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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Dritter Teil

Elftes Buch

IV

Indostan

Obgleich die Lehre der Brahmanen nichts als ein Zweig der weitverbreiteten Religion ist, die von Tibet bis Japan Sekten oder Regierungen gebildet hat, so verdienet sie doch an ihrem Geburtsort eine besondre Betrachtung, da sie an ihm die sonderbarste und vielleicht dauerndste Regierung der Welt gebildet hat: es ist die Einteilung der indischen Nation in vier oder mehrere Stämme, über welche die Brahmanen als erster Stamm herrschen. Daß sie diese Herrschaft durch leibliche Unterjochung erlangt hätten, ist nicht wahrscheinlich; sie sind nicht der kriegerische Stamm des Volks, der, den König selbst eingeschlossen, nur zunächst auf sie folgt; auch gründen sie ihr Ansehen auf keins dergleichen Mittel, selbst in der Sage. Wodurch sie über Menschen herrschen, ist ihr Ursprung, nach welchem sie sich aus dem Haupt Brahmas entsprossen schätzen, so wie die Krieger aus dessen Brust, die andern Stämme aus seinen andern Gliedern. Hierauf sind ihre Gesetze und die ganze Einrichtung der Nation gebaut, nach welcher sie als ein eingeborner Stamm, als Haupt zum Körper der Nation gehören. Abteilungen der Art nach Stämmen sind auch in andern Gegenden die einfachste Einrichtung der menschlichen Gesellschaft gewesen: sie wollte hierin der Natur folgen, welche den Baum in Äste, das Volk in Stämme und Familien abteilt. So war die Einrichtung in Ägypten, selbst wie hier mit erblichen Handwerkern und Künsten; und daß der Stamm der Weisen und Priester sich zum ersten hinaufsetzte, sehen wir bei weit mehreren Nationen. Mich dünkt, auf dieser Stufe der Kultur ist dies Natur der Sache, da Weisheit über Stärke geht und in alten Zeiten der Priesterstamm fast alle politische Weisheit sich zueignete. Nur mit der Verbreitung des Lichts unter alle Stände verliert sich das Ansehen des Priesters; daher sich auch Priester so oft einer allgemeineren Aufklärung widersetzten.

Die indische Geschichte, von der wir leider noch wenig wissen, gibt uns einen deutlichen Wink über die Entstehung der Brahmanen.189) Sie macht Brahma, einen weisen und gelehrten Mann, den Erfinder vieler Künste, insonderheit des Schreibens, zum Wesir eines ihrer alten Könige, Krischens, dessen Sohn die Einteilung seines Volks in die vier bekannten Stämme gesetzlich gemacht habe. Den Sohn des Brahma setzte er der ersten Klasse vor, zu der die Sterndeuter, Ärzte und Priester gehörten; andere vom Adel wurden zu erblichen Statthaltern der Provinz ernannt, von welchen sich die zweite Rangordnung der Indier herleitet. Die dritte Klasse sollte den Ackerbau, die vierte die Künste treiben und diese Einrichtung ewig dauern. Er erbaute den Philosophen die Stadt Bahar zu ihrer Aufnahme, und da der Sitz seines Reichs, auch die ältesten Schulen der Brahmanen vorzüglich am Ganges waren, so ergibt sich hieraus die Ursache, warum Griechen und Römer sowenig an sie gedenken. Sie kannten nämlich diese tiefen Gegenden Indiens nicht, da Herodot nur die Völker am Indus und auf der Nordseite des Goldhandels beschreibt, Alexander aber nur bis zum Hyphasis gelangte. Kein Wunder also, daß sie zuerst nur allgemein von den Brachmanen, d. i. von den einsamen Weisen, die auf Art der Talapoinen lebten, Nachricht bekamen, späterhin aber auch von den Samanäern und Germanen am Ganges, von der Einteilung des Volks in Klassen, von ihrer Lehre der Seelenwanderung u. f. dunkle Gerüchte hörten. Auch diese zerstückte Sagen indes bestätigen es, daß die Brahmaneneinrichtung alt und dem Lande am Ganges einheimisch sei, welches die sehr alten Denkmale zu Jagrenat190), Bombay und in andern Gegenden der diesseitigen Halbinsel beweisen. Sowohl die Götzen als die ganze Einrichtung dieser Götzentempel sind in der Denkart und Mythologie der Brahmanen, die sich von ihrem heiligen Ganges in Indien umher und weiter hinab verbreitet, auch je unwissender das Volk war, desto mehr Verehrung empfangen haben. Der heilige Ganges als ihr Geburtsort blieb der vornehmste Sitz ihrer Heiligtümer, ob sie gleich als Brahmanen nicht nur eine religiöse, sondern eigentlich politische Zunft sind, die, wie der Orden der Lamas, der Leviten, der ägyptischen Priester u. f., allenthalben zur uralten Reichsverfassung Indiens gehört.

Sonderbar tief ist die Einwirkung dieses Ordens Jahrtausende hin auf die Gemüter der Menschen gewesen, da nicht nur, trotz des so lange getragenen mongolischen Joches, ihr Ansehen und ihre Lehre noch unerschüttert steht, sondern diese auch in Lenkung der Hindus eine Kraft äußert, die schwerlich eine andere Religion in dem Maß erwiesen hat.191) Der Charakter, die Lebensart, die Sitten des Volks bis auf die kleinsten Verrichtungen, ja bis auf die Gedanken und Worte, ist ihr Werk; und obgleich viele Stücke der Brahmanenreligion äußerst drückend und beschwerlich sind, so bleiben sie doch, auch den niedrigsten Stämmen, wie Naturgesetze Gottes heilig. Nur Missetäter und Verworfne sind's meistens, die eine fremde Religion annehmen, oder es sind arme, verlassene Kinder: auch ist die vornehme Denkart, mit der der Indier mitten in seinem Druck unter einer oft lötenden Dürftigkeit den Europäer ansieht, dem er dient, Bürge gnug dafür, daß sich sein Volk, solange es da ist, nie mit einem andern vermischen werde. Ohne Zweifel lag dieser beispiellosen Einwirkung sowohl das Klima als der Charakter der Nation zum Grunde; denn kein Volk übertrifft dies an geduldiger Ruhe und sanfter Folgsamkeit der Seele. Daß der Indier aber in Lehren und Gebräuchen nicht jedem Fremden folgt, kommt offenbar daher, daß die Einrichtung der Brahmanen so ganz schon seine Seele, so ganz sein Leben eingenommen hat, um keiner andern mehr Platz zu geben. Daher so viele Gebräuche und Feste, so viel Götter und Märchen, so viel heilige Orter und verdienstliche Werke, damit von Kindheit auf die ganze Einbildungskraft beschäftigt und beinah in jedem Augenblick des Lebens der Indier an das, was er ist, erinnert werde. Alle europäische Einrichtungen sind gegen diese Seelenbeherrschung nur auf der Oberfläche geblieben, die, wie ich glaube, dauren kann, solang ein Indier sein wird.

Die Frage, ob etwas gut oder übel sei, ist bei allen Einrichtungen der Menschen vielseitig. Ohne Zweifel war die Einrichtung der Brahmanen, als sie gestiftet war, gut; sonst hätte sie weder den Umfang noch die Tiefe und Dauer gewonnen, in der sie dasteht. Das menschliche Gemüt entledigt sich dessen, was ihm schädlich ist, sobald es kann, und obgleich der Indier mehr zu dulden vermag als irgendein anderer, so würde er doch geradezu nicht Gift lieben. Unleugbar ist's also, daß die Brahmanen ihrem Volk eine Sanftmut, Höflichkeit, Mäßigung und Keuschheit angebildet oder es wenigstens in diesen Tugenden so bestärkt haben, daß die Europäer ihnen dagegen oft als Unreine, Trunkne und Rasende erscheinen. Ungezwungen- zierlich sind ihre Gebärden und Sprache, friedlich ihr Umgang, rein ihr Körper, einfach und harmlos ihre Lebensweise. Die Kindheit wird milde erzogen, und doch fehlt es ihnen nicht an Kenntnissen, noch minder an stillem Fleiß und fein nachahmenden Künsten; selbst die niedrigem Stämme lernen lesen, schreiben und rechnen. Da nun die Brahmanen die Erzieher der Jugend sind, so haben sie damit seit Jahrtausenden ein unverkennbares Verdienst um die Menschheit. Man merke in den Hallischen Missionsberichten auf den gesunden Verstand und den gutmütigen Charakter der Brahmanen und Malabaren sowohl in Einwürfen, Fragen und Antworten als in ihrem ganzen Betragen, und man wird sich selten auf der Seite ihrer Bekehrer finden. Die Hauptidee der Brahmanen von Gott ist so groß und schön, ihre Moral so rein und erhaben, ja selbst ihre Märchen, sobald Verstand durchblickt, sind so fein und lieblich, daß ich ihren Erfindern auch im Ungeheuern und Abenteuerlichen nicht ganz den Unsinn zutrauen kann, den wahrscheinlich nur die Zeitfolge im Munde des Pöbels darauf gehäuft. Daß trotz aller mohammedanischen und christlichen Bedrückung der Orden der Brahmanen seine künstliche, schöne Sprache192) und mit ihr einige Trümmern von alter Astronomie und Zeitrechnung, von Rechtswissenschaft und Heilkunde erhalten hat, ist auf seiner Stelle nicht ohne Wert193), denn auch die handwerksmäßige Manier, mit der sie diese Kenntnisse treiben, ist gnug zum Kreise ihres Lebens, und was der Vermehrung ihrer Wissenschaft abgeht, ersetzt die Stärke ihrer Dauer und Einwirkung. Übrigens verfolgen die Hindus nicht, sie gönnen jedem seine Religion, Lebensart und Weisheit; warum sollte man ihnen die ihrige nicht gönnen und sie bei den Irrtümern ihrer ererbten Tradition wenigstens für gute Betrogene halten? Gegen alle Sekten des Fo, die Asiens östliche Welt einnehmen, ist diese die Blüte; gelehrter, menschlicher, nützlicher, edler als alle Bonzen, Lamen und Talapoinen.

Dabei ist nicht zu bergen, daß, wie alle menschliche Verfassungen, auch diese viel Drückendes habe. Des unendlichen Zwanges nicht zu gedenken, den die Verteilung der Lebensarten unter erbliche Stämme notwendig mit sich führt, weil sie alle freie Verbesserung und Vervollkommung der Künste beinah ganz ausschließt; so ist insonderheit die Verachtung auffallend, mit der sie den niedrigsten der Stämme, die Parias, behandeln. Nicht nur zu den schlechtesten Verrichtungen ist er verdammt und vom Umgange aller andern Stämme auf ewig gesondert, er ist sogar der Menschenrechte und Religion beraubt; denn niemand darf einen Parias berühren, und sein Anblick sogar entweiht den Brahmanen. Ob man gleich mancherlei Ursachen dieser Erniedrigung, unter andern auch diese angegeben, daß die Parias eine unterjochte Nation sein mögen, so ist doch keine derselben durch die Geschichte gnugsam bewährt; wenigstens unterscheiden sie sich von den andern Hindus nicht an Bildung. Also kommt es, wie bei so vielen Dingen alter Einrichtung, auch hier auf die erste harte Stiftung an, nach der vielleicht sehr Arme oder Missetäter und Verworfne zu einer Erniedrigung bestimmt wurden, der sich die unschuldigen zahlreichen Nachkommen derselben bis zur Verwunderung willig unterwerfen. Der Fehler hierbei liegt nirgend als in der Einrichtung nach Familien, bei der doch einige auch das niedrigste Los des Lebens tragen mußten, dessen Beschwerden ihnen die angemaßte Reinigkeit der andern Stämme von Zeit zu Zeit noch mehr erschwerte. Was war nun natürlicher, als daß man es zuletzt als Strafe des Himmels ansah, ein Parias geboren zu sein und nach der Lehre der Seelenwandrung durch Verbrechen eines vorigen Lebens diese Geburt vom Schicksal verdient zu haben? überhaupt hat die Lehre der Seelenwandrung, so groß ihre Hypothese im Kopf des ersten Erfinders gewesen und so manches Gute sie der Menschlichkeit gebracht haben möge, ihr notwendig auch viel Übel bringen müssen, wie überhaupt jeder Wahn, der über die Menschheit hinausreicht. Indem sie nämlich ein falsches Mitleiden gegen alles Lebendige weckte, verminderte sie zugleich das wahre Mitgefühl mit dem Elende unseres Geschlechts, dessen Unglückliche man als Missetäter unter der Last voriger Verbrechen oder als Geprüfte unter der Hand eines Schicksals glaubte, das ihre Tugend in einem künftigen Zustande belohnen werde. Auch an den weichen Hindus hat man daher einen Mangel an Mitgefühl bemerkt, der wahrscheinlich die Folge ihrer Organisation, noch mehr aber ihrer tiefen Ergebenheit ans ewige Schicksal ist: ein Glaube, der den Menschen wie in einen Abgrund wirft und seine tätigen Empfindungen abstumpft. Das Verbrennen der Weiber auf dem Scheiterhaufen der Ehemänner gehört mit unter die barbarischen Folgen dieser Lehre; denn welche Ursachen auch die erste Einführung desselben gehabt habe, da es entweder als Nacheiferung großer Seelen oder als Strafe in den Gang der Gewohnheit gekommen sein mag, so hat unstreitig doch die Lehre der Brahmanen von jener Welt den unnatürlichen Gebrauch veredelt und die armen Schlachtopfer mit Beweggründen des künftigen Zustandes zum Tode begeistert. Freilich machte dieser grausame Gebrauch das Leben des Mannes dem Weibe teurer, indem sie auch im Tode untrennbar von ihm wurde und ohne Schmach nicht zurückbleiben konnte; war indessen das Opfer des Gewinnes wert, sobald jenes auch nur durch die schweigende Gewohnheit ein zwingendes Gesetz wurde? Endlich übergehe ich bei der Brahmaneneinrichtung den mannigfaltigen Betrug und Aberglauben, der schon dadurch unvermeidlich wurde, daß Astronomie und Zeitrechnung, Heilkunst und Religion, durch mündliche Tradition fortgepflanzt, die geheime Wissenschaft eines Stammes wurden; die verderblichere Folge fürs ganze Land war diese, daß jede Brahmanenherrschaft früher oder später ein Volk zur Unterjochung reif macht. Der Stamm der Krieger mußte bald unkriegerisch werden, da seine Bestimmung der Religion zuwider und einem edleren Stamm untergeordnet war, der alles Blutvergießen haßte. Glücklich wäre ein so friedfertiges Volk, wenn es, von Überwindern geschieden, auf einer einsamen Insel lebte; aber am Fuß jener Berge, auf welchen menschliche Raubtiere, kriegerische Mongolen, wohnen, nahe jener busenreichen Küste, an welcher geizigverschmitzte Europäer landen: arme Hindus, in längerer oder kürzerer Zeit seid ihr mit eurer friedlichen Einrichtung verloren! So ging's der indischen Verfassung; sie unterlag in- und auswärtigen Kriegen, bis endlich die europäische Schifffahrt sie unter ein Joch gebracht hat, unter dem sie mit ihrer letzten Kraft duldet.

Harter Lauf des Schicksals der Völker! Und doch ist er nichts als Naturordnung. Im schönsten, fruchtbarsten Strich der Erde mußte der Mensch früh zu feinen Begriffen, zu weiten Einbildungen über die Natur, zu sanften Sitten und einer regelmäßigen Einrichtung gelangen; aber in diesem Erdstrich mußte er sich ebensobald einer mühsamen Tätigkeit entschlagen, mithin eine Beute jedes Räubers werden, der auch dies glückliche Land suchte. Von alten Zeiten her war Handel nach Ostindien ein reicher Handel; das fleißige, gnügsame Volk gab von den Schätzen seines Weltteils zu Meer und zu Lande andern Nationen mancherlei Kostbarkeiten im Überfluß her und blieb seiner Entfernung wegen in ziemlich friedlicher Ruhe, bis endlich Europäer, denen nichts entfernt ist, kamen und sich selbst Königreiche unter ihnen schenkten. Alle Nachrichten und Waren, die sie uns daher zuführen, sind kein Ersatz für die Übel, die sie einem Volk auflegen, das gegen sie nichts verübte. Indessen ist die Kette des Schicksals dahin einmal geknüpft; das Schicksal wird sie auflösen oder weiterführen.

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