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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried     Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünftes Buch

V

Unsre Humanität ist nur Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume

Wir sahen, daß der Zweck unsres jetzigen Daseins  auf Bildung der Humanität gerichtet sei, der alle  niedrige Bedürfnisse der Erde nur dienen und selbst  zu ihr führen sollen. Unsre Vernunftfähigkeit soll zur  Vernunft, unsre feinern Sinne zur Kunst, unsre Triebe zur echten Freiheit und Schöne, unsre Bewegungskräfte zur Menschenliebe gebildet werden; entweder  wissen wir nichts von unsrer Bestimmung und die  Gottheit täuschte uns mit allen ihren Anlagen von  innen und außen (welche Lästerung auch nicht einmal einen Sinn hat), oder wir können dieses Zwecks so sicher sein als Gottes und unsers Daseins.

Und wie selten wird dieser ewige, dieser unendliche Zweck hier erreicht! Bei ganzen Völkern liegt die  Vernunft unter der Tierheit gefangen, das Wahre wird auf den irresten Wegen gesucht und die Schönheit und Aufrichtigkeit, zu der uns Gott erschuf, durch Vernachlässigung und Ruchlosigkeit verderbet. Bei wenigen Menschen ist die gottähnliche Humanität im reinen und weiten Umfange des Worts eigentliches Studium des Lebens; die meisten fangen nur spät an,  daran zu denken, und auch bei den besten ziehen  niedrige Triebe den erhabenen Menschen zum Tier  hinunter. Wer unter den Sterblichen kann sagen, daß  er das reine Bild der Menschheit, das in ihm liegt, erreiche oder erreicht habe?

Entweder irrte sich also der Schöpfer mit dem Ziel,  das er uns vorsteckte, und mit der Organisation, die er zu Erreichung desselben so künstlich zusammengeleitet hat, oder dieser Zweck geht über unser Dasein hinaus, und die Erde ist nur ein Übungsplatz, eine Vorbereitungsstätte. Auf ihr mußte freilich noch viel  Niedriges dem Erhabensten zugesellet werden, und  der Mensch im ganzen ist nur eine kleine Stufe über  das Tier erhoben. Ja auch unter den Menschen selbst  mußte die größeste Verschiedenheit stattfinden, da  alles auf der Erde so vielartig ist und in manchen Gegenden und Zuständen unser Geschlecht so tief unter  dem Joch des Klima und der Notdurft lieget. Der Entwurf der bildenden Vorsehung mußte also alle diese  Stufen, diese Zonen, diese Abartungen mit einem  Blick umfaßt haben und den Menschen in ihnen allen  weiter zu führen wissen, wie er die niedrigen Kräfte  allmählich und ihnen unbewußt höher führet. Es ist  befremdend und doch unleugbar, daß unter allen Erdbewohnern das menschliche Geschlecht dem Ziel seiner Bestimmung am meisten fernbleibt. Jedes Tier erreicht, was es in seiner Organisation erreichen soll;  der einzige Mensch erreicht's nicht, eben weil sein  Ziel so hoch, so weit, so unendlich ist und er auf unsrer Erde so tief, so spät, mit so viel Hindernissen von  außen und innen anfängt. Dem Tier ist die Muttergabe der Natur, sein Instinkt, der sichre Führer; es ist noch  als Knecht im Hause des obersten Vaters und muß gehorchen. Der Mensch ist schon als Kind in demselben und soll außer einigen notdürftigen Trieben alles, was zur Vernunft und Humanität gehört, erst lernen. Er  lernet's also unvollkommen, weil er mit dem Samen  des Verstandes und der Tugend auch Vorurteile und  üble Sitten erbet und in seinem Gange zur Wahrheit  und Seelenfreiheit mit Ketten beschwert ist, die vom  Anfange seines Geschlechts herreichen. Die Fußtapfen, die göttliche Menschen vor und um ihn gezeichnet, sind mit so viel andern verwirrt und zusammengetreten, in denen Tiere und Räuber wandelten und  leider oft wirksamer waren als jene wenige erwählte,  große und gute Menschen. Man würde also (wie es  auch viele getan haben) die Vorsehung anklagen müssen, daß sie den Menschen so nah ans Tier grenzen  lassen und ihm, da er dennoch nicht Tier sein sollte,  den Grad von Licht, Festigkeit und Sicherheit versagt habe, der seiner Vernunft statt des Instinkts hätte dienen können; oder dieser dürftige Anfang ist eben seines unendlichen Fortganges Zeuge. Der Mensch soll  sich nämlich diesen Grad des Lichts und der  Sicherheit durch Übung selbst erwerben, damit er  unter der Leitung seines Vaters ein edler Freier durch eigne Bemühung werde, und er wird's werden. Auch  der Menschenähnliche wird Mensch sein; auch die  durch Kälte und Sonnenbrand erstarrte und verdorrte  Knospe der Humanität wird aufblühen zu ihrer wahren Gestalt, zu ihrer eigentlichen und ganzen Schönheit.

Und so können wir auch leicht ahnen, was aus unsrer Menschheit allein in jene Welt übergehen kann: es ist eben diese gottähnliche Humanität, die verschlossene Knospe der wahren Gestalt der Menschheit.  Alles Notdürftige dieser Erde ist nur für sie; wir lassen den Kalk unsrer Gebeine den Steinen und geben  den Elementen das Ihrige wieder. Alle sinnlichen  Triebe, in denen wir wie die Tiere der irdischen Haushaltung dienten, haben ihr Werk vollbracht; sie sollten bei dem Menschen die Veranlassung edlerer Gesinnungen und Bemühungen werden, und damit ist ihr Werk vollendet. Das Bedürfnis der Nahrung sollte ihn zur Arbeit, zur Gesellschaft, zum Gehorsam gegen  Gesetze und Einrichtungen erwecken und ihn unter  ein heilsames, der Erde unentbehrliches Joch fesseln.  Der Trieb der Geschlechter sollte Geselligkeit, väterliche, eheliche, kindliche Liebe auch in die harte  Brust des Unmenschen pflanzen und schwere, langwierige Bemühungen für sein Geschlecht ihm  angenehm machen, weil er sie ja für die Seinen, für  sein Fleisch und Blut übernehme. Solche Absicht  hatte die Natur bei allen Bedürfnissen der Erde; jedes  derselben sollte eine Mutterhülle sein, in der ein Keim der Humanität sproßte. Glücklich, wenn er gesproßt  ist, er wird unter dem Strahl einer schönern Sonne  Blüte werden. Wahrheit, Schönheit und Liebe waren  das Ziel, nach dem der Mensch in jeder seiner Bemühungen, auch ihm selbst unbewußt und oft auf so unrechten Wegen, strebte; das Labyrinth wird sich entwirren, die verführenden Zaubergestalten werden  schwinden, und ein jeder wird, fern oder nahe, nicht  nur den Mittelpunkt sehn, zu dem sein Weg geht,  sondern du wirst ihn auch, mütterliche Vorsehung,  unter der Gestalt des Genius und Freundes, des er be- darf, mit verzeihender, sanfter Hand selbst zu ihm leiten [34].

Also auch die Gestalt jener Welt hat uns der gute  Schöpfer verborgen, um weder unser schwaches Gehirn zu betäuben, noch zu ihr eine falsche Vorliebe zu reizen. Wenn wir indes den Gang der Natur bei den  Geschlechtern unter uns betrachten und bemerken,  wie die Bildnerin Schritt vor Schritt das Unedlere  wegwirft und die Notdurft mildert, wie sie dagegen  das Geistige anbauet, das Feine feiner ausführt und  das Schöne schöner belebet, so können wir ihrer unsichtbaren Künstlerhand gewiß zutrauen, daß auch die Effloreszenz unsrer Knospe der Humanität in jenem  Dasein gewiß in einer Gestalt erscheinen werde, die  eigentlich die wahre göttliche Menschengestalt ist  und die kein Erdensinn sich in ihrer Herrlichkeit und  Schöne zu dichten vermöchte. Vergeblich ist's also  auch, daß wir dichten; und ob ich wohl überzeugt bin, daß, da alle Zustände der Schöpfung aufs genaueste  zusammenhangen, auch die organische Kraft unsrer  Seele in ihren reinsten und geistigen Übungen selbst  den Grund zu ihrer künftigen Erscheinung lege oder  daß sie wenigstens, ihr selbst unwissend, das Gewebe anspinne, das ihr so lange zur Bekleidung dienen  wird, bis der Strahl einer schönern Sonne ihre tiefsten, ihr selbst hier verborgnen Kräfte wecket, so  wäre es doch Kühnheit, dem Schöpfer Bildungsgesetze zu einer Welt vorzuzeichnen, deren Verrichtungen uns noch so wenig bekannt sind. Genug, daß alle  Verwandlungen, die wir in den niedrigen Reichen der  Natur bemerken, Vervollkommungen sind und daß  wir also wenigstens Winke dahin haben, wohin wir  höherer Ursachen wegen zu schauen unfähig waren.  Die Blume erscheint unserm Auge als ein Samensprößchen, sodenn als Keim; der Keim wird Knospe,  und nun erst gehet das Blumengewächs hervor, das  seine Lebensalter in dieser Ökonomie der Erde anfängt. Ähnliche Auswirkungen und Verwandlungen  gibt es bei mehrern Geschöpfen, unter denen der  Schmetterling ein bekanntes Sinnbild geworden.  Siehe, da kriecht die häßliche, einem groben Nahrungstriebe dienende Raupe; ihre Stunde kommt, und  Mattigkeit des Todes befällt sie; sie stemmet sich an,  sie windet sich ein; sie hat das Gespinst zu ihrem Totengewande sowie zum Teil die Organe ihres neuen  Daseins schon in sich. Nun arbeiten die Ringe, nun  streben die inwendigen organischen Kräfte. Langsam  geht die Verwandlung zuerst und scheint Zerstörung:  zehn Füße bleiben an der abgestreiften Haut, und das  neue Geschöpf ist noch unförmlich in seinen Gliedern. Allmählich bilden sich diese und treten in Ordnung; das Geschöpf aber erwacht nicht eher, bis es  ganz da ist: nun dränget es sich ans Licht, und schnell geschiehet die letzte Ausbildung. Wenige Minuten,  und die zarten Flügel werden fünfmal größer, als sie  noch eben unter der Todeshülle waren; sie sind mit  elastischer Kraft und mit allem Glanz der Strahlen begabt, der unter dieser Sonne nur stattfand, zahlreich  und groß, um das Geschöpf wie auf Schwingen des  Zephyrs zu tragen. Sein ganzer Bau ist verändert: statt der groben Blätter, zu denen es vorhin gebildet war,  genießt es jetzt Nektartau vom goldnen Kelch der  Blumen. Seine Bestimmung ist verändert: statt des  groben Nahrungstriebes dient es einem feinern, der  Liebe. Wer würde in der Raupengestalt den künftigen Schmetterling ahnen? Wer würde in beiden ein und  dasselbe Geschöpf erkennen, wenn es uns die Erfahrung nicht zeigte? Und beide Existenzen sind nur Lebensalter eines und desselben Wesens auf einer und  derselben Erde, wo der organische Kreis gleichartig  wieder anfängt: Wie schöne Ausbildungen müssen im Schoß der Natur ruhn, wo ihr organischer Zirkel weiter ist und die Lebensalter, die sie ausbildet, mehr als  eine Welt umfassen. Hoffe also, o Mensch, und weissage nicht: der Preis ist dir vorgesteckt, um den  kämpfe. Wirf ab, was unmenschlich ist: strebe nach  Wahrheit, Güte und gottähnlicher Schönheit, so  kannst du deines Ziels nicht verfehlen.

Und so zeigt uns die Natur auch in diesen Analogien werdender, d. i. übergehender Geschöpfe, warum  sie den Todesschlummer in ihr Reich der Gestalten  einwebte. Er ist die wohltätige Betäubung, die ein  Wesen umhüllet, in dem jetzt die organischen Kräfte  zur neuen Ausbildung streben. Das Geschöpf selbst  mit seinem wenigern oder mehrern Bewußtsein ist  nicht stark gnug, ihren Kampf zu übersehn oder zu  regieren; es entschlummert also und erwacht nur,  wenn es ausgebildet da ist. Auch der Todesschlaf ist  also eine väterliche milde Schonung; er ist ein heilsames Opium, unter dessen Wirkung die Natur ihre  Kräfte sammlet und der entschlummerte Kranke geneset.

 

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