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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Zehntes Buch

VII

Schluß der ältesten Schrifttradition über den Anfang der Menschengeschichte

Das Übrige, was uns diese alte Sage von Namen,  Jahren, Erfindung der Künste, Revolutionen u. f. aufbehalten hat, ist in allem die Echo einer Nationalerzählung Wir wissen nicht, wie der erste Mensch geheißen noch welche Sprache er geredet habe; denn  Adam heißt ein Erdmann, Eva eine Lebendige in der  Sprache dieses Volks: ihre Namen sind Symbole ihrer Geschichte, und jedes andre Volk nennet sie mit andern bedeutenden Namen. Die Erfindungen, auf die  hier Rücksicht genommen wird, sind nur die, die ein  Hirten- und Ackervolk des westlichern Asiens betrafen, und auch über sie gibt die Tradition abermals  nichts als Namendenkmale. Der dauernde Stamm,  heißt es, dauerte; der Besitzer besaß; um den getrauert ward, der war ermordet; in solchen Wort -Hieroglyphen ziehet sich der Stammbaum zweier Lebensarten, der Hirten und Ackerleute oder Höhlenbewohner hinunter. Die Geschichte der Sethiten und  Kainiten ist im Grunde nichts als eine Beurkundung  der zwo ältesten Lebensweisen, die die arabische  Sprache Beduinen und Kabylen nennt [178] und die sich noch jetzt im Orient mit widriger Neigung voneinander scheiden. Die Geschlechtssage eines Hirtenvolks  dieser Gegend wollte nichts anders als diese Kasten  bemerken.

Ein gleiches ist's mit der sogenannten Sündflut.  Denn so gewiß auch nach der Naturgeschichte die bewohnte Erde gewaltsam überschwemmet worden, von welcher Überschwemmung insonderheit Asien unleugbare Spuren trägt, so ist doch, was uns durch  diese Sage zukommt, nicht mehr und minder als eine  Nationalerzählung. Mit großer Vorsicht rückt der  Sammler mehrere Traditionen zusammen [179] und liefert sogar die Tageschronik, die sein Stamm von dieser fürchterlichen Revolution besaß; auch der Ton der Erzählung ist so ganz in der Denkart dieses Stammes, daß es sie mißbrauchen hieße, wenn man sie aus den  Schranken rückte, in denen sie eben ihre Glaubwürdigkeit findet. Wie sich eine Familie dieses Volks mit einem reichen Haushalt rettete, so konnten sich unter  andern Völkern auch andre Familien gerettet haben,  wie die Traditionen derselben beweisen. So rettete  sich in Chaldäa Xisuthrus mit seinem Geschlecht und  einer Anzahl von Tieren (ohne welche damals die  Menschen nicht lebten) fast auf die nämliche Weise,  und in Indien war Wischnu selbst das Steuerruder des Schiffs, das die Bekümmerten ans Land brachte. Dergleichen Sagen gibt's bei allen alten Völkern dieses  Weltteils, bei jedem nach seiner Tradition und Gegend, und so überzeugend sie sind, daß die Überschwemmung, von der sie reden, in Asien allgemein  gewesen, so helfen sie uns zugleich auf einmal aus der Enge, in die wir uns unnötig zwangen, wenn wir  jeden Umstand einer Familiengeschichte ausschließend für die Geschichte der Welt nahmen und damit  dieser Geschichte selbst ihre gegründete Glaubwürdigkeit entzogen.

Nicht anders ist's mit der Geschlechtstafel dieser  Stämme nach der Überschwemmung: sie hält sich in  den Schranken ihrer Völkerkunde und ihres Erdstrichs, über den sie nach Indien, Sina, die östliche  Tatarei u. f. nicht hinausschweifet. Die drei Hauptstämme der Geretteten sind offenbar die Völker jenseit und diesseit des westlichen asiatischen Gebirges, mit einbegriffen die obern Küsten von Afrika und die  östlichen von Europa, soweit sie dem Sammler der  Tradition bekannt waren. [180] Er leitet sie ab, so gut er kann, und sucht sie mit seiner Geschlechtstafel zu  binden, nicht aber gibt er uns damit eine allgemeine  Landkarte der Welt oder eine Genealogie aller Völker. Die vielfache Mühe, die man sich gegeben hat,  sämtliche Nationen der Erde nach diesem Stammbaum zu Abkömmlingen der Ebräer und zu Halbbrüdern der Juden zu machen, widerspricht nicht nur der  Zeitrechnung und der gesamten Völkergeschichte,  sondern dem Standpunkt dieser Erzählung selbst, die  sie durch dergleichen Übertreibungen fast ganz um  ihren Glauben gebracht hat. Allenthalben am Urgebirge der Welt bilden sich nach der Überschwemmung Völker, Sprachen und Reiche, ohne auf die Gesandtschaft einer Familie aus Chaldäa zu warten; und  im östlichen Asien, wo der Ursitz der Menschen und  also auch die stärkste Bewohnung der Welt war, sind  ja noch jetzt offenbar die ältesten Einrichtungen, die  ältesten Gebräuche und Sprachen, von denen dieser  westliche Stammbaum eines spätern Volks nichts  wußte und wissen konnte. Es ist ebenso fremde, zu  fragen, ob der Sinese von Kain oder Abel, d. i. aus  einer Troglodyten-, Hirten- oder Ackerkaste abstamme, als wo das amerikanische Faultier im Kasten Noah gehangen habe. Doch dergleichen Erläuterungen darf ich mich hier nicht überlassen; ja selbst die  Untersuchung eines für unsre Geschichte so wichtigen Punkts als die Verkürzung der menschlichen Lebensjahre und die genannte große Überschwemmung  selbst ist, muß einen andern Ort erwarten. Genug! der  feste Mittelpunkt des größesten Weltteils, das Urgebirge Asiens, hat dem Menschengeschlecht den ersten Wohnplatz bereitet und sich in allen Revolutionen der Erde fest erhalten. Mitnichten erst durch die Sündflut  aus dem Abgrunde des Meers emporgestiegen, sondern sowohl der Naturgeschichte als der ältesten  Tradition zufolge das Urland der Menschheit, ward es der erste große Schauplatz der Völker, dessen lehrreichen Anblick wir jetzt verfolgen.

 

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