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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried  

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünftes Buch

Fünftes Buch

I

In der Schöpfung unsrer Erde herrscht eine Reihe aufsteigender Formen und Kräfte

1. Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den  Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den  Pflanzen zum Tier, von diesen zum Menschen sahen  wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch  die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger werden und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen, sofern diese sie fassen konnte, vereinen. Bei dem  Menschen stand die Reihe still; wir kennen kein Geschöpf über ihm, das vielartiger und künstlicher organisiert sei: er scheint das höchste, wozu eine Erdorganisation gebildet werden konnte.

2. Durch diese Reihen von Wesen bemerkten wir,  soweit es die einzelne Bestimmung des Geschöpfs zuließ, eine herrschende Ähnlichkeit der Hauptform,  die, auf eine unzählbare Weise abwechselnd, sich  immer mehr der Menschengestalt nahte. In der ungebildeten Tiefe, im Reich der Pflanzen und Pflanzentiere war sie noch unkenntlich; mit dem Organismus  vollkommenerer Wesen ward sie deutlicher, die  Anzahl der Gattungen ward geringer: sie verlor und  vereinigte sich zuletzt im Menschen.

3. Wie die Gestalten, sahen wir auch die Kräfte  und Triebe sich ihm nähern. Von der Nahrung und  Fortpflanzung der Gewächse stieg der Trieb zum  Kunstwerk der Insekten, zur Haus- und Muttersorge  der Vögel und Landtiere, endlich gar zu menschenähnlichen Gedanken und zu eignen selbsterworbnen  Fertigkeiten, bis sich zuletzt alles in der Vernunftfähigkeit, Freiheit und Humanität des Menschen vereinet.

4. Bei jedem Geschöpf war nach den Zwecken der  Natur, die es zu befördern hatte, auch seine Lebensdauer eingerichtet. Die Pflanze verblühete bald; der  Baum mußte sich langsam auswachsen. Das Insekt,  das seine Kunstfertigkeit auf die Welt mitbrachte und  sich früh und zahlreich fortpflanzte, ging bald von  dannen; Tiere, die langsamer wuchsen, die auf einmal  weniger gebaren oder die gar ein Leben der vernunftähnlichen Haushaltung führen sollten, denen ward  auch ein längeres und dem Menschen vergleichungsweise das längste Leben. Doch rechnete die Natur hiebei nicht nur aufs einzelne Geschöpf, sondern auch  auf die Erhaltung des ganzen Geschlechtes und der  Geschlechter, die über ihm standen. Die untern Reiche waren also nicht nur stark besetzt, sondern wo es  der Zweck des Geschöpfs zuließ, dauerte auch ihr  Leben länger. Das Meer, der unerschöpfliche Lebens- quell, erhält seine Bewohner, die von zäher Lebens- kraft sind, am längsten; und die Amphibien, halbe  Wasserbewohner, nähern sich ihnen an Länge des Lebens. Die Bewohner der Luft, weniger beschwert von  der Erdenahrung, die die Landtiere allmählich verhärtet, leben im ganzen länger als diese; Luft und Wasser scheinen also das große Vorratshaus der Lebendigen, die nachher in schnellern Übergängen die Erde  aufreibt und verzehret.

5. Je organisierter ein Geschöpf ist, desto mehr ist  sein Bau zusammengesetzt aus den niedrigen Reichen. Unter der Erde fängt diese Vielartigkeit an, und  sie wächst hinauf durch Pflanzen, Tiere, bis zum vielartigsten Geschöpf, dem Menschen. Sein Blut und  seine vielnamigen Bestandteile sind ein Kompendium der Welt: Kalk und Erde, Salze und Säuren, Öl und  Wasser, Kräfte der Vegetation, der Reize, der Empfindungen sind in ihm organisch vereint und ineinander verwebet.

Entweder müssen wir diese Dinge als Spiele der  Natur ansehen (und sinnlos spielte die verstandreiche  Natur nie), oder wir werden darauf gestoßen, auch ein Reich unsichtbarer Kräfte anzunehmen, das in ebendemselben genauen Zusammenhange und dichten  Übergange steht, als wir in den äußern Bildungen  wahrnehmen. Je mehr wir die Natur kennenlernen,  desto mehr bemerken wir diese inwohnenden Kräfte  auch sogar in den niedrigsten Geschöpfen, Moosen,  Schwämmen u. dgl. In einem Tier, das sich beinah  unerschöpflich reproduziert, in der Muskel, die sich  vielartig und lebhaft durch eignen Reiz beweget, sind  sie unleugbar; und so ist alles voll organisch-wirkender Allmacht. Wir wissen nicht, wo diese anfängt, noch wo sie aufhöret; denn wo Wirkung in  der Schöpfung ist, ist Kraft; wo Leben sich äußert, ist inneres Leben. Es herrscht also allerdings nicht nur  ein Zusammenhang, sondern auch eine aufsteigende  Reihe von Kräften im unsichtbaren Reich der Schöpfung, da wir diese in ihrem sichtbaren Reich, in organisierten Formen vor uns wirken sehen.

Ja unendlich inniger, steter und fortgehender muß  dieser unsichtbare Zusammenhang sein, als in unserm stumpfen Sinne die Reihe äußerer Formen zeiget.  Denn was ist eine Organisation als eine Masse unendlich vieler zusammengedrängter Kräfte, deren größter  Teil eben des Zusammenhanges wegen von andern  Kräften eingeschränkt, unterdrückt oder wenigstens  unsern Augen so versteckt wird, daß wir die einzelnen Wassertropfen nur in der dunklen Gestalt der Wolke,  d. i. nicht die einzelnen Wesen selbst, sondern nur das Gebilde sehen, das sich zur Notdurft des Ganzen so  und nicht anders organisieren mußte. Die wahre Stufenleiter der Geschöpfe, welch ein andres Reich muß  sie im Auge des Allwissenden sein, als von dem die  Menschen reden! Wir ordnen Formen, die wir nicht  durchschauen, und klassifizieren wie Kinder nach einzelnen Gliedmaßen oder nach andern Zeichen. Der  oberste Haushalter siehet und hält die Kette aller aufeinanderdringenden Kräfte.

Was dies für die Unsterblichkeit der Seele tue?  Alles, und nicht für die Unsterblichkeit unsrer Seele  allein, sondern für die Fortdauer aller wirkenden und  lebendigen Kräfte der Weltschöpfung. Keine Kraft  kann untergehn; denn was hieße es: eine Kraft gehe  unter? Wir haben in der Natur davon kein Beispiel, ja in unsrer Seele nicht einmal einen Begriff. Ist es Widerspruch, daß etwas nichts sei oder werde, so ist es  mehr Widerspruch, daß ein lebendiges, wirkendes  Etwas, in dem der Schöpfer selbst gegenwärtig ist, in  dem sich seine Gotteskraft einwohnend offenbaret,  sich in ein Nichts verkehre. Das Werkzeug kann  durch äußerliche Umstände zerrüttet werden; so  wenig aber auch in diesem sich nur ein Atom vernichtet oder verlieret, um so weniger die unsichtbare  Kraft, die auch in diesem Atom wirket. Da wir nun  bei allen Organisationen wahrnehmen, daß ihre wirkenden Kräfte so weise gewählt, so künstlich geordnet, so genau auf ihre gemeinschaftliche Dauer und  auf die Ausbildung der Hauptkraft berechnet sein, so  wäre es Unsinn, von der Natur zu glauben, daß in  dem Augenblick, da eine Kombination derselben, d. i. ein äußerlicher Zustand, aufhört, sie nicht nur plötzlich von der Weisheit und Sorgfalt abließe, dadurch  sie allein göttliche Natur ist, sondern dieselbe auch  gegen sich kehrte, um mit ihrer ganzen Allmacht  (denn minder gehörte dazu nicht) nur einen Teil ihres  lebendigen Zusammenhanges, in dem sie selbst  ewig-tätig lebet, zu vernichten. Was der Allbelebende ms Leben rief, lebet; was wirkt, wirkt in seinem ewigen Zusammenhange ewig.

Da diese Prinzipien weiter auseinanderzusetzen  hier nicht der Ort ist, so lasset uns sie bloß in Beispielen zeigen. Die Blume, die ausgeblühet hat, zerfällt, d. i., dies Werkzeug ist nicht weiter geschickt,  daß die vegetierende Kraft in ihm fortwirke; der  Baum, der sich satt an Früchten getragen, stirbt, die  Maschine ist hinfällig worden, und das Zusammengesetzte geht auseinander. Hieraus folget aber im mindesten nicht, daß die Kraft, die diese Teile belebte,  die vegetieren und sich so mächtig fortpflanzen konnte, mit dieser Dekomposition gestorben sei, sie, die  über tausend Kräfte, die sie anzog, in dieser Organisation herrschte. Jedem Atom der zerlegten Maschine  bleibt ja seine untere Kraft; wieviel mehr muß sie der  mächtigern bleiben, die in dieser Formung jene alle zu einem Zweck regierte und in ihren engen Grenzen mit  allmächtigen Natureigenschaften wirkte. Der Faden  der Gedanken zerreißt, wenn man es sieh als natürlich denket, daß dies Geschöpf jetzt in jedem seiner  Glieder die mächtige, sieh selbst erstattende, reizbare  Selbsttätigkeit haben soll, wie sie sieh uns vor Augen  äußert, daß aber den Augenblick darauf alle diese  Kräfte, die lebendigen Erweise einer inwohnenden organischen Allmacht, aus dem Zusammenhange der  Wesen, aus dem Reich der Realität so hinweg sein  sollen, als wären sie nie darinnen gewesen.

Und bei der reinsten und tätigsten Kraft, die wir auf Erden kennen, sollte dieser Gedankenwiderspruch  stattfinden, bei der menschlichen Seele? Sie, die über  alle Vermögen niedrigerer Organisationen so weit  hinaufgerückt ist, daß sie nicht nur mit einer Art Allgegenwart und Allmacht tausend organische Kräfte  meines Körpers als Königin beherrschet, sondern  auch (Wunder aller Wunder!) in sich selbst zu blicken und sich zu beherrschen vermag. Nichts geht hienieden über die Feinheit, Schnelle und Wirksamkeit  eines menschlichen Gedanken; nichts über die Energie, Reinheit und Wärme eines menschlichen Willens. Mit allem, was der Mensch denkt, ahmet er der ordnenden, mit allem, was er will und tut, der schaffenden Gottheit nach; er möge so unvernünftig denken,  als er wolle. Die Ähnlichkeit liegt in der Sache selbst, sie ist im Wesen seiner Seele gegründet. Die Kraft,  die Gott erkennen, ihn lieben und nachahmen kann, ja die nach dem Wesen ihrer Vernunft ihn gleichsam  wider Willen erkennen und nachahmen muß, indem  sie auch bei Irrtümern und Fehlern nur durch Trug  und Schwachheit fehlte, sie, die mächtigste Regentin  der Erde, sollte untergehen, weil ein äußerer Zustand  der Zusammensetzung sich ändert und einige niedere  Untertanen von ihr weichen? nie Künstlerin wäre  nicht mehr, weil ihr das Werkzeug aus der Hand fällt? Wo bliebe hier aller Zusammenhang der Gedanken? -

 

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