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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Vierzehntes Buch

VI

Allgemeine Betrachtungen über das Schicksal Roms und seine Geschichte

Es ist ein alter Übungsplatz der politischen Philosophie gewesen, zu untersuchen, was mehr zur Größe Roms beigetragen habe, ob seine Tapferkeit oder sein Glück. Schon Plutarch und mehrere sowohl griechische als römische Schriftsteller haben darüber ihre Meinungen gesagt, und in neuern Zeiten hat fast jeder über die Geschichte nachdenkende Geist dies Problem behandelt. Plutarch, bei allem, was er der römischen Tapferkeit zugestehen muß, läßt das Glück den Ausschlag geben und hat sich in dieser Untersuchung, wie in seinen andern Schriften, zwar als den blumenreichen, angenehmen Griechen, nicht aber eben als einen Geist bewiesen, der seinen Gegenstand vollendet. Die meisten Römer dagegen schrieben ihrer Tapferkeit alles zu, und die Philosophen späterer Zeiten ersannen sich einen Plan der Klugheit, auf welchen vom ersten Grundstein an die römische Macht bis zu ihrer größesten Erweiterung angelegt worden. Offenbar zeigt die Geschichte, daß keins dieser Systeme ausschließend, daß, genau verbunden, sie aber alle wahr sind. Tapferkeit, Glück und Klugheit mußten zusammentreten, um das auszurichten, was ausgerichtet wurde, und von Romulus' Zeiten an sehen wir diese drei Göttinnen für Rom im Bunde. Wollen wir also nach Art der Alten die ganze Zusammenfügung lebendiger Ursachen und Wirkungen Natur oder Glück nennen, so gehörte sowohl die Tapferkeit, selbst auch die grausame Härte, als die Klugheit und Arglist der Römer mit zu diesem alles lenkenden Glücke. Die Betrachtung wird immer unvollkommen bleiben, wenn man an einer dieser Eigenschaften ausschließend hängt und bei den Vortrefflichkeiten der Römer ihre Fehler und Laster, bei dem innern Charakter ihrer Taten die äußern begleitenden Umstände, endlich bei ihrem festen und großen Kriegsverstande den Zufall vergißt, den eben jener oft so glücklich nützte. Die Gänse, die das Kapitol retteten, waren ebensowohl die Schutzgötter Roms als der Mut des Camillus, das Zögern des Fabius oder ihr Jupiter Stator. In der Naturwelt gehört alles zusammen, was zusammen und ineinander wirkt, pflanzend, erhaltend oder zerstörend; in der Naturwelt der Geschichte nicht minder.

Es ist eine angenehme Übung der Gedanken, sich hie und da zu tragen, was aus Rom bei veränderten Umständen geworden wäre, z.B. wenn es anderswo gelegen, frühzeitig nach Veji versetzt, das Kapitol von Brennus erstiegen, Italien von Alexander bekriegt, die Stadt von Hannibal erobert oder der Rat, den er dem Antiochus gab, befolgt wäre. Gleichergestalt lässet sich fragen: wie statt des Augustus ein Cäsar, statt des Tibers ein Germanikus regiert hätte, welche Verfassung der Welt ohne das eindringende Christentum entstanden wäre u. f. Jede dieser Untersuchungen führt uns auf eine so genaue Zusammenkettung der Umstände, daß man Rom zuletzt nach der Weise jener Morgenländer als ein Lebendiges betrachten lernt, das nicht anders als unter solchen Umständen am Ufer der Tiber wie aus dem Meer aufsteigen, allmählich den Streit mit allen Völkern seines Weltraums zu Lande und Wasser lernen, sie unterjochen und zertreten, endlich die Grenzen seines Ruhms und den Ursprung seiner Verwesung in sich selbst finden können, als den es wirklich gefunden hat. Bei dieser Betrachtung verschwindet alle sinnlose Willkür auch aus der Geschichte. In ihr sowohl als in jeder Erzeugung der Naturreiche ist alles oder nichts Zufall, alles oder nichts Willkür. Jedes Phänomenon der Geschichte wird eine Naturerzeugung, und für den Menschen fast die betrachtenswürdigste von allen, weil dabei so viel von ihm abhangt und er selbst bei dem, was außer seinen Kräften in der großen Übermacht der Zeitumstände liegt, bei jenem unterdrückten Griechenlande, Karthago und Numantia, bei jenem ermordeten Sertorius, Spartakus und Viriathus, beim untergesunknen zweiten Pompejus, Drusus, Germanikus, Britannikus u. f., obwohl in bittern Schalen, den nutzbarsten Kern findet. Die einzige philosophische Art, eine Geschichte anzuschauen, ist diese; alle denkenden Geister haben sie auch unwissend geübt.

Nichts stünde dieser parteilosen Betrachtung mehr entgegen, als wenn man selbst der blutigen römischen Geschichte einen eingeschränkten, geheimen Plan der Vorsehung unterschieben wollte; wie wenn Rom z.B. vorzüglich deshalb zu seiner Höhe gestiegen sei, damit es Redner und Dichter erzeugen, damit es das römische Recht und die lateinische Sprache bis an die Grenzen seines Reichs ausbreiten und alle Landstraßen ebnen möchte, die christliche Religion einzuführen. Jedermann weiß, welche ungeheure Übel Rom und die Welt umher drückten, eh solche Dichter und Redner aufkommen konnten; wie teuer z.B. Sizilien des Cicero Rede gegen den Verres, wie teuer Rom und ihm selbst seine Reden gegen Catilina, seine Angriffe auf den Antonius gewesen u. f. Damit eine Perle gerettet würde, mußte also ein Schiff untergehen, und tausend Lebendige kamen um, bloß damit auf ihrer Asche einige Blumen wüchsen, die auch der Wind zerstäubet. Um eine Äneis des Virgils, um die ruhige Muse eines Horaz und seine urbanen Briefe zu erkaufen, mußten Ströme von Römerblut vorher vergossen, zahllose Völker und Reiche unterdrückt werden; waren diese schönen Früchte eines erpreßten Goldnen Alters solches Aufwandes wert? Mit dem römischen Rechte ist's nicht anders; denn wem ist unbekannt, welche Drangsale die Völker dadurch erlitten, wie manche menschlichere Einrichtung der verschiedensten Länder dadurch zerstört worden? Fremde Völker wurden nach Sitten gerichtet, die sie nicht kannten; sie wurden mit Lastern und ihren Strafen vertraut, von welchen sie nie gehört hatten; ja endlich der ganze Gang dieser Gesetzgebung, der sich nur zur Verfassung Roms schickte, hat er nicht nach tausend Unterdrückungen den Charakter aller überwundenen Nationen so verlöscht, so verderbt, daß, statt des eigentümlichen Gepräges derselben, zuletzt allenthalben nur der römische Adler erscheint, der nach ausgehackten Augen und verzehrten Eingeweiden traurige Leichname von Provinzen mit schwachen Flügeln deckte. Auch die lateinische Sprache gewann nichts durch die überwundnen Völker, und diese gewannen nichts durch jene. Sie wurde verderbt und zuletzt ein romanisches Gemisch nicht nur in den Provinzen, sondern in Rom selbst. Die schönere griechische Sprache verlor auch durch sie ihre reine Schönheit, und jene Mundarten so vieler Völker, die ihnen und uns weit nützlicher als eine verdorbne römische Sprache wären, gingen bis aufs kleinste Überbleibsel unter. Die christliche Religion endlich, so ausnehmend ich die Wohltaten verehre, die sie dem Menschengeschlecht gebracht hat, so entfernt bin ich, zu glauben, daß auch nur ein Wegstein in Rom ursprünglich ihretwegen von Menschen erhoben worden. Für sie hat Romulus seine Stadt nicht errichtet, Pompejus und Crassus sind nicht für sie durch Judäa gezogen; noch weniger sind alle jene römische Einrichtungen Europens und Asiens gemacht, damit ihr allenthalben der Weg bereitet würde. Rom nahm die christliche Religion nicht anders auf, als es den Gottesdienst der Isis und jeden verworfnen Aberglauben der östlichen Welt aufnahm; ja, es wäre gottesunwürdig, sich einzubilden, daß die Vorsehung für ihr schönstes Werk, die Fortpflanzung der Wahrheit und Tugend, keine andern Werkzeuge gewußt habe als die tyrannischen, blutigen Hände der Römer. Die christliche Religion hob sich durch eigne Kräfte, wie durch eigne Kräfte das römische Reich wuchs, und wenn beide sich zuletzt gatteten, so gewann weder die eine dadurch noch das andere. Ein römisch-christlicher Bastard entsprang, von welchem manche wünschen, daß er nie entstanden wäre.

Die Philosophie der Endzwecke hat der Naturgeschichte keinen Vorteil gebracht, sondern ihre Liebhaber vielmehr statt der Untersuchung mit scheinbarem Wahn befriedigt; wieviel mehr die tausendzweckige, ineinandergreifende Menschengeschichte!

Wir haben also auch der Meinung zu entsagen, als ob in der Fortsetzung der Zeitalter die Römer dazu gewesen sein, um, wie in einem menschlichen Gemälde, über den Griechen ein vollkommneres Glied in der Kette der Kultur zu bilden. In dem, worin die Griechen vortrefflich waren, haben die Römer sie nie übertreffen mögen; was gegenteils sie Eignes besaßen, hatten sie von den Griechen nicht gelernt.

Genutzt haben sie alle Völker, mit denen sie bekannt wurden, bis auf Indier und Troglodyten; sie nutzten sie aber als Römer, und oft ist's die Frage, ob zu ihrem Vorteil oder Schaden. Sowenig nun alle andere Nationen der Römer wegen da waren oder Jahrhunderte vorher ihre Einrichtungen für Römer machten, sowenig dürfen solches die Griechen getan haben. Athen sowohl als die italienischen Pflanzstädte gaben Gesetze für sich, nicht für sie; und wenn kein Athen gewesen wäre, so hätte Rom zu den Scythen um seine Gesetztafeln senden mögen. Auch waren in vielem Betracht die griechischen Gesetze vollkommner als die römischen, und die Mängel der letzten verbreiteten sich auf einen viel größeren Weltstrich. Wo sie etwa menschlicher wurden, waren sie es nach römischer Weise, weil es unnatürlich gewesen wäre, wenn die Überwinder so vieler gebildeten Nationen nicht auch wenigstens den Schein der Menschlichkeit hätten lernen sollen, mit dem sie oft die Völker betrogen.

Also bliebe nichts übrig, als daß die Vorsehung den römischen Staat und die lateinische Sprache als eine Brücke aufgestellt habe, auf welcher von den Schätzen der Vorwelt auch etwas zu uns gelangen möchte. Die Brücke wäre die schlechtste, die gewählt werden konnte; denn eben ihre Errichtung hat uns das meiste geraubet. Die Römer zerstörten und wurden zerstört; Zerstörer aber sind keine Erhalter der Welt. Sie wiegelten alle Völker auf, bis sie zuletzt die Beute derselben wurden, und die Vorsehung tat ihrethalben kein Wunder. Lasst uns also auch diese, wie jede andere Naturerscheinung, deren Ursachen und Folgen man frei erforschen will, ohne untergeschobnen Plan betrachten. Die Römer waren und wurden, was sie werden konnten; alles ging unter oder erhielt sich an ihnen, was untergehen oder sich erhalten mochte. Die Zeiten rollen fort und mit ihnen das Kind der Zeiten, die vielgestaltige Menschheit. Alles hat auf der Erde geblüht, was blühen konnte, jedes zu seiner Zeit und in seinem Kreise; es ist abgeblüht und wird wieder blühen, wenn seine Zeit kommt. Das Werk der Vorsehung geht nach allgemeinen großen Gesetzen in seinem ewigen Gange fort, welcher Betrachtung wir uns jetzt mit bescheidenem Schritt nähern.

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