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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Sechstes Buch

I

Organisation der Völker in der Nähe des Nordpols

Noch ist es keinem Seefahrer gelungen, auf der  Achse unsrer Erde zu stehn [35] und vielleicht vom  Nordpol her einigen nähern Aufschluß der Konstruktion ihres Ganzen zu holen; indessen sind wir schon  weit über die bewohnbare Erde hinübergelangt und  haben Gegenden beschrieben, die man den kalten und  nackten Eisthron der Natur nennen möchte. Hier sind  die Wunderdinge unsrer Erdschöpfung gesehen, die  kein Anwohner des Äquators glauben würde, jene ungeheuren Massen schön gefärbter Eisklumpen, jene  prächtigen Nordlichter, wunderbare Täuschungen des  Auges durch die Luft, und bei der großen Kälte von  oben die oft warmen Erdklüfte. [36] In steilen, zerfallnen Felsen scheint sich der hervorgehende Granit viel  weiter hinauf zu erstrecken, als er's beim Südpol tun  konnte, so wie überhaupt dem größten Teil nach die  bewohnbare Erde auf dem nordlichen Hemisphär  ruhet. Und da das Meer der erste Wohnplatz der Lebendigen war, so kann man das nordliche Meer mit  der großen Fülle seiner Bewohner noch jetzt als eine  Gebärmutter des Lebens und die Ufer desselben als  den Rand betrachten, auf dem sich in Moosen,  Insekten und Würmern die Organisation der Erdgeschöpfe anfängt. Seevögel begrüßen das Land, das  noch weniges eignes Gefieder nähret; Meertiere und  Amphibien kriechen hervor, um sich am seltnen  Strahl der ländlichen Sonne zu wärmen. Mitten im  regsten Getümmel des Wassers zeigt sich gleichsam  die Grenze der lebendigen Erdeschöpfung.

Und wie hat sich die Organisation des Menschen  auf dieser Grenze erhalten? Alles, was die Kälte an  ihm tun konnte, war, daß sie seinen Körper etwas zusammendrückte und den Umlauf seines Bluts gleichsam verengte. Der Grönländer bleibt meistens unter  fünf Fuß, und die Eskimos, seine Brüder, werden kleiner, je weiter nach Norden sie wohnen. [37] Da aber die Lebenskraft von innen heraus wirkt, so ersetzte sie  ihm an warmer und zäher Dichtigkeit, was sie ihm an  emporstrebender Länge nicht geben konnte. Sein  Kopf ward in Verhältnis des Körpers groß, das Gesicht breit und platt, weil die Natur, die nur in der  Mäßigung und Mitte zwischen zwei Extremen schön  wirket, hier noch kein sanftes Oval ründen und insonderheit die Zierde des Gesichts und, wenn ich so  sagen darf, den Balken der Waage, die Nase, noch  nicht hervortreten lassen konnte. Da die Backen die  größere Breite des Gesichts einnahmen, so ward der  Mund klein und rund; die Haare blieben sträubig,  weil, weiche und seidene Haare zu bilden, es an  feinem, emporgetriebenen Saft fehlte; das Auge blieb  unbeseelt. Gleichergestalt formten sich starke Schultern und breite Glieder, der Leib ward blutreich und  fleischig; nur Hände und Füße blieben klein und zart,  gleichsam die Sprossen und äußersten Teile der Bildung. Wie die äußere Gestalt, so verhält sich auch  von innen die Reizbarkeit und Ökonomie der Säfte.  Das Blut fließt träger, und das Herz schlägt matter,  daher hier der schwächere Geschlechtstrieb, dessen  Reize mit der zunehmenden Wärme anderer Länder so ungeheuer wachsen. Spät erwachet derselbe: die Unverheirateten leben züchtig, und die Weiber müssen  zur beschwerlichen Ehe fast gezwungen werden Sie  gebären weniger, so daß sie die vielgebärenden, lüsternen Europäer mit den Hunden vergleichen. In  ihrer Ehe sowie in ihrer ganzen Lebensart herrscht  eine stille Sittsamkeit, ein zähes Einhalten der Affekten. Unfühlbar für jene Reizungen, mit denen ein wärmeres Klima auch flüchtigere Lebensgeister bildet,  leben und sterben sie still und verträglich, gleichgültig-vergnügt und nur aus Notdurft tätig. Der Vater erzieht seinen Sohn mit und zu jener gefaßten Gleichgültigkeit, die sie für die Tugend und Glückseligkeit  des Lebens achten, und die Mutter säugt ihr Kind  lange und mit aller tiefen, zähen Liebe der Muttertiere. Was ihnen die Natur an Reiz und Elastizität der  Fibern versagt hat, hat sie ihnen an nachhaltender,  daurender Stärke gegeben und sie mit jener wärmenden Fettigkeit, mit jenem Reichtum an Blut, der ihren  Aushauch selbst in eingeschloßnen Gebäuden erstickend warm macht, umkleidet.

Mich dünkt, es ist niemand, der hiebei nicht die  einförmige Hand der organisierenden Schöpferin, die  in allen ihren Werken gleichartig wirkt, gewahr  werde. Wenn die menschliche Länge zurückbleibt, so  bleibt es in jenen Gegenden die Vegetation noch viel  mehr wenige, kleine Bäume wachsen, Moose und Gesträuche kriechen an der Erde. Selbst die mit Eisen  beschlagne Meßstange kürzete sich im Frost; und es  sollte sich nicht die menschliche Fiber kürzen? Trotz  ihres inwohnenden organischen Lebens. Dies kann  aber nur zurückgedrängt und gleichsam in einen kleinern Kreis der Bildung eingeschlossen werden abermals eine Analogie der Wirkung bei allen Organisationen. Die äußern Glieder der Seetiere und andern  Geschöpfe der kalten Zone sind klein und zart; die  Natur hielt, soviel möglich, alles zusammen in der  Region der innern Wärme: die Vögel daselbst wurden mit dichten Federn, die Tiere mit einer sie umhüllenden Fettigkeit belegt, wie hier der Mensch mit seiner  blutreichen, wärmenden Hülle. Auch von außen hat  ihnen, und zwar aus einem und ebendemselben Principium aller Organisationen auf der Erde, die Natur das versagen müssen, was dieser Komplexion nicht  diente. Würze würden ihren zur innern Fäulung geneigten Körper hinrichten, wie das ihnen zugebrachte  Tollwasser, der Branntwein, so viele hingerichtet hat.  Das Klima hat sie ihnen also versagt und zwingt sie  dagegen in ihrem dürftigen Aufenthalt und bei der  großen Liebe zur Ruhe, die ihr innerer Bau befördert,  von außen zur Tätigkeit und Leibesbewegung, auf  welche alle ihre Gesetze und Einrichtungen gebauet  sind. Die wenigen Kräuter, die hier wachsen, sind  blutreinigend und also gerade für ihr Bedürfnis; die  äußere Luft ist in hohem Grad dephlogistisiert [38], so  daß sie selbst bei toten Körpern der Fäulung widerstehet und ein langes Leben fördert. Gifttragende  Tiere duldet die trockne Kälte nicht, und gegen die  beschwerlichen Insekten schützt sie ihre Unempfindlichkeit, der Rauch und der lange Winter. So entschädigt die Natur und wirkt harmonisch in allem, was sie wirket.

Es wird nicht nötig sein, nach Beschreibung dieser  ersten Nation uns bei denen ihr ähnlichen ebenso ausführlich zu verweilen. Die Eskimos in Amerika sind,  wie an Sitten und Sprache, so auch an Gestalt der  Grönländer Brüder. Nur da diese Elenden als bärtige  Fremdlinge von den unbärtigen Amerikanern hoch  hinaufgedrängt sind, so müssen sie größtenteils auch  flüchtiger und mühseliger leben; ja, sie werden, hartes Schicksal! zu Winterszeit in ihren Höhlen oft  gezwungen, vom Saugen ihres eignen Blutes sich zu  nähren. [39] Hier und an einigen andern Orten der Erde  sitzt die harte Notwendigkeit auf dem höchsten  Thron, so daß der Mensch beinah die Lebensart des  Bärs ergreifen mußte. Und dennoch hat er sich überall als Mensch erhalten; denn auch in Zügen der scheinbar größesten Inhumanität dieser Völker ist, wenn  man sie näher erwägt, Humanität sichtbar. Die Natur  wollte versuchen, welcher gewaltsamen Zustände  unser Geschlecht fähig wäre, und es hat seine Probe  bestanden.

Die Lappen bewohnen vergleichungsweise schon  einen mildern Erdstrich, wie sie auch ein milderes  Volk sind. [40] Die Größe der menschlichen Gestalt  nimmt zu, die runde Plattigkeit des Gesichts nimmt  ab, die Backen senken sich, das Auge wird dunkelgrau, die schwarzen, stracken Haare färben sich gelbbraun; mit seiner äußern Bildung tut sich auch die innere Organisation des Menschen voneinander, wie die Knospe, die sich dem Strahl der mildern Sonne entfaltet. [41] Der Berglappe weidet schon sein Renntier, welches weder der Grönländer noch Eskimo tun konnten;  er gewinnet an ihm Speise und Kleid, Haus und  Decke, Bequemlichkeit und Vergnügen, da der Grönländer am Rande der Erde dies alles meistens im  Meere suchen mußte. Der Mensch bekommt also  schon ein Landtier zu seinem Freunde und Diener, bei dem er Künste und eine häuslichere Lebensweise lernet. Es gewöhnet seine Füße zum Lauf, seine Arme  zur künstlichen Fahrt, sein Gemüt zur Liebe des Besitzes und eines festern Eigentums, so wie es ihn auch bei der Liebe zur Freiheit erhält und sein Ohr zu der  scheuen Sorgsamkeit gewöhnet, die wir bei mehrern  Völkern dieses Zustandes bemerken werden. Schüchtern wie sein Tier horcht der Lappländer und fährt  beim kleinsten Geräusch auf. Er liebt seine Lebensart  und blickt, wenn die Sonne wiederkehrt, zu den Bergen hinauf, wie sein Renntier dahin blickt; er spricht  mit ihm und es versteht ihn; er sorgt für dasselbe wie  für seinen Reichtum und sein Hausgesinde. Mit dem  ersten zähmbaren Landtier also, das die Natur diesen  Gegenden geben konnte, gab sie dem Menschen auch  einen Handleiter zur menschlichern Lebensweise. Über die Völker am Eismeer im weiten russischen  Reich haben wir außer so vielen neuern, allgemein bekannten Reisen, die sie beschreiben, selbst eine  Sammlung von Gemälden derselben, deren Anblick  mehr sagt, als meine Beschreibung sagen könnte. [42]  So vermischt und verdrängt manche dieser Völker  wohnen, so sehen wir auch die von der verschiedensten Abkunft unter ein Joch der nordischen Bildung  gedruckt und gleichsam an eine Kette des Nordpols  geschmiedet. Der Samojede hat das runde, breite,  platte Gesicht, das schwarze, sträubige Haar, die  untersetzte, blutreiche Statur der nördlichen Bildung;  nur seine Lippe wird aufgeworfner , die Nase offner  und breiter, der Bart vermindert sich, und wir werden  östlich hin auf einem ungeheuren Erdstrich ihn immer mehr vermindert sehen. Der Samojede ist also gleichsam der Neger unter den Nordländern, und seine  große Reizbarkeit der Nerven, die frühe Mannbarkeit  der Samojedinnen im elften, zwölften Jahr [43], ja  wenn die Nachricht wahr ist, der schwarze Ring um  ihre Brüste nebst andern Umständen macht ihn, so  kalt er wohne, dem Neger noch gleicher. Indessen ist  er, trotz seiner feinen und hitzigen Natur, die er wahrscheinlich als Nationalcharakter mitbrachte und die  selbst vom Klima nicht hat bemeistert werden können, doch im ganzen seiner Bildung ein Nordländer.  Die Tungusen [44], die südlicher wohnen, ähneln schon dem mongolischen Völkerstamm, von dem sie dennoch in Sprache und Geschlecht so getrennt sind wie  der Samojede und Ostiak von den Lappen und Grönländern: ihr Körper wird wohlgewachsen und geschlanker, ihr Auge auf mongolische Art klein, die  Lippe dünn, das Haar weicher; das Gesicht indessen  behält noch seine platte Nordbildung. Ein gleiches  ist's mit den Jakuten und Jukagiren, die in die tatarische wie jene in die mongolische Bildung überzugehen scheinen, ja mit den tatarischen Stämmen selbst.  Am Schwarzen und Kaspischen Meer, am Kaukasus  und Ural, also zum Teil in den gemäßigtsten Erdstrichen der Welt, geht die Bildung der Tataren ins Schönere über. Ihre Gestalt wird schlank und hager; der  Kopf zieht sich aus der plumpen Ründe in ein schöneres Oval; die Farbe wird frisch; wohlgegliedert und  trocken tritt die Nase hervor; das Auge wird lebhaft,  das Haar dunkelbraun, der Gang munter, die Miene  gefällig-bescheiden und schüchtern: je näher also den  Gegenden, wo die Fülle der Natur in lebendigen  Wesen zunimmt, wird auch die Menschenorganisation verhältnismäßiger und feiner. Je nördlicher herauf  oder je weiter in die kalmückischen Steppen hinein,  desto mehr platten oder verwildern sich die Gesichtszüge auf nordische oder kalmückische Weise. Allerdings kommt hiebei auch vieles auf die Lebensart des  Volks, auf die Beschaffenheit seines Bodens, auf  seine Abkunft und Mischung mit andern an. Die Gebirgstatarn erhalten ihre Züge reiner, als die in Steppen und Ebnen wohnen. Völkerschaften, die den Dörfern und Städten nahe sind, mildern und mischen auch mehr ihre Sitten und Züge. Je weniger ein Volk verdrängt wird, je mehr es seiner einfachen, rauhen Lebensart treu bleiben muß, desto mehr erhält es auch  seine Bildung. Man wird also, da auf dieser großen,  zum Meer abhangenden Tafel der Tatarei so viele  Streifereien und Umwälzungen vorgegangen sind, die  mehr ineinandergemengt haben, als Gebirge, Wüsten  und Ströme absondern konnten, auch die Ausnahmen  von der Regel bemerken; und sodann bestätigen diese  auch die Regel: denn unter die nordische, tatarische  und mongolische Bildung ist alles geteilet.

 

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