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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Neuntes Buch

IV

Die Regierungen sind festgestellte Ordnungen unter den Menschen, meistens aus ererbter Tradition

Der Naturstand des Menschen ist der Stand der Gesellschaft; denn in dieser wird er geboren und erzogen, zu ihr führt ihn der aufwachende Trieb seiner  schönen Jugend, und die süßesten Namen der  Menschheit, Vater, Kind, Bruder, Schwester, Geliebter, Freund, Versorger, sind Bande des Naturrechts,  die im Stande jeder ursprünglichen Menschengesellschaft stattfinden. Mit ihnen sind also auch die ersten  Regierungen unter den Menschen gegründet: Ordnungen der Familie, ohne die unser Geschlecht nicht bestehen kann, Gesetze, die die Natur gab und auch  durch sich selbst genugsam einschränkte. Wir wollen  sie den ersten Grad natürlicher Regierungen nennen; sie werden immerhin auch der höchste und letzte  bleiben.

Hier endigte nun die Natur ihre Grundlage der Gesellschaft und überließ es dem Verstande oder dem  Bedürfnis des Menschen, höhere Gebäude darauf zu  gründen. In allen Erdstrichen, wo einzelne Stämme  und Geschlechter einander weniger bedürfen, nehmen  sie auch weniger teil aneinander; sie dachten also an  keine großen politischen Gebäude. Dergleichen sind  die Küsten der Fischer, die Weiden der Hirten, die  Wälder der Jäger; wo auf ihnen das väterliche und  häusliche Regiment aufhört, sind die weiteren Verbindungen der Menschen meistens nur auf Vertrag oder  Auftrag gegründet. Eine Jagdnation z. B. geht auf die  Jagd; bedarf sie eines Führers, so ist es ein Jagdanführer, zu dem sie den Geschicktesten wählet, dem sie also auch nur aus freier Wahl und zum gemeinschaftlichen Zweck ihres Geschäfts gehorchet. Alle Tiere,  die in Herden leben, haben solche Anführer; bei Reisen, Verteidigungen, Anfällen und überhaupt bei  jedem gemeinschaftlichen Geschäft einer Menge ist  ein solcher König des Spiels nötig. Wir wollen diese  Verfassung den zweiten Grad der natürlichen Regierung nennen: sie findet bei allen Völkern statt, die  bloß ihrem Bedürfnis folgen und, wie wir's nennen,  im Stande der Natur leben. Selbst die erwählten Richter eines Volks gehören zu diesem Grad der Regierung: die Klügsten und Besten nämlich werden zu  ihrem Amt als zu einem Geschäft erwählt, und mit  dem Geschäft ist auch ihre Herrschaft zu Ende.

Aber wie anders ist's mit dem dritten Grad, den  Erbregierungen unter den Menschen! Wo hören hier  die Gesetze der Natur auf, oder wo fangen sie an?  Daß der billigste und klügste Mann von den Streitenden zum Richter erwählt ward, war Natur der Sache,  und wenn er sich als einen solchen bewährt hatte,  mochte er's bis in sein graues Alter bleiben. Nun aber  stirbt der Alte, und warum ist sein Sohn Richter? Daß ihn der klügste und billigste Vater erzeugt hat, ist  kein Grund; denn weder Klugheit noch Billigkeit  konnte er ihm einzeugen. Noch weniger wäre der  Natur des Geschäfts nach die Nation verbunden, ihn  deshalb als solchen anzuerkennen, weil sie seinen  Vater einmal aus persönlichen Ursachen zum Richter  wählte; denn der Sohn ist nicht die Person des Vaters  Und wenn sie gar für alle ihre noch Ungeborne das  Gesetz feststellen wollte, ihn dafür erkennen zu müssen, und im Namen der Vernunft ihrer aller auf ewige  Zeiten hin den Vertrag machte, daß jeder Ungeborne  dieses Stamms der geborne Richter, Führer und Hirt  der Nation, d. i. der Tapferste, Billigste, Klügste des  ganzen Volks, sein und dafür der Geburt wegen von  jedermann erkannt werden müßte, so würde es schwer sein, einen Erbvertrag dieser Art, ich will nicht sagen  mit dem Recht, sondern nur mit der Vernunft zu reimen. Die Natur teilet ihre edelsten Gaben nicht familienweise aus, und das Recht des Blutes, nach welchem ein Ungeborner über den andern Ungebornen,  wenn beide einst geboren sein werden, durchs Recht  der Geburt zu herrschen das Recht habe, ist für mich  eine der dunkelsten Formeln der menschlichen Sprache.

Es müssen andre Gründe vorhanden sein, die die  Erbregierungen unter den Menschen einführten, und  die Geschichte verschweigt uns diese Gründe nicht.  Wer hat Deutschland, wer hat dem kultivierten Europa seine Regierungen gegeben? Der Krieg. Horden  von Barbaren überfielen den Weltteil; ihre Anführer  und Edeln teilten unter sich Länder und Menschen.  Daher entsprangen Fürstentümer und Lehne; daher  entsprang die Leibeigenschaft unterjochter Völker;  die Eroberer waren im Besitz, und was seit der Zeit in diesem Besitz verändert worden, hat abermals Revolution, Krieg, Einverständnis der Mächtigen, immer  also das Recht des Stärkern entschieden. Auf diesem  königlichen Wege geht die Geschichte fort, und Fakta der Geschichte sind nicht zu leugnen. Was brachte die Welt unter Rom, Griechenland und den Orient unter  Alexander? Was hat alle große Monarchien bis zu Sesostris und der fabelhaften Semiramis hinauf gestiftet  und wieder zertrümmert? Der Krieg. Gewaltsame Eroberungen vertraten also die Stelle des Rechts, das  nachher nur durch Verjährung oder, wie unsre Staatslehrer sagen, durch den schweigenden Kontrakt Recht ward; der schweigende Kontrakt aber ist in diesem  Fall nichts anders, als daß der Stärkere nimmt, was er  will, und der Schwächere gibt oder leidet, was er nicht ändern kann. Und so hängt das Recht der erblichen  Regierung sowie beinah jedes andern erblichen  Besitzes an einer Kette von Tradition, deren ersten  Grenzpfahl das Glück oder die Macht einschlug und  die sich hie und da mit Güte und Weisheit, meistens  aber wieder nur durch Glück oder Übermacht fortzog  Nachfolger und Erben bekamen, der Stammvater  nahm; und daß dem, der hatte, auch immer mehr gegeben ward, damit er die Fülle habe, bedarf keiner  weitern Erläuterung; es ist die natürliche Folge des  genannten ersten Besitzes der Länder und Menschen.

Man glaube nicht, daß dies etwa nur von Monarchien, als von Ungeheuern der Eroberung, gelte, die  ursprünglichen Reiche aber anders entstanden sein  könnten; denn wie in der Welt wären sie anders entstanden? Solange ein Vater über seine Familie  herrschte, war er Vater und ließ seine Söhne auch  Väter werden, über die er nur durch Rat zu vermögen  suchte. Solange mehrere Stämme aus freier Überlegung zu einem bestimmten Geschäft sich Richter und  Führer wählten, so lange waren diese Amtsführer nur  Diener des gemeinen Zweckes, bestimmte Vorsteher  der Versammlung; der Name Herr, König, eigenmächtiger, willkürlicher, erblicher Despot war Völkern dieser Verfassung etwas Unerhörtes. Entschlummerte aber die Nation und ließ ihren Vater, Führer  und Richter walten, gab Sie ihm endlich gar, schlaftrunken-dankbar, seiner Verdienste, seiner Macht, seines Reichtums oder welcher Ursachen wegen es sonst  sei, den Erbzepter in die Hand, daß er sie und ihre  Kinder wie der Hirt die Schafe weide: welch Verhältnis ließe sich hiebei denken, als Schwachheit auf der  einen, Übermacht auf der andern Seite, also das Recht des Stärkern. Wenn Nimrod Bestien tötet und nachher Menschen unterjocht, so ist er dort und hier ein Jäger. Der Anführer einer Kolonie oder Horde, dem Menschen wie Tiere folgten, bediente sich über sie gar  bald des Menschenrechts über die Tiere. So war's mit  denen, die die Nationen kultivierten: solange sie sie  kultivierten, waren sie Väter, Erzieher des Volks,  Handhaber der Gesetze zum gemeinen Besten; sobald sie eigenmächtige oder gar erbliche Regenten wurden, waren sie die Mächtigern, denen der Schwächere  diente. Oft trat ein Fuchs in die Stelle des Löwen, und so war der Fuchs der Mächtigere; denn nicht Gewalt  der Waffen allein ist Stärke; Verschlagenheit, List  und ein künstlicher Betrug tut in den meisten Fällen  mehr als jene. Kurz, der große Unterschied der Menschen an Geistes-, Glücks- und Körpergaben hat nach dem Unterschiede der Gegenden, Lebensarten und Lebensalter Unterjochungen und Despotien auf der Erde  gestiftet, die in vielen Ländern einander leider nur abgelöset haben. Kriegerische Bergvölker z. B. überschwemmten die ruhige Ebne: jene hatte das Klima,  die Not, der Mangel stark gemacht und tapfer erhalten; sie breiteten sich also als Herren der Erde aus, bis sie selbst in der mildern Gegend von Üppigkeit besiegt und von andern unterjocht wurden. So ist unsre  alte Tellus bezwungen und die Geschichte auf ihr ein  trauriges Gemälde von Menschenjagden und Eroberungen worden. Fast jede kleine Landesgrenze, jede  neue Epoche ist mit Blut der Geopferten und mit Tränen der Unterdrückten ins Buch der Zeiten verzeichnet. Die berühmtesten Namen der Welt sind Würger  des Menschengeschlechts, gekrönte oder nach Kronen ringende Henker gewesen, und was noch trauriger ist,  so standen oft die edelsten Menschen notgedrungen  auf diesem schwarzen Schaugerüst der Unterjochung  ihrer Brüder. Woher kommt's, daß die Geschichte der  Weltreiche mit so wenig vernünftigen Endresultaten  geschrieben worden? Weil, ihren größesten und meisten Begebenheiten nach, sie mit wenig vernünftigen  Endresultaten geführt ist; denn nicht Humanität, sondern Leidenschaften haben sich der Erde bemächtigt  und ihre Völker wie wilde Tiere zusammen- und gegeneinandergetrieben. Hätte es der Vorsehung gefallen, uns durch höhere Wesen regieren zu lassen, wie  anders wäre die Menschengeschichte! Nun aber waren es meistens Helden, d. i. ehrsüchtige, mit Gewalt begabte oder listige und unternehmende Menschen, die  den Faden der Begebenheiten nach Leidenschaften anspannen und, wie es das Schicksal wollte, ihn fortwebten. Wenn kein Punkt der Weltgeschichte uns die  Niedrigkeit unsres Geschlechts zeigte, so wiese es uns die Geschichte der Regierungen desselben, nach welcher unsre Erde ihrem größten Teil nach nicht Erde,  sondern Mars oder der kinderfressende Saturn heißen  sollte.

Wie nun? Sollen wir die Vorsehung darüber anklagen, daß sie die Erdstriche unsrer Kugel so ungleich  schuf und auch unter den Menschen ihre Gaben so ungleich verteilte? Die Klage wäre müßig und ungerecht; denn sie ist der augenscheinlichen Absicht unsres Geschlechts entgegen. Sollte die Erde bewohnbar  werden, so mußten Berge auf ihr sein und auf dem  Rücken derselben harte Bergvölker leben. Wenn diese sich nun niedergossen und die üppige Ebne unterjochten, so war die üppige Ebne auch meistens dieser Unterjochung wert; denn warum ließ sie sich unterjochen, warum erschlaffte sie an den Brüsten der Natur  in kindischer Üppigkeit und Torheit? Man kann es als einen Grundsatz der Geschichte annehmen, daß kein  Volk unterdrückt wird, als das sich unterdrücken lassen will, das also der Sklaverei wert ist. Nur der Feige ist ein geborner Knecht; nur der Dumme ist von der  Natur bestimmt, einem Klügern zu dienen; alsdenn ist ihm auch wohl auf seiner Stelle, und er wäre unglücklich, wenn er befehlen sollte.

Überdem ist die Ungleichheit der Menschen von  Natur nicht so groß, als sie durch die Erziehung wird,  wie die Beschaffenheit eines und desselben Volks  unter seinen mancherlei Regierungsarten zeiget. Das  edelste Volk verliert unter dem Joch des Despotismus  in kurzer Zeit seinen Adel, das Mark in seinen Gebeinen wird ihm zertreten, und da seine feinsten und  schönsten Gaben zur Lüge und zum Betrug, zur kriechenden Sklaverei und Üppigkeit gemißbraucht werden: was Wunder, daß es sich endlich an sein Joch  gewöhnet, es küsset und mit Blumen umwindet? So  beweinenswert dies Schicksal der Menschen im  Leben und in der Geschichte ist, weil es beinah keine  Nation gibt, die ohne das Wunder einer völligen Palingenesie aus dem Abgrunde einer gewonnten Sklaverei je wieder aufgestanden wäre, so ist offenbar dies Elend nicht das Werk der Natur, sondern der Menschen. Die Natur leitete das Band der Gesellschaft nur bis auf Familien; weiterhin ließ sie unserm Geschlecht die Freiheit, wie es sich einrichten, wie es  das feinste Werk seiner Kunst, den Staat, bauen wollte. Richteten sich die Menschen gut ein, so hätten  sie's gut; wählten oder duldeten sie Tyrannei und üble Regierungsformen, so mochten sie ihre Last tragen.  Die gute Mutter konnte nichts tun, als sie durch Vernunft, durch Tradition der Geschichte oder endlich  durch das eigne Gefühl des Schmerzes und Elendes  lehren. Nur also die innere Entartung des Menschengeschlechts hat den Lastern und Entartungen  menschlicher Regierung Raum gegeben; denn teilet  sich im unterdrückendsten Despotismus nicht immer  der Sklave mit seinem Herrn im Raube, und ist nicht  immer der Despot der ärgste Sklave?

Aber auch in der ärgsten Entartung verläßt die unermüdlich-gütige Mutter ihre Kinder nicht und weiß  ihnen den bittern Trank der Unterdrückung von Menschen wenigstens durch Vergessenheit und Gewohnheit zu lindern. Solange sich die Völker wachsam und in reger Kraft erhalten oder wo die Natur sie mit dem  harten Brot der Arbeit speiset, da finden keine weiche Sultane statt; das rauhe Land, die harte Lebensweise  sind ihnen der Freiheit Festung. Wo gegenteils die  Völker in ihrem weicheren Schoß entschliefen und  das Netz duldeten, das man über sie zog, siehe, da  kommt die tröstende Mutter dem Unterdrückten wenigstens durch ihre milderen Gaben zu Hülfe; denn  der Despotismus setzt immer eine Art Schwäche,  folglich mehrere Bequemlichkeit voraus, die entweder aus Gaben der Natur oder der Kunst entstanden. In  den meisten despotisch regierten Ländern nährt und  kleidet die Natur den Menschen fast ohne Mühe, daß  er sich also mit dem vorüberrasenden Orkan gleichsam nur abfinden darf und nachher zwar gedankenlos  und ohne Würde, dennoch aber nicht ganz ohne  Genuß den Atem ihrer Erquickung trinket. Überhaupt  ist das Los des Menschen und seine Bestimmung zur  irdischen Glückseligkeit weder ans Herrschen noch  ans Dienen geknüpfet. Der Arme kann glücklich, der  Sklave in Ketten kann frei sein; der Despot und sein  Werkzeug sind meistens, und oft in ganzen Geschlechtern, die unglücklichsten und unwürdigsten  Sklaven.

Da alle Sätze, die ich bisher berührt habe, aus der  Geschichte selbst ihre eigentliche Erläuterung nehmen müssen, so bleibt ihre Entwicklung auch dem Faden  derselben aufbehalten. Für jetzt sein mir noch einige  allgemeine Blicke vergönnet:

1. Ein zwar leichter, aber böser Grundsatz wäre es  zur Philosophie der Menschengeschichte: »Der  Mensch sei ein Tier, das einen Herren nötig habe und  von diesem Herren oder von einer Verbindung derselben das Glück seiner Endbestimmung erwarte.«  Kehre den Satz um: »Der Mensch, der einen Herren  nötig hat, ist ein Tier; sobald er Mensch wird, hat er  keines eigentlichen Herren mehr nötig.« Die Natur  nämlich hat unserm Geschlecht keinen Herren bezeichnet; nur tierische Laster und Leidenschaften machen uns desselben bedürftig. Das Weib bedarf eines  Mannes und der Mann des Weibes; das unerzogne  Kind hat erziehender Eltern, der Kranke des Arztes,  der Streitende des Entscheiders, der Haufe Volks  eines Anführers nötig: dies sind Naturverhältnisse,  die im Begriff der Sache liegen. Im Begriff des  Menschen liegt der Begriff eines ihm nötigen Despoten, der auch Mensch sei, nicht; jener muß erst  schwach gedacht werden, damit er eines Beschützers,  unmündig, damit er eines Vormundes, wild, damit er  eines Bezähmers, abscheulich, damit er eines Strafengels nötig habe. Alle Regierungen der Menschen sind  also nur aus Not entstanden und um dieser fortwährenden Not willen da. So wie es nun ein schlechter  Vater ist, der sein Kind erziehet, damit es, lebenslang  unmündig lebenslang eines Erziehers bedürfe; wie es  ein böser Arzt ist, der die Krankheit nährt, damit er  dem Elenden bis ins Grab hin unentbehrlich werde: so mache man die Anwendung auf die Erzieher des Menschengeschlechts, die Väter des Vaterlandes und ihre  Erzognen. Entweder müssen diese durchaus keiner  Besserung fähig sein, oder alle die Jahrtausende, seitdem Menschen regiert wurden, müßten es doch merklich gemacht haben, was aus ihnen geworden sei und  zu welchem Zweck jene sie erzogen haben. Der Verfolg dieses Werks wird solche Zwecke sehr deutlich  zeigen.

2. Die Natur erzieht Familien; der natürlichste  Staat ist also auch ein Volk, mit einem Nationalcharakter. Jahrtausendelang erhält sich dieser in ihm und  kann, wenn seinem mitgebornen Fürsten daran liegt,  am natürlichsten ausgebildet werden; denn ein Volk  ist sowohl eine Pflanze der Natur als eine Familie, nur jenes mit mehreren Zweigen. Nichts scheint also dem  Zweck der Regierungen so offenbar entgegen als die  unnatürliche Vergrößerung der Staaten, die wilde  Vermischung der Menschengattungen und Nationen  unter einen Zepter. Der Menschenzepter ist viel zu  schwach und klein, daß so widersinnige Teile in ihn  eingeimpft werden könnten; zusammengeleimt werden sie also in eine brechliche Maschine, die man  Staatsmaschine nennet, ohne inneres Leben und Sympathie der Teile gegeneinander. Reiche dieser Art, die  dem besten Monarchen den Namen Vater des Vaterlandes so schwer machen, erscheinen in der Geschichte wie jene Symbole der Monarchien im Traumbilde  des Propheten, wo sich das Löwenhaupt mit dem Drachenschweif und der Adlersflügel mit dem Bärenfuß  zu einem unpatriotischen Staatsgebilde vereinigt Wie  trojanische Rosse rücken solche Maschinen zusammen, sich einander die Unsterblichkeit verbürgend, da doch ohne Nationalcharakter kein Leben in ihnen ist  und für die Zusammengezwungenen nur der Fluch des Schicksals sie zur Unsterblichkeit verdammen könnte; denn eben die Staatskunst, die sie hervorbrachte, ist  auch die, die mit Völkern und Menschen als mit leblosen Körpern spielet. Aber die Geschichte zeigt  genugsam, daß diese Werkzeuge des menschlichen  Stolzes von Ton sind und wie aller Ton auf der Erde  zerbrechen oder zerfließen.

3. Wie bei allen Verbindungen der Menschen gemeinschaftliche Hülfe und Sicherheit der Hauptzweck ihres Bundes ist, so ist auch dem Staat keine andre als die Naturordnung die beste, daß nämlich auch in ihm  jeder das sei, wozu ihn die Natur bestellte. Sobald der Regent in die Stelle des Schöpfers treten und durch  Willkür oder Leidenschaft von seinetwegen erschaffen will, was das Geschöpf von Gottes wegen nicht sein  sollte, sobald ist dieser dem Himmel gebietende Despotismus aller Unordnung und des unvermeidlichen  Mißgeschicks Vater. Da nun alle durch Tradition festgesetzte Stände der Menschen auf gewisse Weise der  Natur entgegenarbeiten, die sich mit ihren Gaben an  keinen Stand bindet, so ist kein Wunder, daß die meisten Völker, nachdem sie allerlei Regierungsarten  durchgangen waren und die Last jeder empfunden hatten, zuletzt verzweifelnd auf die zurückkamen, die sie  ganz zu Maschinen machte, auf die despotisch -erbliche Regierung. Sie sprachen wie jener ebräische  König, als ihm drei Übel vorgelegt wurden: »Lasset  uns lieber in die Hand des Herren fallen als in die  Hand der Menschen!«, und gaben sich auf Gnade und  Ungnade der Providenz in die Arme, erwartend, wen  diese ihnen zum Regenten zusenden würde; denn die  Tyrannei der Aristokraten ist eine harte Tyrannei, und  das gebietende Volk ist ein wahrer Leviathan. Alle  christlichen Regenten nennen sich also von Gottes  Gnaden und bekennen damit, daß sie nicht durch ihr  Verdienst, das vor der Geburt auch gar nicht stattfindet, sondern durch das Gutbefinden der Vorsehung,  die sie auf dieser Stelle geboren werden ließ, zur  Krone gelangten. Das Verdienst dazu müssen sie sich  erst durch eigne Mühe erwerben, mit der sie gleichsam die Providenz zu rechtfertigen haben, daß sie sie  ihres hohen Amts würdig erkannte; denn das Amt des  Fürsten ist kein geringeres, als Gott zu sein unter den  Menschen, ein höherer Genius in einer sterblichen  Bildung. Wie Sterne glänzen die wenigen, die diesen  auszeichnenden Ruf verstanden, in der unendlich dunkeln Wolkennacht gewöhnlicher Regenten und erquicken den verlornen Wandrer auf seinem traurigen  Gange in der politischen Menschengeschichte.

O daß ein andrer Montesquieu uns den Geist der  Gesetze und Regierungen auf unsrer runden Erde nur  durch die bekanntesten Jahrhunderte zu kosten gäbe!  Nicht nach leeren Namen dreier oder vier Regierungsformen, die doch nirgend und niemals dieselben sind  oder bleiben; auch nicht nach witzigen Prinzipien des  Staats, denn kein Staat ist auf ein Wortprincipium gebauet, geschweige, daß er dasselbe in allen seinen  Ständen und Zeiten unwandelbar erhielte; auch nicht  durch zerschnittene Beispiele aus allen Nationen, Zeiten und Weltgegenden, aus denen in dieser Verwirrung der Genius unsrer Erde selbst kein Ganzes  bilden würde: sondern allein durch die philosophische, lebendige Darstellung der bürgerlichen Geschichte, in der, so einförmig sie scheinet, keine  Szene zweimal vorkommt und die das Gemälde der  Laster und Tugenden unsres Geschlechts und seiner  Regenten, nach Ort und Zeiten immer verändert und  immer dasselbe, fürchterlich-lehrreich vollendet.

 

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