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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Dreizehntes Buch

VI

Sitten- und Staatenweisheit der Griechen

Die Sitten der Griechen waren so verschieden, als die Art ihrer Stämme, ihrer Gegenden und Lebensweise nach den Graden ihrer Kultur und einer Reihe von Glücks- und Unglücksfällen war, in welche sie der Zufall setzte. Der Arkadier und Athener, der Ionier und Epirote, der Spartaner und Sybarit waren nach Zeiten, Lage und Lebensweisen einander so unähnlich, daß mir die Kunst mangelt, ein trügerisches Gemälde von ihnen allen im ganzen zu entwerfen, dessen Züge widersprechender ausfallen müßten als das Bild jenes athenischen Demus, das Parrhasius malte [221]. Also bleibt uns nichts übrig, als den Gang zu bemerken, den im ganzen die Sittenbildung der Griechen nahm, und die Art, wie sie sich mit ihrer Staateneinrichtung gesellte.

Wie bei allen Völkern der Erde ging ihre älteste Sittenkultur vorzüglich von der Religion aus, und sie hat sich lange in diesem Gleise gehalten. Die gottesdienstlichen Gebräuche, die sich in den verschiedenen Mysterien bis auf sehr politische Zeiten fortpflanzten, jene heiligen Rechte der Gastfreiheit und des Schutzes flehender Unglücklichen, ihre Sicherheit an heiligen Ortern, der Glaube an Furien und Strafen, die auch den unvorsätzlichen Mörder Geschlechter hinab verfolgten und mit dem ungerächten Blut über ein ganzes Land den Fluch brächten, die Gebräuche der Entsündigung und Götterversöhnung, die Stimme der Orakel, die Heiligkeit des Eides, des Herdes, der Tempel, Gräber u. f. waren in Gang gebrachte Meinungen und Anstalten, die ein rohes Volk bändigen und halbwilde Menschen allmählich zur Humanität bilden sollten. [222] Daß sie ihr Geschäft glücklich bewirkt, sehen wir, wenn wir die Griechen mit andern Nationen vergleichen; denn es ist unleugbar, daß sie durch diese Anstalten nicht nur bis an die Pforte der Philosophie und politischen Kultur, sondern tief ins Heiligtum derselben geführt wurden. Das einzige Delphische Orakel, wie großen Nutzen hat es in Griechenland gestiftet! So manchen Tyrannen und Bösewicht zeichnete seine Götterstimme aus, indem sie ihm abweisend sein Schicksal sagte; nicht minder hat es viele Unglückliche gerettet, so manchen Ratlosen beraten, manche gute Anstalt mit göttlichem Ansehen bekräftigt, so manches Werk der Kunst oder der Muse, das zu ihm gelangte, bekannt gemacht und Sittensprüche sowohl als Staatsmaximen geheiligt. Die rohen Verse des Orakels haben also mehr gewirkt als die glattesten Gedichte späterer Dichter; ja den größesten Einfluß hatte es dadurch, daß es die hohen Staaten und Rechtsprecher Griechenlands, die Amphiktyonen, in seinen Schutz nahm und ihre Aussprüche gewissermaße zu Gesetzen der Religion machte. Was in spätem Jahrhunderten als ein einziges Mittel zum ewigen Frieden Europas vorgeschlagen ist, ein Gericht der Amphiktyonen [223], war bei den Griechen schon da, und zwar nahe dem Thron des Gottes der Weisheit und Wahrheit, der durch sein Ansehen es heiligen sollte.

Nebst der Religion gehören alle Gebräuche hieher, die, aus Anstalten der Väter erwachsen, ihr Andenken den Nachkommen bewahrten; sie haben auf die Sittenbildung der Griechen fortdaurend gewirkt. So z.B. gaben die mancherlei öffentlichen Spiele der griechischen Erziehung eine sehr eigentümliche Richtung, indem sie Leibesübungen zum Hauptstück derselben und die dadurch erlangten Vorzüge zum Augenmerk der ganzen Nation machten. Nie hat ein Zweig schönere Früchte getragen als der kleine Öl-, Efeu- und Fichtenzweig, der die griechischen Sieger kränzte. Er machte die Jünglinge schön, gesund, munter; ihren Gliedern gab er Gelenkigkeit, Ebenmaß und Wohlstand; in ihrer Seele fachte er die ersten Funken der Liebe für den Ruhm, selbst für den Nachruhm an und prägte ihnen die unzerstörbare Form ein, für ihre Stadt und für ihr Land öffentlich zu leben; was endlich das schätzbarste ist, er gründete in ihrem Gemüt jenen Geschmack für Männerumgang und Männerfreundschaft, der die Griechen ausnehmend unterscheidet. Nicht war das Weib in Griechenland der ganze Kampfpreis des Lebens, auf den es ein Jüngling anlegte; die schönste Helena könnte immer doch nur einen Paris bilden, wenn ihr Genuß oder Besitz das Ziel der ganzen Mannestugend wäre. Das Geschlecht der Weiber, so schöne Muster jeder Tugend es auch in Griechenland hervorgebracht hat, blieb nur ein untergeordneter Zweck des männlichen Lebens; die Gedanken edler Jünglinge gingen auf etwas Höheres hinaus: das Band der Freundschaft, das sie unter sich oder mit erfahrnen Männern knüpften, zog sie in eine Schule, die ihnen eine Aspasia schwerlich gewähren konnte. Daher in mehreren Staaten die männliche Liebe der Griechen, mit jener Nacheiferung, jenem Unterricht, jener Dauer und Aufopferung begleitet, deren Empfindungen und Folgen wir im Plato beinah wie den Roman aus einem fremden Planeten lesen. Männliche Herzen banden sich aneinander in Liebe und Freundschaft, oft bis auf den Tod: der Liebhaber verfolgte den Geliebten mit einer Art Eitersucht, die auch den kleinsten Flecken an ihm aufspähte, und der Geliebte scheute das Auge seines Liebhabers als eine läuternde Flamme der geheimesten Neigungen seiner Seele. Wie uns nun die Freundschaft der Jugend, die süßeste und keine Empfindung daurender ist als die Liebe derer, mit denen wir uns in den schönsten Jahren unserer erwachenden Kräfte auf einer Laufbahn der Vollkommenheit übten, so war den Griechen diese Laufbahn in ihren Gymnasien, bei ihren Geschäften des Krieges und der Staatsverwaltung öffentlich bestimmt und jene heilige Schar der Liebenden davon die natürliche Folge. Ich bin weit entfernt, die Sittenverderbnisse zu verhehlen, die aus dem Mißbrauch dieser Anstalten, insonderheit wo sich unbekleidete Jünglinge übten, mit der Zeit erwuchsen; allein auch dieser Mißbrauch lag leider im Charakter der Nation, deren warme Einbildungskraft, deren fast wahnsinnige Liebe für alles Schöne, in welches sie den höchsten Genuß der Götter setzten, Unordnungen solcher Art unumgänglich machte. Im geheimen geübt, würden diese nur desto verderblicher worden sein, wie die Geschichte fast aller Völker des warmen Erdstrichs oder einer üppigen Kultur beweist. Daher wurde der Flamme, die sich im Innern nährte, durch öffentliche rühmliche Zwecke und Anstalten zwar freiere Luft geschafft, sie kam damit aber auch unter die einschränkende Aufsicht der Gesetze, die sie als eine wirksame Triebfeder für den Staat brauchten.

Endlich. Da das dreifache Griechenland beider Weltteile in viele Stämme und Staaten geteilt war, so mußte die Sittenkultur, die sich hie und da erhob, jedem Stamme genetisch, mithin auf so mancherlei Weise politisch werden, daß eben dieser Umstand uns die glücklichen Fortschritte der griechischen Sittenbildung allein schon erklärt. Nur durch die leichtesten Bande einer gemeinschaftlichen Sprache und Religion, der Orakel, der Spiele, des Gerichts der Amphiktyonen u. f. oder durch Abstammung und Kolonien, endlich durch das Andenken alter gemeinschaftlichen Taten, durch Poesie und Nationalruhm waren die griechischen Staaten miteinander verbunden; weiter verband sie kein Despot; denn auch ihre gemeinschaftlichen Gefahren gingen lange Zeit glücklich vorüber. Also kam es darauf an, was aus dem Quell der Kultur jeder Stamm schöpfen, welche Bäche daraus er für sich ableiten wollte. Dies tat jeder nach Umständen seines Bedürfnisses, vorzüglich aber nach der Denkart einiger großen Männer, die ihm die bildende Natur sandte. Schon unter den Königen Griechenlandes gab es edle Söhne der alten Helden, die mit dem Wechsel der Zeit fortgingen und ihren Völkern jetzt durch gute Gesetze so nützlich wurden, wie ihre Väter es durch ruhmvolle Tapferkeit gewesen waren. So hebt sich außer den ersten Kolonienstiftern unter gesetzgebenden Königen insonderheit Minos empor, der seine kriegerischen Kretenser, die Bewohner einer Insel voller Gebirge, auch kriegerisch bildete und späterhin Lykurgs Vorbild wurde. Er war der erste, der die Seeräuber bändigte und das Ägäische Meer sicherstellte, der erste allgemeinere Sittenstifter Griechenlandes zur See und auf dem Lande. Daß er in guten Einrichtungen mehrere seinesgleichen unter den Königen hatte, zeigt die Geschichte von Athen, von Syrakus und andern Königreichen. Freilich aber nahm die Regsamkeit der Menschen in der politischen Sittenbildung einen andern Schwung, als aus den meisten griechischen Königreichen Republiken wurden: eine Revolution, die allerdings eine der merkwürdigsten ist in der gesamten Menschengeschichte. Nirgend als in Griechenland war sie möglich, wo eine Menge einzelner Völker das Andenken ihres Ursprunges und Stammes sich auch unter seinen Königen zu erhalten gewußt hatte. Jedes Volk sähe sich als einen einzelnen Staatskörper an, der gleich seinen wandernden Vorfahren sich politisch einrichten dürfe; unter den Willen einer erblichen Königsreihe sei keiner der griechischen Stämme verkauft. Nun war zwar damit noch nicht ausgemacht, daß die neue Regierung auch die bessere wäre; statt des Königes herrschten beinahe allenthalben die Vornehmsten und Mächtigern, so daß in mehreren Städten die Verwirrung größer und der Druck des Volks unleidlich wurde; indessen waren doch damit einmal die Würfel geworfen, daß Menschen, wie aus der Unmündigkeit erwacht, über ihre politische Verfassung selbst nachdenken lernten. Und so war das Zeitalter griechischer Republiken der erste Schritt zur Mündigkeit des menschlichen Geistes in der wichtigen Angelegenheit, wie Menschen von Menschen zu regieren wären. Alle Ausschweifungen und Fehltritte der Regierungsformen Griechenlandes hat man als Versuche der Jugend, anzusehen, die meistens nur durch Schaden klug werden lernt.

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