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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Achtes Buch

II

Die Einbildungskraft der Menschen ist allenthalben organisch und klimatisch; allenthalben aber wird sie von der Tradition geleitet

Von einer Sache, die außer dem Kreise unsrer  Empfindung liegt, haben wir keinen Begriff; die Geschichte jenes Siamer-Königes, der Eis und Schnee  für Undinge ansah, ist in tausend Fällen unsre eigne  Geschichte. Jedes eingeborne sinnliche Volk hat sich  also mit seinen Begriffen auch in seine Gegend umschränkt; wenn es tut, als ob es Worte verstehe, die  ihm von ganz fremden Dingen gesagt werden, so hat  man lange Zeit Ursache, an diesem innern Verständnis zu zweifeln.

»Die Grönländer haben es gern«, sagt der ehrliche  Cranz [140], »wenn man ihnen etwas von Europa erzählet; sie könnten aber davon nichts begreifen, wenn  man es ihnen nicht gleichnisweise deutlich machte.  Die Stadt oder das Land z. E. hat so viel Einwohner,  daß viele Walfische auf einen Tag kaum zur Nahrung hinreichen würden; man ißt aber keine Walfische,  sondern Brot, das wie Gras aus der Erde wächst, auch das Fleisch der Tiere, die Hörner haben, und läßt sich  durch große, starke Tiere auf ihrem Rücken tragen  oder auf einem hölzernen Gestell ziehen. Da nennen  sie denn das Brot Gras, die Ochsen Renntiere und die  Pferde große Hunde, bewundern alles und bezeigen  Lust, in einem so schönen, fruchtbaren Lande zu wohnen, bis sie hören, daß es da oft donnert und keine  Seehunde gibt. - Sie hören auch gern von Gott und  göttlichen Dingen, solange man ihnen ihre abergläubischen Fabeln auch gelten läßt.« Wir wollen nach  ebendiesem Cranz [141] einen kleinen Katechismus  ihrer theologischen Naturlehre machen, wie sie auch  bei europäischen Fragen nicht anders als in ihrem Gesichtskreise antworten und denken.

Frage: Wer hat wohl Himmel und Erde und alles, was ihr seht, geschaffen?

Antwort: Das wissen wir nicht. Den Mann kennen  wir nicht. Es muß ein sehr mächtiger Mann sein. Oder es ist wohl immer so gewesen und wird so bleiben.

Frage: Habet ihr auch eine Seele?

Antwort: O ja. Sie kann ab- und zunehmen; unsre Angekoks können sie flicken und reparieren; wenn  man sie verloren hat, bringen sie sie wieder, und eine  kranke können sie mit einer frischen gesunden Seele  von einem Hasen, Renntier, Vogel oder jungen Kinde  verwechseln Wenn wir auf eine weite Reise gegangen  sind, so ist oft unsre Seele zu Hause In der Nacht im  Schlaf wandert sie aus dem Leibe; sie geht auf die  Jagd, zum Tanz, zum Besuch, und der Leib liegt  gesund da. -

Frage: Wo bleibt sie denn im Tode?

Antwort: Da geht sie an den glückseligen Ort in der Tiefe des Meers. Daselbst wohnet Torngarsuk und  seine Mutter; da ist ein beständiger Sommer, schöner  Sonnenschein und keine Nacht. Auch gutes Wasser  ist da und ein Überfluß an Vögeln, Fischen, Seehunden und Renntieren, die man alle ohne Mühe fangen  kann oder die man gar schon in einem großen Kessel  kochend findet.

Frage: Und kommen alle Menschen dahin? Antwort: Dahin kommen nur die guten Leute, die  zur Arbeit getaugt, die große Taten getan, viel Walfische und Seehunde gefangen, viel ausgestanden haben oder gar im Meer ertrunken, über der Geburt gestorben sind u. f.

Frage: Wie kommen diese dahin?

Antwort: Nicht leicht. Man muß fünf Tage lang  oder länger an einem rauhen Felsen, der schon ganz  blutig ist, herunterklettern.

Frage: Sehet ihr aber nicht jene schönen himmlischen Körper? Sollte der Ort unsrer Zukunft nicht  vielmehr dort sein?

Antwort: Auch dort ist er, im obersten Himmel,  hoch über dem Regenbogen, und die Fahrt dahin ist  so leicht und hurtig, daß die Seele noch selbigen  Abend bei dem Mond, der ein Grönländer gewesen, in seinem Hause ausruhen und mit den übrigen Seelen  Ball spielen und tanzen kann. Dieser Tanz, dieses  Ballspiel der Seelen ist jenes Nordlicht.

Frage: Und was tun sie sonst oben?

Antwort: Sie wohnen in Zelten um einen großen  See, in welchem Fische und Vögel die Menge sind.  Wenn dieser See überfließt, so regnet's auf der Erde;  sollten einmal seine Dämme durchbrechen, so gäbe es eine allgemeine Sündflut. - Überhaupt aber kommen  nur die Untauglichen, Faulen in den Himmel; die Fleißigen gehen zum Grunde der See. Jene Seelen müssen oft hungern, sind mager und kraftlos, können auch  wegen der schnellen Umdrehung des Himmels gar  keine Ruhe haben. Böse Leute und Hexen kommen  dahin; sie werden von Raben geplagt, die sie nicht  von den Haaren abhalten können u. f.

Frage: Wie glaubet ihr, daß das menschliche Geschlecht entstanden sei?

Antwort: Der erste Mensch, Kallak, kam aus der  Erde und bald hernach die Frau aus seinem Daumen.  Einmal gebar eine Grönländerin, und sie gebar Kablunät, d. i. die Ausländer und Hunde; daher sind jene  wie diese geil und fruchtbar.

Frage: Und wird die Welt ewig dauern?

Antwort: Einmal ist sie schon umgekippt, und alle  Menschen sind ertrunken. Der einige Mann, der sich  rettete, schlug mit dem Stock auf die Erde; da kam ein Weib hervor, und beide bevölkerten die Erde wieder.  Jetzt ruht sie noch auf ihren Stützen, die aber schon  vor Alter so morsch sind, daß sie oft krachen; daher  sie längst eingefallen wäre, wenn unsre Angekoks  nicht immer daran flickten.

Frage: Was haltet ihr aber von jenen schönen Sternen?

Antwort: Sie sind alle ehedem Grönländer oder  Tiere gewesen, die durch besondre Zufälle dahin aufgefahren sind und nach Verschiedenheit ihrer Speise  blaß oder rot glänzen. Jene, die sich begegnen, sind  zwei Weiber, die einander besuchen, dieser schießende Stern ist eine zum Besuch reisende Seele. Dies  große Gestirn (der Bär) ist ein Renntier; jene Siebensterne sind Hunde, die einen Bären hetzen; jene  (Orions Gürtel) sind Verwilderte, die vom Seehundfange nicht nach Hause finden konnten und unter die  Sterne kamen. Mond und Sonne sind zwei leibliche  Geschwister. Malina, die Schwester, wurde von ihrem Bruder im Finstern verfolgt; sie wollte sich mit der  Flucht retten, fuhr in die Höhe und ward zur Sonne.  Anninga fuhr ihr nach und ward zum Monde; noch  immer läuft der Mond um die jungfräuliche Sonne  umher, in Hoffnung, sie zu haschen, aber vergebens.  Müde und abgezehrt (beim letzten Vierteil) fährt er  auf den Seehundfang, bleibt einige Tage aus und  kommt so fett wieder, wie wir ihn im Vollmond  sehen. Er freut sich, wenn Weiber sterben, und die  Sonne hat ihre Lust an der Männer Tode. -

Niemand würde mir's danken, wenn ich fortführe,  die Phantasien mehrerer Völker also zu zeichnen.  Fände sich jemand, der dies Reich der Einbildungen,  den wahren Limbus der Eitelkeit, der unsre Erde um- gibt, zu durchreisen Lust hätte, so wünschte ich ihm  den ruhigen Bemerkungsgeist, der zuerst frei von  allen Hypothesen der Übereinstimmung und Abstammung, allenthalben nur wie auf seinem Ort wäre und  auch jede Torheit seiner Mitbrüder lehrreich zu machen wüßte. Was ich auszuzeichnen habe, sind einige  allgemeine Wahrnehmungen aus diesem lebendigen  Schattenreich phantasierender Völker.

1. Überall charakterisieren sich in ihm Klimate  und Nationen. Man halte die grönländische mit der  indischen, die lappländische mit der japanischen, die  peruanische mit der Negermythologie zusammen: eine völlige Geographie der dichtenden Seele. Der Brahmine würde sich kaum ein Bild denken können, wenn  man ihm die Voluspa der Isländer vorläse und erklärte; der Isländer fände beim Wedam sich ebenso fremde. Jeder Nation ist ihre Vorstellungsart um so tiefer  eingeprägt, weil sie ihr eigen, mit ihrem Himmel und  ihrer Erde verwandt, aus ihrer Lebensart entsprossen,  von Vätern und Urvätern auf sie vererbt ist. Wobei  ein Fremder am meisten staunt, glauben sie am  deutlichsten zu begreifen; wobei er lacht, sind sie  höchst ernsthaft. Die Indier sagen, daß das Schicksal  des Menschen in sein Gehirn geschrieben sei, dessen  feine Striche die unlesbaren Lettern aus dem Buch des Verhängnisses darstellten; oft sind die willkürlichsten Nationalbegriffe und Meinungen solche Hirngemälde, eingewebte Züge der Phantasie vom festesten Zusammenhange mit Leib und Seele.

2. Woher dieses? Hat jeder einzelne dieser Menschenherden sich seine Mythologie erfunden, daß er  sie etwa wie sein Eigentum liebe? Mitnichten. Er hat  nichts in ihr erfunden: er hat sie geerbt. Hätte er sie  durch eignes Nachdenken zuwege gebracht, so könnte er auch durch eignes Nachdenken vom Schlechtern  zum Bessern geführt werden; das ist aber hier der Fall nicht. Als Dobritzhofer [142] es einer ganzen Schar  tapfrer und kluger Abiponer vorstellte, wie lächerlich  sie sich vor den Drohungen eines Zauberers, der sich  in einen Tiger verwandeln wollte und dessen Klauen  sie schon an sich zu fühlen meinten, entsetzten: »Ihr  erlegt«, sprach er zu ihnen, »täglich im Felde wahre  Tiger, ohne euch darüber zu entsetzen; warum erblasset ihr so feige über einen eingebildeten, der nicht da  ist?« - »Ihr Väter«, sprach ein tapfrer Abipone, »habt von unsern Sachen noch keine echten Begriffe. Die  Tiger auf dem Felde fürchten wir nicht, weil wir sie  sehen; da erlegen wir sie ohne Mühe. Die künstlichen  Tiger aber setzen uns in Angst, eben weil wir sie  nicht sehen und also auch nicht zu töten vermögen.«  Mich dünkt, hier liegt der Knoten. Wären uns alle Be- griffe so klar wie Begriffe des Auges; hätten wir keine andern Einbildungen, als die wir von Gegenständen  des Gesichts abgezogen hätten und mit ihnen vergleichen könnten: so wäre die Quelle des Betruges und  Irrtums, wo nicht verstopft, so doch wenigstens bald  erkennbar. Nun aber sind die meisten Phantasien der  Völker Töchter des Ohrs und der Erzählung. Neugierig horchte das unwissende Kind den Sagen, die, wie  Milch der Mutter, wie ein festlicher Wein des väterlichen Geschlechts, in seine Seele flossen und sie nährten. Sie schienen ihm, was es sah, zu erklären: dem  Jünglinge gaben sie Bericht von der Lebensart seines  Stammes und von seiner Väter Ehre; sie weiheten den Mann national und klimatisch in seinen Beruf ein,  und so wurden sie auch untrennbar von seinem ganzen Leben. Der Grönländer und Tunguse sieht lebenslang nun wirklich, was er in seiner Kindheit eigentlich nur reden hörte, und so glaubt er's als eine gesehene  Wahrheit. Daher die schreckhaften Gebräuche so vieler der entferntesten Völker bei Mond- und Sonnenfinsternissen; daher ihr fürchterlicher Glaube an die  Geister der Luft, des Meers und aller Elemente. Wo  irgend Bewegung in der Natur ist, wo eine Sache zu  leben scheint und sich verändert, ohne daß das Auge  die Gesetze der Veränderung wahrnimmt, da höret  das Ohr Stimmen und Rede, die ihm das Rätsel des  Gesehenen durchs Nichtgesehene erklären; die Einbildungskraft wird gespannt und auf ihre Weise, d. i.  durch Einbildungen, befriedigt. Überhaupt ist das Ohr der furchtsamste, der scheueste aller Sinne; es empfindet lebhaft, aber nur dunkel; es kann nicht zusammenhalten, nicht bis zur Klarheit vergleichen: denn seine  Gegenstände gehn im betäubenden Strom vorüber.  Bestimmt, die Seele zu wecken, kann es ohne Beihilfe der andern Sinne, insonderheit des Auges, sie  selten bis zur deutlichen Genugtuung belehren.

3. Man siehet daher, bei welchen Völkern die Einbildungskraft am stärksten gespannt sein müsse. Bei solchen nämlich, die die Einsamkeit lieben, die wilde  Gegenden der Natur, die Wüste, ein felsichtes Land,  die sturmreiche Küste des Meers, den Fuß feuerspeiender Berge oder andre wunder- und bewegungvolle  Erdstriche bewohnen. Von den ältesten Zeiten an ist  die Arabische Wüste eine Mutter hoher Einbildungen  gewesen, und die solchen nachhingen, waren meistenteils einsame, staunende Menschen. In der Einsamkeit empfing Mahomed seinen Koran; seine erregte Phantasie verzückte ihn in den Himmel und zeigte ihm alle Engel, Seligen und Welten; nie ist seine Seele entflammter, als wenn sie den Blitz der einsamen Nacht,  den Tag der großen Wiedervergeltung und andre  unermeßliche Gegenstände malet. Wo und wie weit  hat sich nicht der Aberglaube der Schamanen verbreitet? Von Grönland und dem dreifachen Lappland an  über die ganze nächtliche Küste des Eismeers tief in  die Tatarei hinab, nach Amerika hin und fast durch  diesen ganzen Weltteil. Überall erscheinen Zauberer,  und allenthalben sind Schreckbilder der Natur die  Welt, in der sie leben. Mehr als drei Vierteile der  Erde sind also dieses Glaubens; denn auch in Europa  hangen die meisten Nationen finnischen und slawischen Ursprunges noch an den Zaubereien des Naturdienstes, und der Aberglaube der Neger ist nichts als  ein nach ihrem Genius und Klima gestalteter Schamanismus. In den Ländern der asiatischen Kultur ist dieser zwar von positiven künstlichern Religionen und  Staatseinrichtungen verdrängt worden; er läßt sich  aber blicken, wo er sich blicken lassen darf, in der  Einsamkeit und beim Pöbel, bis er auf einigen Inseln  des Südmeers wieder in großer Macht herrschet. Der  Dienst der Natur hat also die Erde umzogen, und die  Phantasien desselben halten sich an jeden klimatischen Gegenstand der Übermacht und des Schreckens, an den die menschliche Notdurft grenzet. In ältern  Zeiten war er der Gottesdienst beinah aller Völker der Erde.

4. Daß die Lebensart und der Genius jedes Volks  hiebei mächtig einwirke, bedarf fast keiner  Erwähnung. Der Schäfer siehet die Natur mit andern  Augen an als der Fischer und Jäger, und in jedem  Erdstrich sind auch diese Gewerbe wiederum, wie die  Charaktere der Nationen, verschieden. Mich wunderte, z. B. in der Mythologie der so nördlichen Kamtschadalen eine freche Lüsternheit zu bemerken, die  man eher bei einer südlichen Nation suchen sollte; ihr Klima indessen und ihr genetischer Charakter geben  auch über diese Anomalie Aufschluß. [143] Ihr kaltes  Land hat feuerspeiende Berge und heiße Quellen:  starrende Kälte und kochende Glut sind im Streit daselbst; ihre lüsterne Sitten wie ihre grobe mythologische Possen sind ein natürliches Produkt von beiden.  Ein gleiches ist's mit jenen Märchen der schwatzhaften, brausenden Neger, die weder Anfang noch Ende  haben [144]; ein gleiches mit der zusammengedrückten,  festen Mythologie der Nordamerikaner [145], ein gleiches mit der Blumenphantasie der Indier [146], die, wie  sie selbst, die wohllüstige Ruhe des Paradieses hauchet. Ihre Götter baden in Milch- und Zuckerseen;  ihre Göttinnen wohnen auf kühlenden Teichen im  Kelch süßduftender Blumen. Kurz, die Mythologie  jedes Volks ist ein Abdruck der eigentlichen Art, wie  es die Natur ansah, insonderheit ob es, seinem Klima  und Genius nach, mehr Gutes oder Übel in derselben  fand und wie es sich etwa das eine durch das andre zu erklären suchte. Auch in den wildesten Strichen also  und in den mißratensten Zügen ist sie ein philosophischer Versuch der menschlichen Seele, die, ehe sie  aufwacht, träumt und gern in ihrer Kindheit bleibet.

5. Gewöhnlich siehet man die Angekoks, die Zauberer, Magier, Schamanen und Priester als die Urheber dieser Verblendungen des Volks an und glaubt,  alles erklärt zu haben, wenn man sie Betrüger nennet.  An den meisten Orten sind sie es freilich; nie aber  vergesse man, daß sie selbst Volk sind und also auch  Betrogene älterer Sagen waren. In der Masse der Einbildungen ihres Stammes wurden sie erzeugt und erzogen; ihre Weihung geschah durch Fasten, Einsamkeit, Anstrengung der Phantasie, durch Abmattung  des Leibes und der Seele; daher niemand ein Zauberer ward, bis ihm sein Geist erschien, und also in seiner  Seele zuerst das Werk vollendet war, das er nachher  lebenslang mit wiederholter ähnlicher Anstrengung  der Gedanken und Abmattung des Leibes für andre  treibet. Die kältesten Reisenden mußten bei manchen  Gaukelspielen dieser Art erstaunen, weil sie Erfolge  der Einbildungskraft sahen, die sie kaum möglich geglaubt hatten und sich oft nicht zu erklären wußten.  Überhaupt ist die Phantasie noch die unerforschteste  und vielleicht die unerforschlichste aller menschlichen Seelenkräfte; denn da sie mit dem ganzen Bau des  Körpers, insonderheit mit dem Gehirn und den Nerven, zusammenhangt, wie soviel wunderbare  Krankheiten zeigen, so scheint sie nicht nur das Band  und die Grundlage aller feinern Seelenkräfte, sondern  auch der Knote des Zusammenhanges zwischen Geist  und Körper zu sein, gleichsam die sprossende Blüte  der ganzen sinnlichen Organisation zum weitern Gebrauch der denkenden Kräfte. Notwendig ist sie also  auch das erste, was von Eltern auf Kinder übergeht,  wie dies abermals viele widernatürliche Beispiele  samt der unanstreitbaren Ähnlichkeit des äußern und  innern Organismus auch in den zufälligsten Dingen  bewähret. Man hat lange gestritten, ob es angeborne  Ideen gebe, und wie man das Wort verstand, finden  sie freilich nicht statt; nimmt man es aber für die  nächste Anlage zum Empfängnis, zur Verbindung,  zur Ausbreitung gewisser Ideen und Bilder, so scheinet ihnen nicht nur nichts entgegen, sondern auch  alles für sie. Kann ein Sohn sechs Finger, konnte die  Familie des Porcupineman in England seinen unmenschlichen Auswuchs erben, geht die äußere Bildung des Kopfs und Angesichts oft augenscheinlich  über: wie könnte es ohne Wunder geschehen, daß  nicht auch die Bildung des Gehirns überginge und  sich vielleicht in ihren feinsten organischen Faltungen vererbte? Unter manchen Nationen herrschen Krankheiten der Phantasie, von denen wir keinen Begriff  haben; alle Mitbrüder des Kranken schonen sein  Übel, weil sie die genetische Disposition dazu in sich  fühlen. Unter den tapfern und gesunden Abiponern z.  B. herrscht ein periodischer Wahnsinn, von welchem  in den Zwischenstunden der Wütende nichts weiß; er  ist gesund, wie er gesund war; nur seine Seele, sagen  sie, ist nicht bei ihm. Unter mehrern Völkern hat man, diesem Übel Ausbruch zu geben, Traumfeste verordnet, da dem Träumenden alles, was ihm sein Geist befiehlt, zu tun erlaubt ist. Überhaupt sind bei allen  phantasiereichen Völkern die Träume wunderbar  mächtig; ja wahrscheinlich waren auch Träume die  ersten Musen, die Mütter der eigentlichen Fiktion und Dichtkunst. Sie brachten die Menschen auf Gestalten  und Dinge, die kein Auge gesehen hatte, deren  Wunsch aber in der menschlichen Seele lag; denn was z. B. war natürlicher, als daß geliebte Verstorbene  dem Hinterlassenen in Träumen erschienen und daß,  die so lange wachend mit uns gelebt hatten, jetzt wenigstens als Schatten im Traum mit uns zu leben  wünschten. Die Geschichte der Nationen wird zeigen,  wie die Vorsehung das Organ der Einbildung, wodurch sie so stark, so rein und natürlich auf Menschen wirken konnte, gebraucht habe; abscheulich aber  war's, wenn der Betrug oder der Despotismus es mißbrauchte und sich des ganzen noch ungebändigten  Ozeans menschlicher Phantasien und Träume zu seiner Absicht bediente.

Großer Geist der Erde, mit welchem Blick  überschauest du alle Schattengestalten und Träume,  die sich auf unsrer runden Kugel jagen; denn Schatten sind wir, und unsre Phantasie dichtet nur Schattenträume. Sowenig wir in reiner Luft zu atmen vermögen, sowenig kann sich unsrer zusammengesetzten,  aus Staub gebildeten Hülle jetzt noch die reine Vernunft ganz mitteilen. Indessen auch in allen Irrgängen  der Einbildungskraft wird das Menschengeschlecht zu ihr erzogen; es hangt an Bildern, weil diese ihm Eindruck von Sachen geben; es sieht und suchet auch im  dicksten Nebel Strahlen der Wahrheit. Glücklich und  auserwählt ist der Mensch, der in seinem enge beschränkten Leben, soweit er kann, von Phantasien  zum Wesen, d. i. aus der Kindheit zum Mann, erwächst und auch in dieser Absicht die Geschichte seiner Brüder mit reinem Geist durchwandert. Edle Ausbreitung gibt es der Seele, wenn sie sich aus dem  engen Kreise, den Klima und Erziehung um uns gezogen, herauszusetzen wagt und unter andern Nationen  wenigstens lernt, was man entbehren möge. Wie manches findet man da entbehrt und entbehrlich, was man lange für wesentlich hielt! Vorstellungen, die wir oft  für die allgemeinsten Grundsätze der Menschenvernunft erkannten, verschwinden dort und hier mit dem  Klima eines Orts, wie dem Schiffenden das feste Land als Wolke verschwindet. Was diese Nation ihrem Gedankenkreise unentbehrlich hält, daran hat jene nie  gedacht oder hält es gar für schädlich. So irren wir auf der Erde in einem Labyrinth menschlicher Phantasien  umher; wo aber der Mittelpunkt des Labyrinths sei,  auf den alle Irrgänge wie gebrochne Strahlen zur  Sonne zurückführen, das ist die Frage.

 

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