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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Achtes Buch

V

Die Glückseligkeit der Menschen ist allenthalben ein individuelles Gut, folglich allenthalben klimatisch und organisch, ein Kind der Übung, der Tradition und Gewohnheit

Schon der Name Glückseligkeit deutet an, daß der  Mensch keiner reinen Seligkeit fähig sei, noch sich  dieselbe erschaffen möge; er selbst ist ein Sohn des  Glücks, das ihn hie- oder dahin setzte und nach dem  Lande, der Zeit, der Organisation, den Umständen, in  welchen er lebt, auch die Fähigkeit seines Genusses,  die Art und das Maß seiner Freuden und Leiden bestimmt hat. Unsinnig-stolz wäre die Anmaßung, daß  die Bewohner aller Weltteile Europäer sein müßten,  um glücklich zu leben; denn wären wir selbst, was  wir sind, außer Europa worden? Der nun uns hieher  setzte, setzte jene dorthin und gab ihnen dasselbe  Recht zum Genuß des irdischen Lebens. Da Glückseligkeit ein innerer Zustand ist, so liegt das Maß und  die Bestimmung derselben nicht außer, sondern in der Brust eines jeden einzelnen Wesens; ein andres hat  sowenig Recht, mich zu seinem Gefühl zu zwingen,  als es ja keine Macht hat, mir seine Empfindungsart  zu geben und das meine in sein Dasein zu  verwandeln. Lasset uns also aus stolzer Trägheit oder  aus gewohnter Vermessenheit die Gestalt und das  Maß der Glückseligkeit unsres Geschlechts nicht kürzer oder höher setzen, als es der Schöpfer setzte; denn er wußte allein, wozu der Sterbliche auf unsrer Erde  sein sollte.

1. Unsern vielorganischen Körper mit allen seinen  Sinnen und Gliedern empfingen wir zum Gebrauch,  zur Übung. Ohne diese stocken unsre Lebenssäfte,  unsre Organe werden matt; der Körper, ein lebendiger Leichnam, stirbt lange vorher, eh er stirbt, er verwest  eines langsamen, elenden, unnatürlichen Todes. Wollte die Natur uns also die erste unentbehrliche Grundlage der Glückseligkeit, Gesundheit, gewähren, so  mußte sie uns Übung, Mühe und Arbeit verleihn und  dadurch dem Menschen sein Wohlsein lieber aufdringen, als daß er dasselbe entbehren sollte. Daher verkaufen wie die Griechen sagen, die Götter den Sterblichen alles um Arbeit; nicht aus Neid, sondern aus  Güte, weil eben in diesem Kampf, in diesem Streben  nach der erquickenden Ruhe der größeste Genuß des  Wohlseins, das Gefühl wirksamer, strebender Kräfte  lieget. Nur in denen Klimaten oder Ständen siechet  die Menschheit, wo ein entkräftender Müßiggang,  eine üppige Trägheit die Körper lebendig begräbt und sie zu blassen Leichen oder zu Lasten, die sich selbst  beschweren, umbildet; in andern und gerade in den  härtesten Lebensarten und Ländern blühet der kräftigste Wuchs, die gesundeste, schönste Symmetrie  menschlicher Glieder. Gehet die Geschichte der Nationen durch und leset, was Pagès z. E. von der Bildung der Chaktas, der Tegas, vom Charakter der Bissayen, der Indier, der Araber saget [152], selbst das  drückendste Klima macht wenig Unterschied in der  Dauer des Menschenlebens, und eben der Mangel  ist's, der die fröhlichen Armen zur gesundheitbringenden Arbeit stärket. Auch die Mißbildungen des Leibes, die sich hie oder da auf der Erde als genetischer  Charakter oder als ererbte Sitte finden, schaden der  Gesundheit weniger als unser künstliche Putz, unsre  hundert angestrengte, unnatürliche Lebensweisen;  denn was will ein größerer Ohrlappe der Arakaner,  ein ausgerupfter Bart der Ost- und Westindier oder  etwa eine durchbohrte Nase zu der eingedruckten, gequälten Brust, zum vorsinkenden Knie und mißgebildeten Fuß, zu den verwachsnen oder rachitischen Gestalten und den zusammengepreßten Eingeweiden so  vieler feinen Europäer und Europäerinnen sagen?  Lasset uns also die Vorsehung preisen, daß, da Gesundheit der Grund aller unsrer physischen Glückseligkeit ist, sie dies Fundament so weit und breit auf  der Erde legte. Die Völker, von denen wir glauben,  daß sie sie als Stiefmutter behandelt habe, waren ihr  vielleicht die liebsten Kinder; denn wenn sie ihnen  kein träges Gastmahl süßer Gifte bereitete, so reichte  sie ihnen dafür durch die harten Hände der Arbeit den Kelch der Gesundheit und einer von innen sie erquickenden Lebenswärme. Kinder der Morgenröte,  blühen sie auf und ab; eine oft gedankenlose Heiterkeit, ein inniges Gefühl ihres Wohlseins ist ihnen  Glückseligkeit, Bestimmung und Genuß des Lebens;  könnte es auch einen andern, einen sanftern und daurendern geben?

2. Wir rühmen uns unsrer feinen Seelenkräfte; lasset uns aber aus der traurigen Erfahrung lernen, daß  nicht jede entwickelte Feinheit Glückseligkeit gewähre, ja daß manches zu feine Werkzeug eben dadurch  untüchtig zum Gebrauch werde. Die Spekulation z. E. kann das Vergnügen nur weniger, müßiger Menschen  sein, und auch ihnen ist sie oft, wie der Genuß des  Opium in den Morgenländern, ein entkräftend-verzerrendes, einschläferndes Traumvergnügen.  Der wachende, gesunde Gebrauch der Sinne, tätiger  Verstand in wirklichen Fällen des Lebens, muntere  Aufmerksamkeit, mit reger Erinnerung, mit schnellem Entschluß, mit glücklicher Wirkung begleitet: sie allein sind das, was wir Gegenwart des Geistes, innere  Lebenskraft nennen, die sich also auch mit dem Gefühl einer gegenwärtigen wirksamen Kraft, mit  Glückseligkeit und Freude selbst belohnet. Glaubet es nicht, ihr Menschen, daß eine unzeitige, maßlose  Verfeinerung oder Ausbildung Glückseligkeit sei oder daß die tote Nomenklatur aller Wissenschaften, der  seiltänzerische Gebrauch aller Künste einem lebendigen Wesen die Wissenschaft des Lebens gewähren  könne; denn Gefühl der Glückseligkeit erwirbt sich  nicht durch das Rezept auswendig gelernter Namen  oder gelernter Künste. Ein mit Kenntnissen überfülleter Kopf, und wenn es auch goldene Kenntnisse  wären, er erdrücket den Leib, verenget die Brust, verdunkelt den Blick und wird dem, der ihn trägt, eine  kranke Last des Lebens. Je mehr wir verfeinernd  unsre Seelenkräfte teilen, desto mehr ersterben die  müßigen Kräfte; auf das Gerüst der Kunst gespannet,  verwelken unsre Fähigkeiten und Glieder an diesem  prangenden Kreuze. Nur auf dem Gebrauch der ganzen Seele, insonderheit ihrer tätigen Kräfte, ruhet der  Segen der Gesundheit; und da lasset uns abermals der Vorsehung danken, daß sie es mit dem Ganzen des  Menschengeschlechts nicht zu fein nahm und unsre  Erde zu nichts weniger als einem Hörsaal gelehrter  Wissenschaften bestimmte. Schonend ließ sie bei den  meisten Völkern und Ständen der Menschheit die Seelenkräfte in einem festen Knäuel beisammen und entwickelte diesen nur, wo es die Not begehrte. Die meisten Nationen der Erde wirken und phantasieren, lieben und hassen, hoffen und fürchten, lachen und weinen wie Kinder; sie genießen also auch wenigstens  die Glückseligkeit kindlicher Jugendträume. Wehe  dem Armen, der seinen Genuß des Lebens sich erst  ergrübelt!

3. Da endlich unser Wohlsein mehr ein stilles Gefühl als ein glänzender Gedanke ist, so sind es allerdings auch weit mehr die Empfindungen des Herzens  als die Wirkungen einer tiefsinnigen Vernunft, die uns mit Liebe und Freude am Leben lohnen. Wie gut hat  es also die große Mutter gemacht, daß sie die Quelle  des Wohlwollens gegen sich und andre, die wahre  Humanität unsres Geschlechts, zu der es erschaffen  ist, fast unabhängig von Beweggründen und künstlichen Triebfedern in die Brust der Menschen pflanzte.  Jedes Lebendige freuet sich seines Lebens; es fragt  und grübelt nicht, wozu es da sei; sein Dasein ist ihm  Zweck, und sein Zweck das Dasein. Kein Wilder  mordete sich selbst, sowenig ein Tier sich selbst mordet; er pflanzt sein Geschlecht fort, ohne zu wissen,  wozu er's fortpflanze, und unterzieht sich auch unter  dem Druck des härtesten Klima aller Mühe und Arbeit, nur damit er lebe. Dies einfache, tiefe, unersetzliche Gefühl des Daseins also ist Glückseligkeit, ein  kleiner Tropfe aus jenem unendlichen Meer des Allseligen, der in allem ist und sich in allem freuet und  fühlet. Daher jene unzerstörbare Heiterkeit und Freude, die mancher Europäer auf den Gesichtern und im  Leben fremder Völker bewunderte, weil er sie bei  seiner unruhigen Rastlosigkeit in sich nicht fühlte;  daher auch jenes offene Wohlwollen, jene zuvorkommende, zwanglose Gefälligkeit aller glücklichen Völker der Erde, die nicht zur Rache oder Verteidigung  gezwungen wurden. Nach den Berichten der Unparteiischen ist diese so allgemein ausgebreitet auf der  Erde, daß ich sie den Charakter der Menschheit nennen möchte, wenn es nicht leider ebensowohl Charakter dieser zweideutigen Natur wäre, das offne Wohlwollen, die dienstfertige Heiterkeit und Freude in sich und andern einzuschränken, um sich aus Wahn oder  aus Vernunft gegen die künftige Not zu waffnen. Ein  in sich glückliches Geschöpf, warum sollte es nicht  auch andre glücklich neben sich sehen und, wo es  kann, zu ihrer Glückseligkeit beitragen? Nur weil wir  selbst, mit Mangel umringt, so vielbedürftig sind und  es durch unsre Kunst und List noch mehr werden, so  verenget sich unser Dasein, und die Wolke des Argwohns, des Kummers, der Mühe und Sorgen umnebelt ein Gesicht das für die offne, teilnehmende Freude gemacht war. Indes auch hier hatte die Natur das  menschliche Herz in ihrer Hand und formte den fühlbaren Teig auf so mancherlei Arten, daß, wo sie nicht  gebend befriedigen konnte, sie wenigstens versagend  zu befriedigen suchte. Der Europäer hat keinen Begriff von den heißen Leidenschaften und Phantomen,  die in der Brust des Negers glühen, und der Indier  keinen Begriff von den unruhigen Begierden, die den  Europäer von einem Weltende zum andern jagen. Der  Wilde, der nicht auf üppige Weise zärtlich sein kann,  ist es desto mehr auf eine gesetzte ruhige Weise; dagegen wo die Flamme des Wohlwollens lichte Funken umherwirft, da verglühet sie auch bald und erstirbt in  diesen Funken. Kurz, das menschliche Gefühl hat alle Formen erhalten, die auf unsrer Kugel in den verschiednen Klimaten, Zuständen und Organisationen  der Menschen nur stattfanden; allenthalben aber liegt  Glückseligkeit des Lebens nicht in der wühlenden  Menge von Empfindungen und Gedanken, sondern in  ihrem Verhältnis zum wirklichen innern Genuß unseres Daseins und dessen, was wir zu unserm Dasein  rechnen. Nirgend auf Erden blühet die Rose der  Glückseligkeit ohne Dornen; was aber aus diesen  Dornen hervorgeht, ist allenthalben und unter allerlei  Gestalten die zwar flüchtige, aber schöne Rose einer  menschlichen Lebensfreude.

Irre ich nicht, so lassen sieh nach diesen einfachen  Voraussetzungen, deren Wahrheit jede Brust fühlet,  einige Linien ziehen, die wenigstens manche Zweifel  und Irrungen über die Bestimmung des Menschengeschlechts abschneiden. Was z. B. könnte es heißen,  daß der Mensch, wie wir ihn hier kennen, zu einem  unendlichen Wachstum seiner Seelenkräfte zu einer  fortgehenden Ausbreitung seiner Empfindungen und  Wirkungen, ja gar, daß er für den Staat, als das Ziel  seines Geschlechts, und alle Generationen desselben  eigentlich nur für die letzte Generation gemacht sein,  die auf dem zerfallenen Gerüst der Glückseligkeit  aller vorhergehenden throne?

Der Anblick unsrer Mitbrüder auf der Erde, ja  selbst die Erfahrung jedes einzelnen Menschenlebens  widerlegt diese der schaffenden Vorsehung untergeschobenen Plane. Zu einer ins Unermeßliche wachsenden Fülle der Gedanken und der Empfindungen ist weder unser Haupt noch unser Herz gebildet, weder  unsre Hand gemacht noch unser Leben berechnet.  Blühen nicht unsre schönsten Seelenkräfte ab, wie sie  aufblühten? Ja, wechseln nicht mit Jahren und Zuständen sie selbst untereinander und lösen im freundschaftlichen Zwist oder vielmehr in einem kreisenden  Reigentanz einander ab? Und wer hätte es nicht erfahren, daß eine grenzenlose Ausbreitung seiner Empfindungen diese nur schwäche und vernichte, indem sie  das, was Seil der Liebe sein soll, als eine verteilte  Flocke den Lüften gibt oder mit seiner verbrannten  Asche das Auge des andern benebelt. Da wir unmöglich andre mehr oder anders als uns selbst lieben können; denn wir lieben sie nur als Teile unser selbst  oder vielmehr uns selbst in ihnen so ist allerdings die  Seele glücklich, die wie ein höherer Geist mit ihrer  Wirksamkeit viel umfasset und es in rastloser  Wohltätigkeit zu ihr selbst zählet; elend ist aber die  andre, deren Gefühl, in Worte verschwemmet, weder  sich noch andern tauget. Der Wilde, der sich, der sein  Weib und Kind mit ruhiger Freude liebt und für seinen Stamm wie für sein Leben mit beschränkter  Wirksamkeit glühet, ist, wie mich dünkt, ein wahreres Wesen als jener gebildete Schatte, der für den Schatten seines ganzen Geschlechts, d. i. für einen Namen,  in Liebe entzückt ist. In seiner armen Hütte hat jener  für jeden Fremden Raum, den er mit gleichgültiger  Gutmütigkeit als seinen Bruder aufnimmt und ihn  nicht einmal, wo er her sei, fraget. Das verschwemmte Herz des müßigen Kosmopoliten ist eine Hütte für  niemand.

Sehen wir denn nicht, meine Brüder, daß die Natur  alles, was sie konnte, getan habe, nicht um uns auszubreiten, sondern um uns einzuschränken und uns eben an den Umriß unsres Lebens zu gewöhnen? Unsre  Sinne und Kräfte haben ein Maß: die Horen unsrer  Tage und Lebensalter geben einander nur wechselnd  die Hände, damit die ankommende die verschwundne  ablöse. Es ist also ein Trug der Phantasie, wenn der  Mann und Greis sich noch zum Jünglinge träumet.  Vollends jene Lüsternheit der Seele, die, selbst der  Begierde zuvorkommend, sich augenblicks in Ekel  verwandelt, ist sie Paradieses Lust oder vielmehr Tantalus' Hölle, das ewige Schöpfen der unsinnig  gequälten Danaiden? Deine einzige Kunst, o Mensch, hienieden ist also Maß! Das Himmelskind Freude,  nach dem du verlangest, ist um dich, ist in dir, eine  Tochter der Nüchternheit und des stillen Genusses,  eine Schwester der Genügsamkeit und der Zufriedenheit mit deinem Dasein im Leben und Tode. Noch weniger ist's begreiflich, wie der Mensch also für den Staat gemacht sein soll, daß aus dessen Einrichtung notwendig seine erste wahre Glückseligkeit  keime; denn wie viele Völker auf der Erde wissen von keinem Staat, die dennoch glücklicher sind als mancher gekreuzigte Staatswohltäter. Ich will mich auf  keinen Teil des Nutzens oder des Schadens einlassen,  den diese künstliche Anstalten der Gesellschaft mit  sich führen; da jede Kunst aber nur Werkzeug ist und  das künstlichste Werkzeug notwendig den vorsichtigsten, feinsten Gebrauch erfordert, so ist offenbar, daß  mit der Größe der Staaten und mit der feinern Kunst  ihrer Zusammensetzung notwendig auch die Gefahr,  einzelne Unglückliche zu schaffen, unermeßlich zunimmt. In großen Staaten müssen Hunderte hungern,  damit einer prasse und schwelge; Zehntausende werden gedrückt und in den Tod gejaget, damit ein gekrönter Tor oder Weiser seine Phantasie ausfahre. Ja  endlich, da, wie alle Staatslehrer sagen, jeder wohleingerichtete Staat eine Maschine sein muß, die nur  der Gedanke eines regieret: welche größere  Glückseligkeit könnte es gewähren, in dieser Maschine als ein gedankenloses Glied mitzudienen? Oder  vielleicht gar wider besser Wissen und Gefühl lebenslang in ihr auf ein Rad Ixions geflochten zu sein, das  dem Traurig-Verdammten keinen Trost läßt, als etwa  die letzte Tätigkeit seiner selbstbestimmenden, freien  Seele wie ein geliebtes Kind zu ersticken und in der  Unempfindlichkeit einer Maschine sein Glück zu finden? - O wenn wir Menschen sind, so laßt uns der  Vorsehung danken, daß sie das allgemeine Ziel der  Menschheit nicht dahin setzte! Millionen des Erdballs leben ohne Staaten, und muß nicht ein jeder von uns  auch im künstlichsten Staat, wenn er glücklich sein  will, es eben da anfangen, wo es der Wilde anfängt,  nämlich daß er Gesundheit und Seelenkräfte, das  Glück seines Hauses und Herzens, nicht vom Staat,  sondern von sich selbst erringe und erhalte? Vater  und Mutter, Mann und Weib, Kind und Bruder,  Freund und Mensch - das sind Verhältnisse der  Natur, durch die wir glücklich werden; was der Staat  uns geben kann, sind Kunstwerkzeuge, leider aber  kann er uns etwas weit Wesentlicheres, uns selbst,  rauben.

Gütig also dachte die Vorsehung, da sie den Kunstendzwecken großer Gesellschaften die leichtere  Glückseligkeit einzelner Menschen vorzog und jene  kostbaren Staatsmaschinen, soviel sie konnte, den  Zeiten ersparte. Wunderbar teilte sie die Völker, nicht nur durch Wälder und Berge, durch Meere und Wüsten, durch Ströme und Klimate, sondern insonderheit auch durch Sprachen, Neigungen und Charaktere, nur  damit sie dem unterjochenden Despotismus sein Werk erschwerte und nicht alle Weltteile in den Bauch eines hölzernen Pferdes steckte. Keinem Nimrod gelang es  bisher, für sich und sein Geschlecht die Bewohner des Weltalls in ein Gehege zusammenzujagen; und wenn  es seit Jahrhunderten der Zweck des verbündeten Europa wäre, die glückaufzwingende Tyrannin aller Erdnationen zu sein, so ist die Glückesgöttin noch weit  von ihrem Ziele. Schwach und kindisch wäre die  schaffende Mutter gewesen, die die echte und einzige  Bestimmung ihrer Kinder, glücklich zu sein, auf die  Kunsträder einiger Spätlinge gebauet und von ihren  Händen den Zweck der Erdeschöpfung erwartet hätte.  Ihr Menschen aller Weltteile, die ihr seit Äonen dahingingt, ihr hättet also nicht gelebt und etwa nur mit  eurer Asche die Erde gedüngt, damit am Ende der Zeit eure Nachkommen durch europäische Kultur glücklich würden: was fehlet einem stolzen Gedanken dieser Art, daß er nicht Beleidigung der Naturmajestät  heiße?

Wenn Glückseligkeit auf der Erde anzutreffen ist,  so ist sie in jedem fühlenden Wesen; ja sie muß in  ihm durch Natur sein, und auch die helfende Kunst  muß zum Genuß in ihm Natur werden. Hier hat nun  jeder Mensch das Maß seiner Seligkeit in sich; er  trägt die Form an sich, zu der er gebildet worden und  in deren reinem Umriß er allein glücklich werden  kann. Eben deswegen hat die Natur alle ihre Menschenformen auf der Erde erschöpft, damit sie für jede derselben in ihrer Zeit und an ihrer Stelle einen Genuß hätte, mit dem sie den Sterblichen durchs Leben hindurch täuschte.

 

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