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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Siebzehntes Buch

I

Ursprung des Christentums samt den Grundsätzen, die in ihm lagen

So sonderbar es scheint, daß eine Revolution, die mehr als einen Weltteil der Erde betrat, aus dem verachteten Judäa hervorgegangen, so finden sich doch, bei näherer Ansicht, hiezu historische Gründe. Die Revolution nämlich, die von hier ausging, war geistig, und so verächtlich Griechen und Römer von den Juden denken mochten, so blieb es ihnen doch eigen, daß sie vor andern Völkern Asiens und Europens aus alter Zeit Schriften besaßen, auf welche ihre Verfassung gebaut war und an welchen sich, dieser Konstitution zufolge, eine besondre Art Wissenschaft und Literatur ausbilden mußte. Weder Griechen noch Römer besaßen einen solchen Kodex religiöser und politischer Einrichtung, der, mit altern geschriebenen Geschlechtsurkunden verknüpft, einem eignen zahlreichen Stamm anvertraut war und von ihm mit abergläubischer Verehrung aufbehalten wurde. Notwendig erzeugte sich aus diesem verjährten Buchstaben mit der Zeitfolge eine Art feineren Sinnes, zu welchem die Juden bei ihrer öftern Zerstreuung unter andere Völker gewöhnt wurden. Im Kanon ihrer heiligen Schriften fanden sich Lieder, moralische Sprüche und erhabene Reden, die, zu verschiedenen Zeiten nach den verschiedensten Anlässen geschrieben, in eine Sammlung zusammenwuchsen, welche man bald als ein fortgehendes System betrachtete und aus ihr einen Hauptsinn zog. Die Propheten dieser Nation, die als konstituierte Wächter des Landesgesetzes, jeder im Umkreise seiner Denkart, bald lehrend und ermunternd, bald warnend oder tröstend, immer aber patriotisch hoffend, dem Volk ein Gemälde hingestellt hatten, wie es sein sollte und wie es nicht war, hatten mit diesen Früchten ihres Geistes und Herzens der Nachwelt mancherlei Samenkörner zu neuen Ideen nachgelassen, die jeder nach seiner Art erziehen konnte. Aus allen hatte sich nach und nach das System von Hoffnungen eines Königes gebildet, der sein verfallenes, dienstbares Volk retten, ihm, mehr als seine alten größesten Könige, goldene Zeiten verschaffen und eine neue Einrichtung der Dinge beginnen sollte. Nach der Sprache der Propheten waren diese Aussichten theokratisch; mit gesammelten Kennzeichen eines Messias wurden sie zum lebhaften Ideal ausgebildet und als Brief und Siegel der Nation betrachtet. In Judäa hielt das wachsende Elend des Volkes diese Bilder fest; in andern Ländern, z.B. in Ägypten, wo seit dem Verfall der Monarchie Alexanders viele Juden wohnhaft waren, bildeten sich diese Ideen mehr nach griechischer Weise aus: apokryphische Bücher, die jene Weissagungen neu darstellten, gingen umher; und jetzt war die Zeit da, die diesen Träumereien auf ihrem Gipfel ein Ende machen sollte. Es erschien ein Mann aus dem Volk, dessen Geist, über Hirngespinste irdischer Hoheit erhaben, alle Hoffnungen, Wünsche und Weissagungen der Propheten zur Anlage eines idealischen Reichs vereinigte, das nichts weniger als ein jüdisches Himmelreich sein sollte. Selbst den nahen Umsturz seiner Nation sähe er in diesem hohem Plan voraus und weissagte ihrem prächtigen Tempel, ihrem ganzen zum Aberglauben gewordnen Gottesdienst ein schnelles trauriges Ende. Unter alle Völker sollte das Reich Gottes kommen, und das Volk, das solches eigentümlich zu besitzen glaubte, wurde von ihm als ein verlebter Leichnam betrachtet.

Welche umfassende Stärke der Seele dazu gehört habe, im damaligen Judäa etwas der Art anzuerkennen und vorzutragen, ist aus der unfreundlichen Aufnahme sichtbar, die diese Lehre bei den Obern und Weisen des Volks fand: man sähe sie als einen Aufruhr gegen Gott und Moses, als ein Verbrechen der beleidigten Nation an, deren gesamte Hoffnungen sie unpatriotisch zerstörte. Auch den Aposteln war der Exjudaismus des Christentums die schwerste Lehre, und sie den christlichen Juden, selbst außerhalb Judäa, begreiflich zu machen, hatte der gelehrteste der Apostel, Paulus, alle Deutungen jüdischer Dialektik nötig. Gut, daß die Vorsehung selbst den Ausschlag gab und daß mit dem Untergange Judäas die alten Mauern gestürzt wurden, durch welche sich mit unverweichlicher Härte dies sogenannte einzige Volk Gottes von allen Völkern der Erde schied. Die Zeit der einzelnen Nationalgottesdienste voll Stolzes und Aberglaubens war vorüber; denn so notwendig dergleichen Einrichtungen in altern Zeiten gewesen sein mochten, als jede Nation, in einem engen Familienkreise erzogen, gleich einer vollen Traube auf ihrer eignen Staude wuchs, so war doch, seit Jahrhunderten schon, in diesem Erdstrich fast alle menschliche Bemühung dahin gegangen, durch Kriege, Handel, Künste, Wissenschaften und Umgang die Völker zu knüpfen und die Früchte eines Jeden zu einem gemeinsamen Trank zu keltern. Vorurteile der Nationalreligionen standen dieser Vereinigung am meisten im Wege; da nun, beim allgemeinen Duldungsgeist der Römer in ihrem weiten Reich und bei der allenthalben verbreiteten eklektischen Philosophie (dieser sonderbaren Vermischung aller Schulen und Sekten), jetzt noch ein Volksglaube hervortrat, der alle Völker zu einem Volk machte und gerade aus der hartsinnigen Nation kam, welche sich sonst für die erste und einzige unter allen Nationen gehalten hatte, so war dies allerdings ein großer, zugleich auch ein gefährlicher Schritt in der Geschichte der Menschheit, je nachdem er getan wurde. Er machte alle Völker zu Brüdern, indem er sie einen Gott und Heiland kennen lehrte; er konnte sie aber auch zu Sklaven machen, sobald er ihnen diese Religion als Joch und Kette aufdrang. Die Schlüssel des Himmelreichs für diese und jene Welt konnten in den Händen anderer Nationen ein gefährlicherer Pharisäismus werden, als sie es in den Händen der Juden je gewesen waren.

Am meisten trug zur schnellen und starken Wurzelung des Christentums ein Glaube bei, der sich vom Stifter der Religion selbst herschrieb; es war die Meinung von seiner baldigen Rückkunft und der Offenbarung seines Reichs auf Erden. Jesus hatte mit diesem Glauben vor seinem Richter gestanden und ihn in den letzten Tagen seines Lebens oft wiederholt; an ihn hielten sich seine Bekenner und hofften auf die Erscheinung seines Reiches. Geistige Christen dachten sich daran ein geistiges, fleischliche ein fleischliches Reich, und da die hochgespannte Einbildungskraft jener Gegenden und Zeiten nicht eben übersinnlich idealisierte, so entstanden jüdisch-christliche Apokalypsen, voll von mancherlei Weissagungen, Kennzeichen und Träumen. Erst sollte der Antichrist gestürzt werden, und als Christus wiederzukommen säumte, sollte jener sich erst offenbaren, sodann zunehmen und in seinen Greueln aufs höchste wachsen, bis die Errettung einbräche und der Wiederkommende sein Volk erquickte. Es ist nicht zu leugnen, daß Hoffnungen dieser Art zu mancher Verfolgung der ersten Christen Anlaß geben mußten; denn der Weltbeherrscherin Rom konnte es unmöglich gleichgültig sein, daß dergleichen Meinungen von ihrem nahen Untergange, von ihrer antichristisch-abscheulichen oder verachtenswerten Gestalt geglaubt wurden. Bald also wurden solche Propheten als unpatriotische Vaterlandes- und Weltverächter, ja als des allgemeinen Menschenhasses überführte Verbrecher betrachtet, und mancher, der den Wiederkommenden nicht erwarten konnte, lief selbst dem Märtyrertum entgegen. Indessen ist's ebenso gewiß, daß diese Hoffnung eines nahen Reiches Christi im Himmel oder auf Erden die Gemüter stark aneinander band und von der Welt abschloß. Sie verachteten diese als eine, die im argen liegt, und sahen, was ihnen so nahe war, schon vor und um sich. Dies stärkte ihren Mut, das zu überwinden, was niemand sonst überwinden konnte, den Geist der Zeit, die Macht der Verfolger, den Spott der Ungläubigen; sie weilten als Fremdlinge hier und lebten da, wohin ihr Führer vorangegangen war und von dannen er sich bald offenbaren würde.

Außer den angeführten Hauptmomenten der Geschichte scheint es nötig, einige nähere Züge zu bemerken, die zum Bau der Christenheit nicht weniges beitrugen.

1. Die menschenfreundliche Denkart Christi hatte brüderliche Eintracht und Verzeihung, tätige Hülfe gegen die Notleidenden und Armen, kurz, jede Pflicht der Menschheit zum gemeinschaftlichen Bande seiner Anhänger gemacht, so daß das Christentum demnach ein echter Bund der Freundschaft und Bruderliebe sein sollte. Es ist kein Zweifel, daß diese Triebfeder der Humanität zur Aufnahme und Ausbreitung desselben, wie allezeit, so insonderheit anfangs viel beigetragen habe. Arme und Notleidende, Gedrückte, Knechte und Sklaven, Zöllner und Sünder schlugen sich zu ihm; daher die ersten Gemeinen des Christentums von den Heiden Versammlungen der Bettler genannt wurden. Da nun die neue Religion den Unterschied der Stände nach der damaligen Weltverfassung weder aufheben konnte noch wollte, so blieb ihr nichts als die christliche Milde begüterter Seelen übrig, mit allem dem Unkraut, was auf diesem guten Acker mitsproßte. Reiche Witwen vermochten mit ihren Geschenken bald so viel, daß sich ein Haufe von Bettlern zu ihnen hielt und bei gegebnem Anlaß auch wohl die Ruhe ganzer Gemeinen störte. Es konnte nicht fehlen, daß auf der einen Seite Almosen als die wahren Schätze des Himmelreichs angepriesen, auf der andern gesucht wurden; und in beiden Fällen wich bei niedrigen Schmeicheleien nicht nur jener edle Stolz, der Sohn unabhängiger Würde und eines eignen, nützlichen Fleißes, sondern auch oft Unparteilichkeit und Wahrheit. Märtyrer bekamen die Almosenkasse der Gemeine zu ihrem Gemeingut; Schenkungen an die Gemeine wurden zum Geist des Christentums erhoben und die Sittenlehre desselben durch die übertriebenen Lobsprüche dieser Guttaten verderbt. Ob nun wohl die Not der Zeiten auch hiebei manches entschuldigt, so bleibt es dennoch gewiß, daß, wenn man die menschliche Gesellschaft nur als ein großes Hospital und das Christentum als die gemeine Almosenkasse desselben betrachtet, in Ansehung der Moral und Politik zuletzt ein sehr böser Zustand daraus erwachse.

2. Das Christentum sollte eine Gemeine sein, die ohne weltlichen Arm von Vorstehern und Lehrern regiert würde. Als Hirten sollten diese der Herde vorstehen, ihre Streitigkeiten schlichten, ihre Fehler mit Ernst und Liebe bessern und sie durch Rat, Ansehen, Lehre und Beispiel zum Himmel führen. Ein edles Amt, wenn es würdig verwaltet wird und verwaltet zu werden Raum hat; denn es zerknickt den Stachel der Gesetze, rottet aus die Dornen der Streitigkeiten und Rechte und vereinigt den Seelsorger, Richter und Vater. Wie aber, wenn in der Zeitfolge die Hirten ihre menschliche Herde als wahre Schafe behandelten oder sie gar als lastbare Tiere zu Disteln führten? Oder wenn statt der Hirten rechtmäßig berufene Wölfe unter die Herde kamen? Unmündige Folgsamkeit wurde also gar bald eine christliche Tugend; es wurde eine christliche Tugend, den Gebrauch seiner Vernunft aufzugeben und statt eigner Überzeugung dem Ansehen einer fremden Meinung zu folgen, da ja der Bischof an der Stelle eines Apostels Botschafter, Zeuge, Lehrer, Ausleger, Richter und Entscheider war. Nichts wurde jetzt so hoch angerechnet als das Glauben, das geduldige Folgen; eigne Meinungen wurden halsstarrige Ketzereien, und diese sonderten ab vom Reich Gottes und der Kirche. Bischöfe und ihre Diener mischten sich, der Lehre Christi zuwider, in Familienzwiste, in bürgerliche Händel; bald gerieten sie in Streit untereinander, wer über den andern richten solle. Daher das Drängen nach vorzüglichen Bischofsstellen und die allmähliche Erweiterung ihrer Rechte; daher endlich der endlose Zwist zwischen dem geraden und krummen Stabe, dem rechten und linken Arm, der Krone und Mitra. So gewiß es nun ist, daß in den Zeiten der Tyrannei gerechte und fromme Schiedsrichter der Menschheit, die das Unglück hatte, ohne politische Konstitution zu leben, eine unentbehrliche Hülfe gewesen, so ist auch in der Geschichte kaum ein größeres Ärgernis denkbar als der lange Streit zwischen dem geist- und weltlichen Arm, über welchem ein Jahrtausend hin Europa zu keiner Konsistenz kommen konnte. Hier war das Salz tumm; dort wollte es zu. schart salzen.

3. Das Christentum hatte eine Bekenntnisformel, mit welcher man zu ihm bei der Taufe eintrat; so einfach diese war, so sind mit der Zeit aus den drei unschuldigen Worten, Vater, Sohn und Geist, so viele Unruhen, Verfolgungen und Ärgernisse hervorgegangen als schwerlich aus drei andern Worten der menschlichen Sprache. Je mehr man vom Institut des Christentums als von einer tätigen, zum Wohl der Menschen gestifteten Anstalt abkam, desto mehr spekulierte man jenseit der Grenzen des menschlichen Verstandes; man fand Geheimnisse und machte endlich den ganzen Unterricht der christlichen Lehre zum Geheimnis. Nachdem die Bücher des Neuen Testaments als Kanon in die Kirche eingeführt wurden, bewies man aus ihnen, ja gar aus Büchern der jüdischen Verfassung, die man selten in der Ursprache lesen konnte und von deren erstem Sinn man längst abgekommen war, was sich schwerlich aus ihnen beweisen ließ. Damit häuften sich Ketzereien und Systeme, denen zu entkommen man das schlimmste Mittel wählte: Kirchenversammlungen und Synoden. Wie viele derselben sind eine Schande des Christentums und des gesunden Verstandes! Stolz und Unduldsamkeit riefen sie zusammen, Zwietracht, Parteilichkeit, Grobheit und Bübereien herrschten auf denselben, und zuletzt waren es Übermacht, Willkür, Trotz, Kuppelei, Betrug oder ein Zufall, die unter dem Namen des H. Geistes für die ganze Kirche, ja für Zeit und Ewigkeit entschieden. Bald fühlte sich niemand geschickter, Glaubenslehren zu bestimmen, als die christianisierten Kaiser, denen Konstantin das angeborne Erbrecht nachließ, über Vater, Sohn und Geist, über homoousios und homoiousios über eine oder zwei Naturen Christi, über Maria, die Gottesgebärerin, den erschaffenen oder unerschaffenen Glanz bei der Taufe Christi, Symbole und Kanons anzubefehlen. Ewig werden diese Anmaßungen samt den Folgen, die daraus erwuchsen, eine Schande des Throns zu Konstantinopel und aller der Throne bleiben, die ihm hierin nachfolgten; denn mit ihrer unwissenden Macht unterstützten und verewigten sie Verfolgungen, Spaltungen und Unruhen, die weder dem Geist noch der Moralität der Menschen aufhalfen, vielmehr Kirche, Staat und ihre Thronen selbst untergruben. Die Geschichte des ersten christlichen Reichs, des Kaisertunis zu Konstantinopel, ist ein so trauriger Schauplatz niedriger Verrätereien und abscheulicher Greueltaten, daß sie bis zu ihrem schrecklichen Ausgange als ein warnendes Vorbild aller christlich- polemischen Regierungen dasteht.

4. Das Christentum bekam heilige Schriften, die, einesteils aus gelegentlichen Sendschreiben, andernteils, wenige ausgenommen, aus mündlichen Erzählungen erwachsen, mit der Zeit zum Richtmaß des Glaubens, bald aber auch zum Panier aller streitenden Parteien gemacht und auf jede ersinnliche Weise gemißbraucht wurden. Entweder bewies jede Partei daraus, was sie erweisen wollte, oder man scheute sich nicht, sie zu verstümmeln und im Namen der Apostel falsche Evangelien, Briefe und Offenbarungen mit frecher Stirn unterzuschieben. Der fromme Betrug, der in Sachen dieser Art abscheulicher als Meineid ist, weil er ganze Reihen von Geschlechtern und Zeiten ins Unermeßliche hin belüget, war bald keine Sünde mehr, sondern zur Ehre Gottes und zum Heil der Seelen ein Verdienst. Daher die vielen untergeschobenen Schriften der Apostel und Kirchenväter; daher die zahlreichen Erdichtungen von Wundern, Märtyrern, Schenkungen, Konstitutionen und Dekreten, deren Unsicherheit durch alle Jahrhunderte der altern und mittlern Christengeschichte, fast bis zur Reformation hinauf, wie ein Dieb in der Nacht fortschleicht. Nachdem einmal das böse Principium angenommen war, daß man zum Nutzen der Kirche Untreue begehen, Lügen erfinden, Dichtungen schreiben dörfe, so war der historische Glaube verletzt; Zunge, Feder, Gedächtnis und Einbildungskraft der Menschen hatten ihre Regel und Richtschnur verloren, so daß statt der griechischen und punischen Treue wohl mit mehrerem Rechte die christliche Glaubwürdigkeit genannt werden möchte. Und um so unangenehmer fällt dieses ins Auge, da die Epoche des Christentums sich einem Zeitalter der trefflichsten Geschichtschreiber Griechenlandes und Roms anschließt, hinter welchen in der christlichen Ära sich auf einmal, lange Jahrhunderte hin, die wahre Geschichte beinahe ganz verliert. Schnell sinkt sie zur Bischofs-, Kirchen- und Mönchschronik hinunter, weil man nicht mehr für die Würdigsten der Menschheit, nicht mehr für Welt und Staat, sondern für die Kirche oder gar für Orden, Kloster und Sekte schrieb und, da man sich ans Predigen gewöhnt hatte und das Volk dem Bischöfe alles glauben mußte, man auch schreibend die ganze Welt für ein glaubendes Volk, für eine christliche Herde ansah.

5. Das Christentum hatte nur zwei sehr einfache und zweckmäßige heilige Gebräuche, weil es mit ihm nach seines Stifters Absicht auf nichts weniger als auf einen Cerimoniendienst angesehen sein sollte. Bald aber mischte sich, nach Verschiedenheit der Länder, Provinzen und Zeiten, das Afterchristentum dergestalt mit jüdisch- und heidnischen Gebräuchen, daß z.B. die Taufe der Unschuldigen zur Teufelbeschwörung und das Gedächtnismahl eines scheidenden Freundes zur Schaffung eines Gottes, zum unblutigen Opfer, zum sündenvergebenden Mirakel, zum Reisegeld in die andere Welt gemacht wurde. Unglückseligerweise trafen die christlichen Jahrhunderte mit Unwissenheit, Barbarei und der wahren Epoche des Übeln Geschmacks zusammen, also daß auch in seine Gebräuche, in den Bau seiner Kirchen, in die Einrichtung seiner Feste, Satzungen und Prachtanstalten, in seine Gesänge, Gebete und Formeln wenig wahres Großes und Edles kommen konnte. Von Land zu Lande, von einem zum andern Weltteil wälzten sich diese Cerimonien fort; was ursprünglich einer allen Gewohnheit wegen noch einigen Lokalsinn gehabt hatte, verlor denselben in fremden Gegenden und Zeiten; so wurde der christliche Liturgiengeist ein seltsames Gemisch von jüdisch -ägyptisch-griechisch-römisch-barbarischen Gebräuchen, in denen oft das Ernsthafteste langweilig oder gar lächerlich sein mußte. Eine Geschichte des christlichen Geschmacks in Festen, Tempeln, Formeln, Einweihungen und Komposition der Schriften, mit philosophischem Auge betrachtet, würde das bunteste Gemälde werden, das über eine Sache, die keine Cerimonien haben sollte, je die Welt sah. Und da dieser christliche Geschmack sich mit der Zeit in Gerichtslind Staatsgebräuche, in die häusliche Einrichtung, in Schauspiele, Romane, Tänze, Lieder, Wettkämpfe, Wappen, Schlachten, Sieges- und andere Lustbarkeiten gemischt hat, so muß man bekennen, daß der menschliche Geist damit eine unglaublich schiefe Form erhalten und daß das Kreuz, das über die Nationen errichtet war, sich auch den Stirnen derselben sonderbar eingeprägt habe. Die pisciculi Christiani schwammen jahrhundertelang in einem trüben Elemente.

6. Christus lebte ehelos, und seine Mutter war eine Jungfrau; so heiter und fröhlich er war, liebte er zuweilen die Einsamkeit und tat stille Gebete. Der Geist der Morgenländer, am meisten der Ägypter, der ohnedem zu Anschauungen, Absonderungen und einer heiligen Trägheit geneigt war, übertrieb die Ideen von Heiligkeit des ehelosen Lebens, insonderheit im Priesterstande, vom Gottgefälligen der Jungfrauschaft, der Einsamkeit und des beschauenden Lebens dermaßen, daß, da schon vorher, insonderheit in Ägypten, Essäer, Therapeuten und andere Sonderlinge geschwärmt hatten, nunmehr durchs Christentum der Geist der Einsiedeleien, der Gelübde, des Fastens, Büßens, Betens, endlich des Klosterlebens in volle Gärung kam. In andern Ländern nahm er zwar andere Gestalt an, und nachdem er eingerichtet war, brachte er Nutzen oder Schaden; im ganzen aber ist das überwiegende Schädliche dieser Lebensweise, sobald sie ein unwiderrufliches Gesetz, ein knechtisches Joch oder ein politisches Netz wird, sowohl für das Ganze der Gesellschaft als für einzelne Glieder derselben unverkennbar. Von Sina und Tibet an bis nach Irland, Mexiko und Peru sind Klöster der Bonzen, Lamas und Talapoine sowie nach ihren Klassen und Arten aller christlichen Mönche und Nonnen Kerker der Religion und des Staats, Werkstätten der Grausamkeit, des Lasters und der Unterdrückung oder gar abscheulicher Lüste und Bubenstücke gewesen. Und ob wir zwar keinem geistlichen Orden das Verdienst rauben wollen, das er um den Bau der Erde oder um Menschen und Wissenschaft gehabt hat, so dürfen wir auch nie unser Ohr vor den geheimen Seufzern und Klagen verschließen, die aus diesen dunkeln, der Menschheit entrissenen Gewölben tönen, noch wollen wir unser Auge abkehren, um die leeren Träume überirdischer Beschaulichkeit oder die Kabalen des wütenden Möncheifers durch alle Jahrhunderte in einer Gestalt zu erblicken, die gewiß für keine erleuchtete Zeit gehört. Dem Christentum sind sie ganz fremde; denn Christus war kein Mönch, Maria keine Nonne; der älteste Apostel führte sein Weib mit sich, und von überirdischer Beschaulichkeit wissen weder Christus noch die Apostel.

7. Endlich hat das Christentum, indem es ein Reich der Himmel auf Erden gründen wollte und die Menschen von der Vergänglichkeit des Irdischen überzeugte, zwar zu jeder Zeit jene reinen und stillen Seelen gebildet, die das Auge der Welt nicht suchten und vor Gott ihr Gutes taten; leider aber hat es auch durch einen argen Mißbrauch den falschen Enthusiasmus genährt, der, fast von seinem Anfange an, unsinnige Märtyrer und Propheten in reicher Zahl erzeugte. Ein Reich der Himmel wollten sie auf die Erde bringen, ohne daß sie wußten, wie oder wo es stünde. Sie widerstrebten der Obrigkeit, lösten das Band der Ordnung auf, ohne der Welt eine bessere geben zu können, und unter der Hülle des christlichen Eifers versteckte sich pöbelhafter Stolz, kriechende Anmaßung, schändliche Lust, dumme Torheit. Wie betrogene Juden ihren falschen Messien anhingen, rotteten hier die Christen sich unter kühne Betrüger, dort schmeichelten sie den schlechtesten Seelen tyrannischer, üppiger Regenten, als ob diese das Reich Gottes auf die Erde brächten, wenn sie ihnen Kirchen bauten oder Schenkungen verehrten. So schmeichelte man schon dem schwachen Konstantin, und diese mystische Sprache prophetischer Schwärmerei hat sich Umständen und Zeiten nach auf Männer und Weiber verbreitet. Der Parakletus ist oft erschienen; liebtrunkenen Schwärmern hat der Geist oft durch Weiber geredet. Was in der christlichen Welt Chiliasten und Wiedertäufer, Donatisten, Montanisten, Priscillianisten, Circumcellionen u. f. für Unruhe und Unheil angerichtet; wie andere mit glühender Phantasie Wissenschaften verachtet oder verheert, Denkmale und Künste, Einrichtungen und Menschen ausgerottet und zerstört; wie ein augenscheinlicher Betrug oder gar ein lächerlicher Zufall zuweilen ganze Länder in Aufruhr gesetzt und z.B. das geglaubte Ende der Welt Europa nach Asien gejagt hat: das alles zeigt die Geschichte. Indessen wollen wir auch dem reineren christlichen Enthusiasmus sein Lob nicht versagen; er hat, wenn er aufs Gute traf, in kurzer Zeit für viele Jahrhunderte mehr ausgerichtet, als eine philosophische Kälte und Gleichgültigkeit je ausrichten könnte. Die Blätter des Truges fallen ab; aber die Frucht gedeiht. Die Flamme der Zeit verzehrte Stroh und Stoppeln; das wahre Gold konnte sie nur läutern.

So manches von diesem als einen schändlichen Mißbrauch der besten Sache ich mit traurigem Gemüt niedergeschrieben habe, so gehen wir dennoch der Fortpflanzung des Christentums in seinen verschiedenen Erdstrichen und Weltteilen beherzt entgegen; denn wie die Arznei in Gift verwandelt wurde, kann auch das Gift zur Arznei werden, und eine in ihrem Ursprunge reine und gute Sache muß am Ende doch triumphieren.

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