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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünfzehntes Buch

Fünfzehntes Buch

»Vorübergehend ist also alles in der Geschichte;  die Aufschrift ihres Tempels heißt: Nichtigkeit und  Verwesung. Wir treten den Staub unsrer Vorfahren  und wandeln auf dem eingesunknen Schutt zerstörter  Menschenverfassungen und Königreiche. Wie Schatten gingen uns Ägypten, Persien, Griechenland, Rom  vorüber, wie Schatten steigen sie aus den Gräbern  hervor und zeigen sich in der Geschichte.

Und wenn irgendein Staatsgebäude sich selbst  überlebte, wer wünscht ihm nicht einen ruhigen Hingang? Wer fühlt nicht Schauder, wenn er im Kreise  lebendig wirkender Wesen auf Totengewölbe alter  Einrichtungen stößt, die den Lebendigen Licht und  Wohnung rauben? Und wie bald, wenn der Nachfolger diese Katakomben hinwegräumt, werden auch  seine Einrichtungen dem Nachfolger gleiche Grabgewölbe dünken und von ihm unter die Erde gesandt  werden.

Die Ursache dieser Vergänglichkeit aller irdischen  Dinge liegt in ihrem Wesen, in dem Ort, den sie bewohnen, in dem ganzen Gesetz, das unsre Natur bindet. Der Leib der Menschen ist eine zerbrechliche,  immer verneuete Hülle, die endlich sich nicht mehr  erneuen kann; ihr Geist aber wirkt auf Erden nur in  und mit dem Leibe. Wir dünken uns selbständig und  hangen von allem in der Natur ab; in eine Kette wandelbarer Dinge verflochten, müssen auch wir den Gesetzen ihres Kreislaufs folgen, die keine andre sind als Entstehen, Sein und Verschwinden. Ein loser Faden  knüpft das Geschlecht der Menschen, der jeden Augenblick reißt, um von neuem geknüpft zu werden.  Der klug gewordene Greis geht unter die Erde, damit  sein Nachfolger ebenfalls wie ein Kind beginne, die  Werke seines Vorgängers vielleicht als ein Tor zerstöre und dem Nachfolger dieselbe nichtige Mühe  überlasse, mit der auch er sein Leben verzehret. So  ketten sich Tage, so ketten Geschlechter und Reiche  sich aneinander. Die Sonne geht unter, damit Nacht  werde und Menschen sich über eine neue Morgenröte  freuen mögen.

Und wenn bei diesem allen nur noch einiger Fortgang merklich wäre? Wo zeigt dieser sich aber in der  Geschichte? Allenthalben siehet man in ihr Zerstörung, ohne wahrzunehmen, daß das Erneuete besser  als das Zerstörte werde. Die Nationen blühen auf und  ab; meine abgeblühete Nation kommt keine junge, geschweige eine schönere Blüte wieder. Die Kultur  rückt fort, sie wird aber damit nicht vollkommener;  am neuen Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt; die alten des alten Orts gingen unwiederbringlich unter.  Waren die Römer weiser und glücklicher, als es die  Griechen waren? Und sind wir's mehr als beide? Die Natur des Menschen bleibt immer dieselbe: im  zehntausendsten Jahr der Welt wird er mit Leidenschaften geboren, wie er im zweiten derselben mit  Leidenschaften geboren ward, und durchläuft den  Gang seiner Torheiten zu einer späten, unvollkommenen, nutzlosen Weisheit. Wir gehen in einem Labyrinth umher, in welchem unser Leben nur eine Spanne abschneidet; daher es uns fast gleichgültig sein kann,  ob der Irrweg Entwurf und Ausgang habe.

Trauriges Schicksal des Menschengeschlechts, das  mit allen seinen Bemühungen an Ixions Rad, an Sisyphus' Stein gefesselt und zu einem tantalischen Sehnen verdammt ist. Wir müssen wollen, wir müssen  streben, ohne daß wir je die Frucht unsrer Mühe vollendet sähen oder aus der ganzen Geschichte ein Resultat menschlicher Bestrebungen lernten. Stehet ein  Volk allein da, so nutzt sich sein Gepräge unter der  Hand der Zeit ab; kommt es mit andern ins Gedränge, so wird es in den schmelzenden Tiegel geworfen, in  welchem sich die Gestalt desselben gleichfalls verlieret. So bauen wir aufs Eis, so schreiben wir in die  Welle des Meers; die Welle verrauscht, das Eis zerschmilzt, und hin ist unser Planet wie unsre Gedanken.

Wozu also die unselige Mühe, die Gott dem Menschengeschlecht in seinem kurzen Leben zum  Tagwerk gab? Wozu die Last, unter der sich jeder  zum Grabe hinabarbeitet? Und niemand wurde gefragt, ob er sie über sich nehmen, ob er auf dieser  Stelle, zu dieser Zeit, in diesem Kreise geboren sein  wollte. Ja, da das meiste übel der Menschen von  ihnen selbst, von ihrer schlechten Verfassung und Regierung, vom Trotz der Unterdrücker und von einer  beinah unvermeidlichen Schwachheit der Beherrscher  und der Beherrschten herrühret: welch ein Schicksal  war's, das den Menschen unter das Joch seines eignen Geschlechts, unter die schwache oder tolle Willkür  seiner Brüder verkaufte? Man rechne die Zeitalter des  Glückes und Unglücks der Völker, ihrer guten und  bösen Regenten, ja auch bei den besten derselben die  Summe ihrer Weisheit und Torheit, ihrer Vernunft  und Leidenschaft zusammen: welche ungeheure Negative wird man zusammenzählen! Betrachte die Despoten Asiens, Afrikas, ja beinahe der ganzen Erdrunde;  siehe jene Ungeheuer auf dem römischen Thron, unter denen Jahrhunderte hin eine Welt litt; zähle die Verwirrungen und Kriege, die Unterdrückungen und leidenschaftlichen Tumulte zusammen und bemerke  überall den Ausgang. Ein Brutus sinkt, und Antonius  triumphieret; Germanikus geht unter, und Tiberius,  Caligula, Nero herrschen; Aristides wird verbannt,  Konfuzius fliehet umher, Sokrates, Phocion, Seneka  sterben. Freilich ist hier allenthalben der Salz  kenntlich: 'Was ist, das ist; was werden kann, wird;  was untergehen kann, geht unter'; aber ein trauriges  Anerkenntnis, das uns allenthalben nichts als den  zweiten Satz predigt, daß auf unsrer Erde wilde  Macht und ihre Schwester, die boshafte List, siege.«

So zweifelt und verzweifelt der Mensch, allerdings  nach vielen scheinbaren Erfahrungen der Geschichte,  ja gewissermaße hat diese traurige Klage die ganze  Oberfläche der Weltbegebenheiten für sich; daher mir mehrere bekannt sind, die auf dem wüsten Ozean der  Menschengeschichte den Gott zu verlieren glaubten,  den sie auf dem festen Lande der Naturforschung in  jedem Grashalm und Staubkorn mit Geistesaugen  sahn und mit vollem Herzen verehrten. Im Tempel der Weltschöpfung erschien ihnen alles voll Allmacht und gütiger Weisheit; auf dem Markt menschlicher Handlungen hingegen, zu welchem doch auch unsre Lebenszeit berechnet worden, sahen sie nichts als einen  Kampfplatz sinnloser Leidenschaften, wilder Kräfte,  zerstörender Künste ohne eine fortgehende gütige Absicht. Die Geschichte ward ihnen wie ein Spinnengewebe im Winkel des Weltbaus, das in seinen verschlungenen Fäden zwar des verdorreten Raubes  genug, nirgend aber einmal seinen traurigen Mittelpunkt, die webende Spinne selbst, zeiget.

Ist indessen ein Gott in der Natur, so ist er auch in  der Geschichte; denn auch der Mensch ist ein Teil der  Schöpfung und muß in seinen wildesten Ausschweifungen und Leidenschaften Gesetze befolgen, die  nicht minder schön und vortrefflich sind als jene, nach welchen sich alle Himmels- und Erdkörper bewegen.  Da ich nun überzeugt bin, daß, was der Mensch wissen muß, er auch wissen könne und dürfe, so gehe ich aus dem Gewühl der Szenen, die wir bisher durchwandert haben, zuversichtlich und frei den hohen und  schönen Naturgesetzen entgegen, denen auch sie folgen.

 

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