrühre und diesem diene.

Ich begegne mich hier mit dem feinen Verhältnis,  das Camper über die Bildung der Affen und Menschen und unter diesen der verschiednen Nationalbildungen gegeben hat [29], indem er nämlich eine gerade  Linie durch die Höhlen des Ohrs bis zum Boden der  Nase und eine andere von der höchsten Hervorragung  des Stirnbeins bis auf den am meisten hervorragenden Teil der Oberkinnlade im schärfsten Profil ziehet. Er  meint in diesem Winkel nicht nur den Unterschied der Tiere, sondern auch der verschiednen Nationen zu finden und glaubt, die Natur habe sich dieses Winkels  bedient, alle Verschiedenheiten der Tiere zu  bestimmen und sie gleichsam stufenweise bis zum  schönsten der Schönen Menschen zu erheben. »Die  Vögel beschreiben die kleinsten Winkel, und diese  Winkel werden größer, je nachdem sich das Tier der  menschlichen Gestalt nähert. Die Affenköpfe steigen  von 42 bis zu 50 Graden; der letzte ist dem Menschen ähnlich. Der Neger und Kalmücke haben 70, der Europäer 80 Grade, und die Griechen haben ihr Ideal  von 90 bis zu 100 Graden verschönert. Was über  diese Linie fällt, wird ein Ungeheuer; sie ist also das  höchste, wozu die Alten die Schönheit ihrer Köpfe  gebracht haben.« So frappant diese Bemerkung ist, so sehr freuet es mich, sie, wie ich glaube, auf ihren physischen Grund zurückführen zu können; es ist dieser  nämlich das Verhältnis des Geschöpfs zur horizontalen und perpendikularen Kopfstellung und Bildung,  von der am Ende die glückliche Lage des Gehirns  sowie die Schönheit und Proportion aller Gesichtsteile abhängt. Wenn man das Campersche Verhältnis  also vollständig machen und zugleich seinen Grund  erweisen will, so darf man nur statt des Ohrs den letzten Halswirbel zum Punkt nehmen und von ihm zum  letzten Punkt des Hinterhaupts, zum obersten des  Scheitels, zum vordersten der Stirn, zum hervorspringendsten des Kinnbeins Linien ziehen, so wird nicht  nur die Varietät der Kopfbildung selbst, sondern auch der Grund derselben sichtbar, daß alles von der  Formung und Richtung dieser Teile zum horizontalen und perpendikularen Gange, mithin zum ganzen  Habitus des Geschöpfs abhange und hiernach, zufolge eines einfachen Bildungsprincipium, in die größeste  Mannigfaltigkeit Einheit gebracht werden möge.

O daß ein zweiter Galen in unsern Tagen das Buch  des alten von den Teilen des menschlichen Körpers  insonderheit zu dem Zweck erneute, damit die Vollkommenheit unsrer Gestalt im aufrechten Gange nach  allen Proportionen und Wirkungen offenbar würde!  Daß er in fortgehender Vergleichung mit den uns  nächsten Tieren den Menschen vom ersten Anfange  seiner Sichtbarkeit in seinen tierischen und geistigen  Verrichtungen, in der feinern Proportion aller Teile  zueinander, zuletzt den ganzen sprossenden Baum bis zu seiner Krone, dem Gehirn, verfolgte und durch  Vergleichungen zeigte, wie eine solche nur hier sprossen konnte. Die aufgerichtete Gestalt ist die schönste  und natürlichste für alle Gewächse der Erde. Wie der  Baum aufwärts wächst, wie die Pflanze aufwärts blühet, so sollte man auch vermuten, daß jedes edlere  Geschöpf diesen Wuchs, diese Stellung haben und  nicht wie ein hingestrecktes, auf vier Stützen geschlagenes Gerippe sich herschleppen sollte. Aber das Tier mußte in diesen früheren Perioden seiner Niedergeschlagenheit noch animalische Kräfte ausarbeiten und sieh mit Sinnen und Trieben üben lernen, ehe es zu  unsrer, der freiesten und vollkommensten Stellung gelangen konnte. Allmählich nahet es sieh derselben:  der kriechende Wurm erhebt, soviel er kann, vom  Staube sein Haupt, und das Seetier schleichet gebückt ans Ufer. Mit hohem Halse stehet der stolze Hirsch,  das edle Roß da, und dem gezähmten Tier werden  schon seine Triebe gedämpft; seine Seele wird mit  Vorideen genährt, die es zwar noch nicht fassen kann, die es aber auf Glauben annimmt und sieh gleichsam  blind zu ihnen gewöhnet. Ein Wink der fortbildenden  Natur in ihrem unsichtbaren organischen Reich, und  der tierisch-hinabgezwungene Körper richtet sich auf: der Baum seines Rückens sproßt gerader und effloresziert feiner, die Brust hat sich gewölbet, die Hüften  geschlossen, der Hals erhoben, die Sinne sind schöner geordnet und strahlen zusammen ins hellere Bewußtsein, ja zuletzt in einen Gottesgedanken. Und das  alles, wodurch anders als vielleicht, wenn die organischen Kräfte sattsam geübt sind, durch ein Machtwort der Schöpfung: Geschöpf, steh auf von der Erde!

 

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