Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
        http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried  

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Viertes Buch

IV

Der Mensch ist zu feinern Trieben, mithin zur Freiheit organisieret

Man spricht sich's einander nach, daß der Mensch  ohne Instinkt sei und daß dies instinktlose Wesen den Charakter seines Geschlechts ausmache; er hat alle  Instinkte, die ein Erdetier um ihn besitzet, nur, er hat  sie alle, seiner Organisation nach, zu einem feinern  Verhältnis gemildert.

Das Kind in Mutterleibe scheint alle Zustände  durchgehen zu müssen, die einem Erdegeschöpf zukommen können. Es schwimmt im Wasser; es liegt  mit offnem Munde; sein Kiefer ist groß, eh eine Lippe ihn bedecken kann, die sich nur spät bildet; sobald es  auf die Welt kommt, schnappt es nach Luft, und Saugen ist seine ungelernte erste Verrichtung. Das ganze  Werk der Verdauung und Nahrung, des Hungers und  Durstes geht instinktmäßig oder durch noch dunklere  Triebe seinen Gang fort. Die Muskeln- und Zeugungskräfte streben eben also zur Entwicklung, und  ein Mensch darf nur durch Affekt oder Krankheit  wahnsinnig sein, so siehet man bei ihm alle tierische  Triebe. Not und Gefahr entwickeln bei Menschen, ja  bei ganzen Nationen, die animalisch leben, auch  tierische Geschicklichkeiten, Sinnen und Kräfte. Also sind dem Menschen die Triebe nicht sowohl  geraubt, als bei ihm unterdrückt und unter die Herrschaft der Nerven und der feinern Sinne geordnet.  Ohne sie könnte auch das Geschöpf, das noch großenteils Tier ist, gar nicht leben.

Und wie werden sie unterdrückt? Wie bringt die  Natur sie unter die Herrschaft der Nerven? Lasset uns  ihren Gang von Kindheit auf betrachten; er zeiget uns  das, was man oft so töricht als menschliche Schwachheit bejammert hat, von einer ganz andern Seite. Das menschliche Kind kommt schwächer auf die  Welt als keins der Tiere, offenbar, weil es zu einer  Proportion gebildet ist, die in Mutterleibe nicht ausgebildet werden konnte. Das vierfüßige Tier nahm in  seiner Mutter vierfüßige Gestalt an und gewann, ob es gleich anfangs ebenso unproportioniert am Kopf ist  wie der Mensch, zuletzt völliges Verhältnis; oder bei  nervenreichen Tieren, die ihre Jungen schwach gebären, erstattet sich doch das Verhältnis der Kräfte in  einigen Wochen und Tagen. Der Mensch allein bleibt  lange schwach; denn sein Gliederbau ist, wenn ich so  sagen darf, dem Haupt zuerschaffen worden, das  übermäßig groß in Mutterleibe zuerst ausgebildet  ward und also auf die Welt tritt Die andern Glieder,  die zu ihrem Wachstum irdische Nahrungsmittel, Luft und Bewegung brauchen, kommen ihm lange nicht  nach, ob sie gleich durch alle Jahre der Kindheit und  Jugend zu ihm und nicht das Haupt verhältnismäßig  zu ihnen wächset. Das schwache Kind ist also, wenn  man will, ein Invalide seiner obern Kräfte, und die  Natur bildet diese unablässig und am frühesten weiter. Ehe das Kind gehen lernt, lernt es sehen, hören,  greifen und die feinste Mechanik und Meßkunst dieser Sinne üben. Es übt sie so instinktmäßig als das Tier,  nur auf eine feinere Weise. Nicht durch angeborne  Fertigkeiten und Künste, denn alle Kunstfertigkeiten  der Tiere sind Folgen gröberer Reize; und wären diese von Kindheit an herrschend da, so bliebe der Mensch  ein Tier, so würde er, da er schon alles kann, ehe er's  lernte, nichts Menschliches lernen. Entweder mußte  ihm also die Vernunft als Instinkt angeboren werden,  welches sogleich als Widerspruch erhellen wird, oder  er mußte, wie es jetzt ist, schwach auf die Welt kommen, um Vernunft zu lernen.

Von Kindheit auf lernet er diese und wird, wie zum künstlichen Gange, so auch zu ihr, zur Freiheit und  menschlichen Sprache durch Kunst gebildet. Der  Säugling wird an die Brust der Mutter über ihrem  Herzen gelegt; die Frucht ihres Leibes wird der Zögling ihrer Arme. Seine feinsten Sinne, Auge und Ohr,  erwachen zuerst und werden durch Gestalten und  Töne geleitet; wohl ihm, wenn sie glücklich geleitet  werden. Allmählich entfaltet sich sein Gesicht und  hangt am Auge der Menschen um ihn her, wie sein  Ohr an der Sprache der Menschen hangt und durch  ihre Hülfe die ersten Begriffe unterscheiden lernet.  Und so lernt seine Hand allmählich greifen; nun erst  streben seine Glieder nach eigner Übung. Er war zuerst ein Lehrling der zwei feinsten Sinne; denn der  künstliche Instinkt, der ihm angebildet werden soll,  ist Vernunft, Humanität, menschliche Lebensweise,  die kein Tier hat und lernet. Auch die gezähmten  Tiere nehmen nur tierisch einiges von Menschen an,  aber sie werden nicht Menschen.

Hieraus erhellet, was menschliche Vernunft sei: ein Name, der in den neuern Schriften so oft als ein angebornes Automat gebraucht wird und als solches nichts als Mißdeutung gibt. Theoretisch und praktisch ist  Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Ideen und Kräfte, zu  welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet worden. Eine Vernunft der Engel  kennen wir nicht, sowenig als wir den innern Zustand  eines tiefern Geschöpfs unter uns innig einsehn; die  Vernunft des Menschen ist menschlich. Von Kindheit auf vergleicht er Ideen und Eindrücke seiner zumal  feinern Sinne nach der Feinheit und Wahrheit, in der  sie ihm diese gewähren, nach der Anzahl, die er empfängt, und nach der innern Schnellkraft, mit der er sie  verbinden lernet. Das hieraus entstandne Eins ist sein  Gedanke, und die mancherlei Verknüpfungen dieser  Gedanken und Empfindungen zu Urteilen von dem,  was wahr und falsch, gut und böse, Glück und Unglück ist: das ist seine Vernunft, das fortgehende  Werk der Bildung des menschlichen Lebens. Sie ist  ihm nicht angeboren, sondern er hat sie erlangt; und  nachdem die Eindrücke waren, die er erlangte, die  Vorbilder, denen er folgte, nachdem die innere Kraft  und Energie war, mit der er diese mancherlei Eindrücke zur Proportion seines Innersten verband, nachdem ist auch seine Vernunft reich oder arm, krank  oder gesund, verwachsen oder wohlerzogen wie sein  Körper. Täuschte uns die Natur mit Empfindungen  der Sinne, so müßten wir uns ihr zur Folge täuschen  lassen; nur so viele Menschen einerlei Sinne hätten,  so viele täuschten sich gleichförmig. Täuschen uns  Menschen, und wir haben nicht Kraft oder Organ, die  Täuschung einzusehen und die Eindrücke zur bessern  Proportion zu sammlen, so wird unsre Vernunft krüppelhaft, und oft krüppelhaft aufs ganze Leben. Eben - weil der Mensch alles lernen muß, ja, weil es sein Instinkt und Beruf ist, alles wie seinen geraden Gang zu lernen, so lernt er auch nur durch Fallen gehen und  kömmt oft nur durch Irren zur Wahrheit, indessen  sich das Tier auf seinem vierfüßigen Gange sicher  fortträgt; denn die stärker ausgedruckte Proportion  seiner Sinne und Triebe sind seine Führer. Der  Mensch hat den Königsvorzug, mit hohem Haupt,  aufgerichtet weit umherzuschauen, freilich also auch  vieles dunkel und falsch zu sehen, oft sogar seine  Schritte zu vergessen und erst durch Straucheln erinnert zu werden, auf welcher engen Basis das ganze  Kopf- und Herzensgebäude seiner Begriffe und Urteile ruhe; indessen ist und bleibt er seiner hohen Verstandesbestimmung nach, was kein anderes Erdengeschöpf ist: ein Göttersohn, ein König der Erde.

Um die Hoheit dieser Bestimmung zu fühlen, lasset uns bedenken, was in den großen Gaben Vernunft und Freiheit liegt und wieviel die Natur gleichsam wagte,  da sie dieselbe einer so schwachen, vielfachgemischten Erdorganisation, als der Mensch ist, anvertraute.  Das Tier ist nur ein gebückter Sklave, wenngleich einige edlere derselben ihr Haupt emporheben oder wenigstens mit vorgerecktem Halse sich nach Freiheit  sehnen. Ihre noch nicht zur Vernunft gereifte Seele  muß notdürftigen Trieben dienen und in diesem  Dienst sich erst zum eignen Gebrauch der Sinne und  Neigungen von fern bereiten. Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er stehet aufrecht. Die  Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen.  Wie die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen  gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die  Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen  darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage. Er kann  dem trüglichsten Irrtum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden; er kann die Ketten, die ihn,  seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen. Wie  es also mit der getäuschten Vernunft ging, gehet's  auch mit der mißbrauchten oder gefesselten Freiheit;  sie ist bei den meisten das Verhältnis der Kräfte und  Triebe, wie Bequemlichkeit oder Gewohnheit sie festgestellet haben. Selten blickt der Mensch über diese  hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn fesseln  und abscheuliche Gewohnheiten ihn binden, ärger als  ein Tier werden.

Indessen ist er, auch seiner Freiheit nach, und  selbst im ärgsten Mißbrauch derselben, ein König. Er  darf doch wählen, wenn er auch das Schlechteste  wählte; er kann über sich gebieten, wenn er sich auch  zum Niedrigsten aus eigner Wahl bestimmte. Vor  dem Allsehenden, der diese Kräfte in ihn legte, ist  freilich sowohl seine Vernunft als Freiheit begrenzt;  und sie ist glücklich begrenzt, weil, der die Quelle  schuf, auch jeden Ausfluß derselben kennen, vorhersehen und so zu lenken wissen mußte, daß der ausschweifendste Bach seinen Händen nimmer entrann;  in der Sache selbst aber und in der Natur des Menschen wird dadurch nichts geändert. Er ist und bleibt  für sich ein freies Geschöpf, obwohl die all umfassende Güte ihn auch in seinen Torheiten umfasset und diese zu seinem und dem allgemeinen Besten lenket.  Wie kein getriebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann, aber auch, wenn es zurückfällt, nach  einen und denselben Naturgesetzen wirket, so ist der  Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind,  aber doch ein Freigeborner; wenn noch nicht vernünftig, so doch einer bessern Vernunft fähig; wenn noch  nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar.  Der Menschenfresser in Neuseeland und Fenelon, der  verworfene Pescherei und Newton sind Geschöpfe  einer und derselben Gattung.

Nun scheinet es zwar, daß auf unsrer Erde alle ihr  mögliche Verschiedenheit auch im Gebrauch dieser  Gaben stattfinden sollte, und es wird ein Stufengang  sichtbar vom Menschen, der zunächst ans Tier grenzt, bis zum reinsten Genius im Menschenbilde. Wir dürfen uns auch hierüber nicht wundern, da wir die große Gradation der Tiere unter uns sehen und welch einen  langen Weg die Natur nehmen mußte, um die kleine  aufsprossende Blüte von Vernunft und Freiheit in uns  organisierend vorzubereiten. Es scheint, daß auf unsrer Erde alles sein sollte, was auf ihr möglich war;  und nur denn werden wir uns die Ordnung und Weisheit dieser reichen Fülle genugsam erklären können,  wenn wir, einen Schritt weiter, den Zweck übersehen,  wozu so mancherlei in diesem großen Garten der  Natur sprossen mußte. Hier sehen wir meistens nur  Gesetze der Notdurft obwalten; denn die ganze Erde,  auch in ihren wildesten Entlegenheiten, sollte bewohnt werden; und nur der, der sie so fern streckte,  weiß die Ursach, warum er auch Peschereis und Neuseeländer in dieser seiner Welten zuließ. Dem größesten Verächter des Menschengeschlechts ist's indessen unleugbar, daß, in so viel wilde Ranken Vernunft und Freiheit unter den Kindern der Erde aufgeschossen  sind, diese edeln Gewächse unter dem Licht der  himmlischen Sonne auch schöne Früchte getragen  haben. Fast unglaublich wäre es, wenn es uns die Geschichte nicht sagte, in welche Höhen sich der  menschliche Verstand gewagt und der schaffenden,  erhaltenden Gottheit nicht nur nachzuspähen, sondern auch ordnend nachzufolgen bemüht hat. Im Chaos der Wesen, das ihm die Sinne zeigen, hat er Einheit und  Verstand, Gesetze der Ordnung und Schönheit gesucht und gefunden. Die verborgensten Kräfte, die er  von innen gar nicht kennet, hat er in ihrem äußern  Gange belauscht und der Bewegung, der Zahl, dem  Maß, dem Leben, sogar dem Dasein nachgespürt, wo  er dieselbe im Himmel und auf Erden nur wirken sah.  Alle seine Versuche hierüber, selbst wo er irrte oder  nur träumen konnte, sind Beweise seiner Majestät,  einer gottähnlichen Kraft und Hoheit. Das Wesen, das alles schuf, hat wirklich einen Strahl seines Lichts,  einen Abdruck der ihm eigensten Kräfte in unsre  schwache Organisation gelegt, und so niedrig der  Mensch ist, kann er zu sich sagen: »Ich habe etwas  mit Gott gemein; ich besitze Fähigkeiten, die der Erhabenste, den ich in seinen Werken kenne, auch  haben muß: denn er hat sie rings um mich offenbaret.« Augenscheinlich war diese Ähnlichkeit mit ihm  selbst die Summe aller seiner Erdeschöpfung. Er  konnte auf diesem Schauplatz nicht höher hinauf; er  unterließ aber auch nicht, bis zu ihr hinaufzusteigen  und die Reihe seiner Organisationen zu diesem höchsten Punkt hinaufzuführen. Deswegen ward auch der  Gang zu ihm bei aller Verschiedenheit der Gestalten  so einförmig.

Gleicherweise hat auch die Freiheit im Menschengebilde edle Früchte getragen und sich sowohl in  dem, was sie verschmähte, als was sie unternahm,  ruhmwürdig gezeiget. Daß Menschen dem unsteten  Zuge blinder Triebe entsagten und freiwillig den  Bund der Ehe, einer geselligen Freundschaft, Unterstützung und Treue auf Leben und Tod knüpften; daß  sie ihrem eignen Willen entsagten und Gesetze über  sie herrschen lassen wollten, also den immer unvollkommenen Versuch einer Regierung durch Menschen über Menschen feststellten und ihn mit eignem  Blut und Leben schützten; daß edle Männer für ihr  Vaterland sich hingaben und nicht nur in einem stürmischen Augenblick ihr Leben, sondern, was weit  edler ist, die ganze Mühe ihres Lebens durch lange  Nächte und Tage, durch Lebensjahre und Lebensalter  unverdrossen für nichts hielten, um einer blinden undankbaren Menge, wenigstens nach ihrer Meinung,  Wohlsein und Ruhe zu schenken; daß endlich gotterfüllete Weise aus edlem Durst für die Wahrheit, Freiheit und Glückseligkeit unsers Geschlechts Schmach  und Verfolgung, Armut und Not willig übernahmen  und an dem Gedanken festhielten, daß sie ihren Brüdern das edelste Gut, dessen sie fähig wären, verschafft oder befördert hätten: wenn dieses alles nicht  große Menschentugenden und die kraftvollesten Bestrebungen der Selbstbestimmung sind, die in uns lieget, so kenne ich keine andre. Zwar waren nur immer  wenige, die hierin dem großen Haufen vorgingen und  ihm als Ärzte heilsam aufzwangen, was dieser noch  nicht selbst zu erwählen wußte; eben diese wenigen  aber waren die Blüte des Menschengeschlechts, unsterbliche freie Göttersöhne auf Erden. Ihre einzelnen  Namen gelten statt Millionen.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats