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Johann Wolfgang

von


Goethe

(1749-1832)

Johann Wolfgang von Goethe

Gedichte 
(Ausgabe letzter Hand. 1827)

Weissagungen des Bakis

Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)

Zuerst im Druck veröffentlicht in Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 1-4: Gedichte, Stuttgart und Tübingen (Cotta) 1827. 

Weissagungen des Bakis

Seltsam ist Propheten Lied;
Doppelt seltsam, was geschieht.

 


1

Wahnsinn ruft man dem Kalchas, und Wahnsinn ruft 
man Kassandren,
Eh man nach Ilion zog, wenn man von Ilion kommt.
Wer kann hören das Morgen und Übermorgen? Nicht 
einer!
Denn was gestern und ehgestern gesprochen - wer 
hört's?

2

Lang und schmal ist ein Weg. Sobald du ihn gehest, 
so wird er
Breiter; aber du ziehst Schlangengewinde dir nach.
Bist du ans Ende gekommen, so werde der 
schreckliche Knoten
Dir zur Blume, und du gib sie dem Ganzen dahin.

3

Nicht Zukünftiges nur verkündet Bakis; auch jetzt 
noch
Still Verborgenes zeigt er, als ein Kundiger, an.
Wünschelruten sind hier, sie zeigen am Stamm nicht 
die Schätze;
Nur in der fühlenden Hand regt sich das magische 
Reis.

4

Wenn sich der Hals des Schwanes verkürzt und, mit 
Menschengesichte,
Sich der prophetische Gast über den Spiegel bestrebt,
Läßt den silbernen Schleier die Schöne dem Nachen 
entfallen,
Ziehen dem schwimmenden gleich goldene Ströme 
sich nach.

5

Zweie seh ich! den Großen! ich seh den Größern! Die 
beiden
Reiben, mit feindlicher Kraft, einer den andern sich 
auf.
Hier ist Felsen und Land, und dort sind Felsen und 
Wellen!
Welcher der Größere sei, redet die Parze nur aus.

6

Kommt ein wandernder Fürst, auf kalter Schwelle zu 
schlafen,
Schlinge Ceres den Kranz, stille verflechtend, um ihn;
Dann verstummen die Hunde; es wird ein Geier ihn 
wecken,
Und ein tätiges Volk freut sich des neuen Geschicks.

7

Sieben gehn verhüllt und sieben mit offnem Gesichte.
Jene fürchtet das Volk, fürchten die Großen der Welt.
Aber die andern sind's, die Verräter! von keinem 
erforschet;
Denn ihr eigen Gesicht birget als Maske den Schalk.

8

Gestern war es noch nicht, und weder heute noch 
morgen
Wird es, und jeder verspricht Nachbarn und Freunden
es schon;
Ja, er verspricht es den Feinden. So edel gehn wir ins 
neue
Säk'lum hinüber, und leer bleibet die Hand und der 
Mund.

9

Mäuse laufen zusammen auf offnem Markte; der 
Wandrer
Kommt, auf hölzernem Fuß, vierfach und klappernd 
heran.
Fliegen die Tauben der Saat in gleichem Momente 
vorüber:
Dann ist, Tola, das Glück unter der Erde dir hold.

10

Einsam schmückt sich zu Hause mit Gold und Seide 
die Jungfrau;
Nicht vom Spiegel belehrt, fühlt sie das schickliche 
Kleid.
Tritt sie hervor, so gleicht sie der Magd; nur einer von
allen
Kennt sie; es zeiget sein Aug ihr das vollendete Bild.

11

Ja, vom Jupiter rollt ihr, mächtig strömende Fluten,
Über Ufer und Damm, Felder und Gärten mit fort.
Einen seh ich! Er sitzt und harfeniert der Verwüstung;
Aber der reißende Strom nimmt auch die Lieder 
hinweg.

12

Mächtig bist du! gebildet zugleich, und alles verneigt 
sich,
Wenn du mit herrlichem Zug über den Markt dich 
bewegst.
Endlich ist er vorüber. Da lispelt fragend ein jeder:
»War denn Gerechtigkeit auch in der Tugenden Zug?«

13

Mauern seh ich gestürzt, und Mauern seh ich 
errichtet,
Hier Gefangene, dort auch der Gefangenen viel.
Ist vielleicht nur die Welt ein großer Kerker? und frei 
ist
Wohl der Tolle, der sich Ketten zu Kränzen erkiest.
14

Laß mich ruhen, ich schlafe. - »Ich aber wache.« - 
Mitnichten! -
»Träumst du?« - Ich werde geliebt! - »Freilich, du 
redest im Traum.« -
Wachender, sage, was hast du?- »Da sieh nur alle die 
Schätze!« -
Sehen soll ich? Ein Schatz, wird er mit Augen 
gesehn?

15

Schlüssel liegen im Buche zerstreut, das Rätsel zu 
lösen;
Denn der prophetische Geist ruft den Verständigen 
an.
Jene nenn ich die Klügsten, die leicht sich vom Tage 
belehren
Lassen; es bringt wohl der Tag Rätsel und Lösung 
zugleich.

16

Auch Vergangenes zeigt euch Bakis; denn selbst das 
Vergangne
Ruht, verblendete Welt, oft als ein Rätsel vor dir.
Wer das Vergangene kennte, der wüßte das Künftige; 
beides
Schließt an heute sich rein als ein Vollendetes an.

17

Tun die Himmel sich auf und regnen, so träufelt das 
Wasser
Über Felsen und Gras, Mauern und Bäume zugleich.
Kehret die Sonne zurück, so verdampfet vom Steine 
die Wohltat;
Nur das Lebendige hält Gabe der Göttlichen fest.

18

Sag, was zählst du? - »Ich zähle, damit ich die Zehne
begreife,
Dann ein andres Zehn, Hundert und Tausend 
hernach.« -
Näher kommst du dazu, sobald du mir folgest. - 
»Und wie denn?« -
Sage zur Zehne: sei zehn ! Dann sind die Tausende 
dein.

19

Hast du die Welle gesehen, die über das Ufer 
einherschlug?
Siehe die zweite, sie kommt! rollet sich sprühend 
schon aus!
Gleich erhebt sich die dritte! Fürwahr, du erwartest 
vergebens,
Daß die letzte sich heut ruhig zu Füßen dir legt.

20

Einem möcht ich gefallen! so denkt das Mädchen; den
Zweiten
Find ich edel und gut, aber er reizet mich nicht.
Wäre der Dritte gewiß, so wäre mir dieser der liebste.
Ach, daß der Unbestand immer das Lieblichste bleibt

21

»Blaß erscheinest du mir und tat dem Auge. Wie rufst
du
Aus der innern Kraft heiliges Leben empor?«
Wär ich dem Auge vollendet, so könntest du ruhig 
genießen;
Nur der Mangel erhebt über dich selbst dich hinweg.

22

Zweimal färbt sich das Haar; zuerst aus dem Blonden 
ins Braune,
Bis das Braune sodann silbergediegen sich zeigt.
Halb errate das Rätsel! so ist die andere Hälfte
Völlig dir zu Gebot, daß du die erste bezwingst.

23

Was erschrickst du? - »Hinweg, hinweg mit diesen 
Gespenstern!
Zeige die Blume mir doch; zeig mir ein 
Menschengesicht!
Ja, nun seh ich die Blumen; ich sehe die 
Menschengesichter.«
Aber ich sehe dich nun selbst als betrognes Gespenst.
24

Einer rollet daher; es stehen ruhig die neune:
Nach vollendetem Lauf liegen die viere gestreckt.
Helden finden es schön, gewaltsam treffend zu 
wirken;
Denn es vermag nur ein Gott, Kegel und Kugel zu 
sein.

25

Wieviel Äpfel verlangst du für diese Blüten? - »Ein 
Tausend;
Denn der Blüten sind wohl zwanzig der Tausende 
hier.
Und von zwanzig nur einen, das find ich billig.« - 
Du bist schon
Glücklich, wenn du dereinst einen von tausend 
behältst.

26

»Sprich, wie werd ich die Sperlinge los?« so sagte der
Gärtner,
»Und die Raupen dazu, ferner das Käfergeschlecht,
Maulwurf, Erdfloh, Wespe, die Würmer, das 
Teufelsgezüchte?«
Laß sie nur alle, so frißt einer den anderen auf.

27

»Klingeln hör ich: es sind die lustigen 
Schlittengeläute.
Wie sich die Torheit doch selbst in der Kälte noch 
rührt!«
Klingeln hörst du? Mich deucht, es ist die eigene 
Kappe,
Die sich am Ofen dir leis um die Ohren bewegt.

28

Seht den Vogel! er fliegt von einem Baume zum 
andern,
Nascht mit geschäftigem Pick unter den Früchten 
umher.
Frag ihn, er plappert auch wohl und wird dir offen 
versichern,
Daß er der hehren Natur herrliche Tiefen erpickt.

29

Eines kenn ich verehrt, ja angebetet zu Fuße;
Auf die Scheitel gestellt, wird es von jedem verflucht.
Eines kenn ich, und fest bedruckt es zufrieden die 
Lippe:
Doch in dem zweiten Moment ist es der Abscheu der 
Welt.

30

Dieses ist es, das Höchste, zu gleicher Zeit das 
Gemeinste;
Nun das Schönste, sogleich auch das Abscheulichste 
nun.
Nur im Schlürfen genieße du das, und koste nicht 
tiefer:
Unter dem reizenden Schaum sinket die Neige zu 
Grund.

31

Ein beweglicher Körper erfreut mich, ewig gewendet
Erst nach Norden und dann ernst nach der Tiefe 
hinab.
Doch ein andrer gefällt mir nicht so; er gehorchet den 
Winden,
Und sein ganzes Talent löst sich in Bücklingen auf.

32

Ewig wird er euch sein der Eine, der sich in Viele
Teilt und Einer jedoch, ewig der Einzige bleibt.
Findet in Einem die Vielen, empfindet die Vielen wie 
Einen,
Und ihr habt den Beginn, habet das Ende der Kunst.

 

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