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Johann Wolfgang

von


Goethe

(1749-1832)

Johann Wolfgang von Goethe

Gedichte 
(Ausgabe letzter Hand. 1827)

Vier Jahreszeiten

Gedichte (Ausgabe letzter Hand. 1827)

Zuerst im Druck veröffentlicht in Goethes Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Bd. 1-4: Gedichte, Stuttgart und Tübingen (Cotta) 1827. 

Vier Jahreszeiten

Alle viere, mehr und minder,
Necken wie die hübschen Kinder.

 

 


Frühling

1

Auf, ihr Distichen, frisch! ihr muntern, lebendigen 
Knaben!
Reich ist Garten und Feld! Blumen zum Kranze 
herbei!

2

Reich ist an Blumen die Flur; doch einige sind nur 
dem Auge,
Andre dem Herzen nur schön; wähle dir, Leser, nun 
selbst!

3

Rosenknospe, du bist dem blühenden Mädchen 
gewidmet,
Die als die Herrlichste sich, als die Bescheidenste 
zeigt.

4

Viele der Veilchen zusammengeknüpft, das 
Sträußchen erscheinet
Erst als Blume; du bist, häusliches Mädchen, 
gemeint.

5

Eine kannt ich, sie war wie die Lilie schlank, und ihr 
Stolz war
Unschuld; herrlicher hat Salomo keine gesehn.

6

Schön erhebt sich der Aglei und senkt das Köpfchen 
herunter.
Ist es Gefühl? oder ist's Mutwill? Ihr ratet es nicht.

7

Viele duftende Glocken, o Hyazinthe, bewegst du;
Aber die Glocken ziehn, wie die Gerüche, nicht an.


8

Nachtviole, dich geht man am blendenden Tage 
vorüber;
Doch bei der Nachtigall Schlag hauchest du 
köstlichen Geist.

9

Tuberose, du ragest hervor und ergetzest im Freien;
Aber bleibe vom Haupt, bleibe vom Herzen mir fern!

10

Fern erblick ich den Mohn; er glüht. Doch komm ich 
dir näher,
Ach, so seh ich zu bald, daß du die Rose nur lügst.

11

Tulpen, ihr werdet gescholten von sentimentalischen 
Kennern;
Aber ein lustiger Sinn wünscht auch ein lustiges 
Blatt.

12

Nelken, wie find ich euch schön! Doch alle gleicht ihr
einander,
Unterscheidet euch kaum, und ich entscheide mich 
nicht.

13

Prangt mit den Farben Aurorens, Ranunkeln, Tulpen 
und Astern!
Hier ist ein dunkles Blatt, das euch an Dufte 
beschämt.

14

Keine lockt mich, Ranunkeln, von euch, und keine 
begehr ich;
Aber im Beete vermischt sieht euch das Auge mit 
Lust.

15

Sagt! was füllet das Zimmer mit Wohlgerüchen? 
Reseda,
Farblos, ohne Gestalt, stilles, bescheidenes Kraut.

16

Zierde wärst du der Gärten; doch wo du erscheinest, 
da sagst du
Ceres streute mich selbst aus mit der goldenen Saat.

17

Deine liebliche Kleinheit, dein holdes Auge, sie sagen
Immer: Vergiß mein nicht! immer: Vergiß nur nicht 
mein!

18

Schwänden dem inneren Auge die Bilder sämtlicher 
Blumen,
Eleonore, dein Bild brächte das Herz sich hervor.

Sommer

19

Grausam erweiset sich Amor an mir! O spielet, ihr 
Musen,
Mit den Schmerzen, die er, spielend, im Busen erregt!

20

Manuskripte besitz ich wie kein Gelehrter noch 
König;
Denn mein Liebchen, sie schreibt, was ich ihr 
dichtete, mir

21

Wie im Winter die Saat nur langsam keimet, im 
Sommer
Lebhaft treibet und reift, so war die Neigung zu dir.


22

Immer war mir das Feld und der Wald und der Fels 
und die Gärten
Nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort.

23

Raum und Zeit, ich empfind es, sind bloß Formen des
Anschauns,
Da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir 
scheint.

24

Sorge! sie steiget mit dir zu Roß, sie steiget zu 
Schiffe;
Viel zudringlicher noch packet sich Amor uns auf.

25

Neigung besiegen ist schwer; gesellet sich aber 
Gewohnheit,
Wurzelnd, allmählich zu ihr, unüberwindlich ist sie.

26

Welche Schrift ich zwei-, ja dreimal hintereinander
Lese? Das herzliche Blatt, das die Geliebte mir 
schreibt.

27

Sie entzückt mich, und täuschet vielleicht. O Dichter 
und Sänger,
Mimen? lernet ihr doch meiner Geliebten was ab!

28

Alle Freude des Dichters, ein gutes Gedicht zu 
erschaffen,
Fühle das liebliche Kind, das ihn begeisterte, mit.

29

Ein Epigramm sei zu kurz, mir etwas Herzlichs zu 
sagen?
Wie, mein Geliebter, ist nicht kürzer der herzliche 
Kuß?

30

Kennst du das herrliche Gift der unbefriedigten 
Liebe?
Es versengt und erquickt, zehret am Mark und 
erneut's.

31

Kennst du die herrliche Wirkung der endlich 
befriedigten Liebe?
Körper verbindet sie schön, wenn sie die Geister 
befreit.

32

Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich 
gleich bleibt,
Wenn man ihr alles gewährt, wenn man ihr alles 
versagt.

33

Alles wünscht ich zu haben, um mit ihr alles zu 
teilen;
Alles gäb ich dahin, wär sie, die Einzige, mein!

34

Kränken ein liebendes Herz und schweigen müssen; 
geschärfter
Können die Qualen nicht sein, die Rhadamanth sich 
ersinnt.

35

»Warum bin ich vergänglich, o Zeus?« so fragte die 
Schönheit.
»Macht ich doch«, sagte der Gott, »nur das 
Vergängliche schön.«

36

Und die Liebe, die Blumen, der Tau und die Jugend 
vernahmen's;
Alle gingen sie weg, weinend, von Jupiters Thron.

37

Leben muß man und lieben; es endet Leben und 
Liebe.
Schnittest du, Parze, doch nur beiden die Fäden 
zugleich!

Herbst

38

Früchte bringet das Leben dem Mann; doch hangen 
sie selten
Rot und lustig am Zweig, wie uns ein Apfel begrüßt.

39

Richtet den herrschenden Stab auf Leben und 
Handeln, und lasset
Amorn, dem lieblichen Gott, doch mit der Muse das 
Spiel

40

Lehret! Es ziemet euch wohl; auch wir verehren die 
Sitte;
Aber die Muse läßt nicht sich gebieten von euch.

41

Nimm dem Prometheus die Fackel, beleb, o Muse, die
Menschen!
Nimm sie dem Amor, und rasch quäl und beglücke 
wie er!

42

Alle Schöpfung ist Werk der Natur. Von Jupiters 
Throne
Zuckt der allmächtige Strahl, nährt und erschüttert die
Welt.

43

Freunde, treibet nur alles mit Ernst und Liebe; die 
beiden
Stehen dem Deutschen so schön, den ach! so vieles 
entstellt.

44

Kinder werfen den Ball an die Wand und fangen ihn 
wieder;
Aber ich lobe das Spiel, wirft mir der Freund ihn 
zurück.

45

Immer strebe zum Ganzen, und kannst du selber kein 
Ganzes
Werden, als dienendes Glied schließ an ein Ganzes 
dich an.

46

Wärt ihr, Schwärmer, imstande, die Ideale zu fassen
O so verehrtet ihr auch, wie sich's gebührt, die Natur.

47

Wem zu glauben ist, redlicher Freund, das kann ich 
dir sagen:
Glaube dem Leben; es lehrt besser als Redner und 
Buch.
48

Alle Blüten müssen vergehn, daß Früchte beglücken;
Blüten und Frucht zugleich gebet ihr, Musen, allein.

49

Schädliche Wahrheit, ich ziehe sie vor dem nützlichen
Irrtum.
Wahrheit heilet den Schmerz, den sie vielleicht uns 
erregt.

50

Schadet ein Irrtum wohl? Nicht immer! aber das Irren,
Immer schadet's. Wie sehr, sieht man am Ende des 
Wegs.

51

Fremde Kinder, wir lieben sie nie so sehr als die 
eignen;
Irrtum, das eigene Kind, ist uns dem Herzen so nah.

52

Irrtum verläßt uns nie; doch ziehet ein höher 
Bedürfnis
Immer den strebenden Geist leise zur Wahrheit hinan.

53

Gleich sei keiner dem andern; doch gleich sei jeder 
dem Höchsten,
Wie das zu machen? Es sei jeder vollendet in sich.

54

Warum will sich Geschmack und Genie so selten 
vereinen?
Jener fürchtet die Kraft; dieses verachtet den Zaum.

55

Fortzupflanzen die Welt, sind alle vernünft'gen 
Diskurse
Unvermögend; durch sie kommt auch kein Kunstwerk
hervor.

56

Welchen Leser ich wünsche? Den unbefangensten, 
der mich,
Sich und die Welt vergißt und in dem Buche nur lebt.

57

Dieser ist mir der Freund, der mit mir Strebendem 
wandelt;
Lädt er zum Sitzen mich ein, stehl ich für heute mich 
weg.

58

Wie beklag ich es tief, daß diese herrliche Seele,
Wert, mit zum Zwecke zu gehn, mich nur als Mittel 
begreift!

59

Preise dem Kinde die Puppen, wofür es begierig die 
Groschen
Hinwirft; wahrlich, du wirst Krämern und Kindern ein
Gott.
60

Wie verfährt die Natur, um Hohes und Niedres im 
Menschen
Zu verbinden? Sie stellt Eitelkeit zwischen hinein.

61

Auf das empfindsame Volk hab ich nie was gehalten; 
es werden,
Kommt die Gelegenheit, nur schlechte Gesellen 
daraus.

62

Franztum drängt in diesen verworrenen Tagen, wie 
ehmals
Luthertum es getan, ruhige Bildung zurück.

63

Wo Parteien entstehn, hält jeder sich hüben und 
drüben;
Viele Jahre vergehn, eh sie die Mitte vereint.

64

»Jene machen Partei; welch unerlaubtes Beginnen!
Aber unsre Partei, freilich, versteht sich von selbst.«

65

Willst du, mein Sohn, frei bleiben, so lerne was 
Rechtes, und halte
Dich genügsam, und nie blicke nach oben hinauf!

66

Wer ist der edlere Mann in jedem Stande? Der stets 
sich
Neiget zum Gleichgewicht, was er auch habe voraus.

67

Wißt ihr, wie auch der Kleine was ist? Er mache das 
Kleine
Recht; der Große begehrt just so das Große zu tun.

68

Was ist heilig? Das ist's, was viele Seelen zusammen
Bindet; bänd es auch nur leicht, wie die Binse den 
Kranz.

69

Was ist das Heiligste? Das, was heut und ewig die 
Geister,
Tiefer und tiefer gefühlt, immer nur einiger macht.

70

Wer ist das würdigste Glied des Staats? Ein wackerer 
Bürger;
Unter jeglicher Form bleibt er der edelste Stoff.

71

Wer ist denn wirklich ein Fürst? Ich hab es immer 
gesehen,
Der nur ist wirklich Fürst, der es vermochte zu sein.

72

Fehlet die Einsicht oben, der gute Wille von unten,
Führt sogleich die Gewalt, oder sie endet den Streit.

73

Republiken hab ich gesehen, und das ist die beste,
Die dem regierenden Teil Lasten, nicht Vorteil 
gewährt.

74

Bald, es kenne nur jeder den eigenen, gönne dem 
andern
Seinen Vorteil, so ist ewiger Friede gemacht.

75

Keiner bescheidet sich gern mit dem Teile, der ihm 
gebühret,
Und so habt ihr den Stoff immer und ewig zum Krieg.

76

Zweierlei Arten gibt es, die treffende Wahrheit zu 
sagen:
Öffentlich immer dem Volk, immer dem Fürsten 
geheim.

77

Wenn du laut den einzelnen schiltst, er wird sich 
verstocken,
Wie sich die Menge verstockt, wenn du im ganzen sie
lobst.

78

Du bist König und Ritter und kannst befehlen und 
streiten:
Aber zu jedem Vertrag rufe den Kanzler herbei.

79

Klug und tätig und fest, bekannt mit allem, nach oben
Und nach unten gewandt, sei er Minister und bleib's.

80

Welchen Hofmann ich ehre? Den klärsten und 
feinsten! Das andre,
Was er noch sonst besitzt, kommt ihm als Menschen 
zugut.

81

Ob du der Klügste seist: daran ist wenig gelegen;
Aber der Biederste sei, so wie bei Rate, zu Haus.

82

Ob du wachst, das kümmert uns nicht, wofern du nur 
singest.
Singe, Wächter, dein Lied schlafend, wie mehrere tun.


83

Diesmal streust du, o Herbst, nur leichte, welkende 
Blätter;
Gib mir ein andermal schwellende Früchte dafür.

Winter

84

Wasser ist Körper und Boden der Fluß. Das neuste 
Theater
Tut in der Sonne Glanz zwischen den Ufern sich auf.

85

Wahrlich, es scheint nur ein Traum! Bedeutende 
Bilder des Lebens
Schweben, lieblich und ernst, über die Fläche dahin.

86

Eingefroren sahen wir so Jahrhunderte starren,
Menschengefühl und Vernunft schlich nur verborgen 
am Grund.

87

Nur die Fläche bestimmt die kreisenden Bahnen des 
Lebens;
Ist sie glatt, so vergißt jeder die nahe Gefahr.

88

Alle streben und eilen und suchen und fliehen 
einander;
Aber alle beschränkt freundlich die glättere Bahn.

89

Durcheinander gleiten sie her, die Schüler und 
Meister,
Und das gewöhnliche Volk, das in der Mitte sich hält.

90

Jeder zeigt hier, was er vermag; nicht Lob und nicht 
Tadel
Hielte diesen zurück, förderte jenen zum Ziel.

91

Euch, Präkonen des Pfuschers, des Meisters 
Verkleinerer, wünscht ich
Mit ohnmächtiger Wut stumm hier am Ufer zu sehn.

92

Lehrling, du schwankest und zauderst und scheuest 
die glättere Fläche.
Nur gelassen! du wirst einst noch die Freude der 
Bahn.

93

Willst du schon zierlich erscheinen und bist nicht 
sicher? Vergebens!
Nur aus vollendeter Kraft blicket die Anmut hervor.

94

Fallen ist der Sterblichen Los. So fällt hier der 
Schüler
Wie der Meister; doch stürzt dieser gefährlicher hin.

95

Stürzt der rüstigste Läufer der Bahn, so lacht man am 
Ufer,
Wie man bei Bier und Tabak über Besiegte sich hebt.

96

Gleite fröhlich dahin, gib Rat dem werdenden 
Schüler,
Freue des Meisters dich, und so genieße des Tags.

97

Siehe, schon nahet der Frühling; das strömende 
Wasser verzehret
Unten, der sanftere Blick oben der Sonne das Eis.

98

Dieses Geschlecht ist hinweg, zerstreut die bunte 
Gesellschaft
Schiffern und Fischern gehört wieder die wallende 
Flut.

99

Schwimme, du mächtige Scholle, nur hin! und 
kommst du als Scholle
Nicht hinunter, du kommst doch wohl als Tropfen ins 
Meer.

 

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