Zeittafel zu Leben
und Werk
zugleich eine
elementare Einführung in das philosophische Denken Sartres
und
dessen Ursprünge in seiner Lebensgeschichte
Wolfgang Peter 2001
|
1905 |
21. Juni:
Jean-Paul Charles Aymard Sartre wird als Sohn des Marineoffiziers
Jean-Baptiste Sartre in Paris geboren. Anne-Marie Schweitzer,
seine Mutter, Tochter von Charles und Louise Schweitzer, ist deutsch-elsässischer
Abstammung und war eine Cousine
Albert
Schweitzers.
|
Jean-Paul Sartre, 8
Monate alt
Charles Schweitzer,
der Großvater
Jugendbildnid Sartres mit sieben Jahren
Jean-Paul Sartre, 1923
|
1907 |
Der Vater, den Sartre praktisch
nicht gekannt hat, erkrankt in Übersee am Fieber, wird
schwerkrank heimgebracht und stirbt bald darauf. Die
Mutter, die kein Geld und nichts gelernt hatte, zieht zu ihren Eltern. Sartre wächst so bei den
Großeltern auf. Der Großvater, ein Deutschlehrer und die
eigentliche Autoritätsperson des Hauses, hatte ein
komödiantisches Talent und liebte es, mit dem Knaben selbst
erfundene Szenen der Familie vorzuspielen.
Obwohl Sartre freundlich aufgenommen wird,
fühlt er sich in diesem großbürgerlichen Milieu, das ihn
zutieftst bedrückt und für sein weiters Leben entscheidend
prägen wird, stets als Fremder, der nicht wirklich
dazugehört und dem auch nichts gehört. Sartres späterer
marxistisch orientierter und voll und ganz gelebter
Eigentumsbegriff ist untrennbar mit diesen
Kindheitserfahrungen verbunden.
Ich habe nie ein Gefühl
für das Eigentum gehabt; nichts hat mir jemals wirklich
gehört, denn ich habe zuerst bei meinen Großeltern gelebt
und, nach der Wiederheirat meiner Mutter, mich bei meinem
Stiefvater auch nicht "zu Hause" gefühlt; die
Andern gaben mir immer, was ich benötigte. (1)
Dieses praktisch völlig
fehlende Besitzstreben zeichnete Sartre ein Leben lang aus.
Auch als er bereits berühmt geworden war und über reichliche
Einkünfte verfügte, lebte er stets in einem bescheidenen
Hotelzimmer. Seinen Freunden gegenüber erwies er sich
aber immer als sehr großzügig.
Als völliger Fremdling fühlt sich
also Sartre in der großbürgerlichen Atmosphäre, in der er
nun leben muß, allein auf sich selbst gestellt, in eine fremde Welt
geworfen, die beständig ihren prüfenden Blick auf ihn
wirft. Die eigene Existenz erscheint ihm deshalb nicht als etwas
passiv fertig Gegebenes, sondern als etwas, was er beständig
aktiv vor der Welt zu rechtfertigen habe. Aus Angst,
verstoßen zu werden, lernt er die Rolle des "artigen
Jungen" zu spielen - wohl eine der wesentlichsten Wurzeln
für Sartres spätere philosophische Ansicht, daß der Mensch
im Leben immer eine bestimmte "Rolle" spielen muß,
um mit seinen Mitmenschen zusammenleben zu können. Das ganze
Leben wird so zu einem merkwürdig inszenierten Theaterstück:
man ist das, was man ist nur dadurch, daß man sich selbst
und den anderen vorspielt, was man ist. Sartre hat das
später sehr anschaulich so beschrieben:
Betrachten wir diesen
Kaffeehauskellner. Er hat rasche und sichere Bewegungen, ein
wenig allzu bestimmte und ein wenig allzu schnelle, er kommt
ein wenig zu rasch auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit ein
wenig zuviel Beflissenheit, seine Stimme und seine Blicke
drücken eine Interessiertheit aus, die ein wenig zu sehr von
Besorgnis um die Bestellung des Kunden in Anspruch genommen
ist; dort kommt er zurück und versucht durch seine Art, zu
gehen, die unbeugsame Härte irgendeines Automaten
nachzumachen, während er gleichzeitig sein Tablett mit einer
Art Seiltänzerkühnheit trägt, wobei er es in einem
fortwährend labilen und fortwährend gestörten Gleichgewicht
hält, das er mit einer leichten Bewegung des Armes oder der
Hand fortwährend wiederherstellt. Seine ganze Verhaltensweise
sieht wie ein Spiel aus. Er läßt es sich angelegen sein,
seine Bewegungen aneinanderzureihen, als wären sie
Mechanismen, die sich gegenseitig antreiben, auch sein
Gesichtsausdruck und seine Stimme wirken mechanisch; er legt
sich die erbarmungslose Behendigkeit und Schnelligkeit einer
Sache bei. Er spielt, er unterhält sich dabei. Aber wem
spielt er etwas vor? Man braucht ihn nicht lange zu
beobachten, um sich darüber klar zu werden: er spielt,
Kaffeehauskellner zu sein. Darin liegt nichts Überraschendes:
das Spiel ist eine Weise des Sichzurechtfindens und des
Nachforschens. Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu
erforschen, um eine Bestandsaufnahme zu machen; der
Kaffeehauskellner spielt mit seiner Stellung, um sie real
zu setzen. (2)
Im Grunde ist es eine hohle,
verlogene Welt, der sich Sartre in seiner frühen Jugend
gegenübergestellt sieht, und was ihn sein Leben lang zutiefst
abstoßen wird, ist vor allem jene heuchlerische bürgerliche
Gesinnung, die vorgibt an ideale geistige Werte zu glauben,
die ihr in Wahrheit längst entschwunden sind:
So hat es mit mir
angefangen. Ich floh, äußere Kräfte modellierten meine
Flucht und machten mich. Hinter einer überholten
Kulturauffassung erschien die Religion und diente als Modell.
Sie war kindlich, daher einem Kind sehr nahe. Man brachte mir
die Biblische Geschichte bei, das Evangelium und den
Katechismus, ohne mir die Mittel zu geben, daran zu glauben;
das Resultat war eine Unordnung, die sich als meine mir
eigentümliche Ordnung entpuppte. Das ging nicht ohne Falten
und beträchtliche Abänderungen; das Sakrale wurde aus dem
Katholizismus weggenommen und in die Belletristik versetzt,
und es erschien der Mann der Feder als Ersatz jenes Christen,
der ich nicht sein konnte. Sein einziges Bestreben war das
Heil, sein Erdenleben diente nur dazu, daß er sich die
postume Glückseligkeit durch würdig ertragene Prüfungen
verdiente. Der Tod wurde zu einem Übergangsritus reduziert,
und die irdische Unsterblichkeit präsentierte sich als Ersatz
des ewigen Lebens. (3) |
1915 |
Besuch des Lycee Henri IV in
Paris |
1916 |
Die Mutter verheiratet sich
wieder und Sartre zieht mit ihr nach La Rochelle. |
1917-1919 |
Besuch des Gymnasiums in La
Rochelle |
1919-1922 |
Besuch des Lycee Louis-le-Grand
in Paris |
1922 |
Abitur |
1926 |
Scharfe
Selbstkritik zu üben und sich darüber auch sehr offen zu ihm
nahestehenden Menschen zu äußern, war Sartre schon in jungen
Jahren eigen. In einem Brief an seine langjährige Freundin Simone
Jolivet charakterisiert sich Sartre selbst als ehrgeizigen
sentimentalen Feigling mit hochentwickelten intellektuellen
Fähigkeiten:
Mein Charakter ist im Kern
sehr heteroklit.
Einerseits bin ich äußerst
ehrgeizig. Aber in welcher Hinsicht? Ich stelle mir den Ruhm
wie einen Ballsaal voller befrackter Herren und dekolletierter
Damen vor, die mir zu Ehren ihre Gläser erheben. Das ist
sicherlich eine Bilderbuchvorstellung, aber ich habe dieses
Bild seit meiner Kindheit in mir. Es lockt mich nicht, doch
lockt mich der Ruhm, denn ich möchte weit über den anderen
stehen, die ich verachte. Aber vor allem habe ich den Ehrgeiz,
schöpferisch zu sein: ich muß gestalten, egal was, nur
gestalten; ich habe alles probiert, von philosophischen
Systemen (blödsinnigen natürlich, ich war sechzehn) bis zu
Symphonien. Mit acht Jahren habe ich meinen ersten Roman
geschrieben. Ich kann kein leeres Blatt sehen, ohne daß ich
Lust bekomme, etwas draufzuschreiben. Dieses übrigens
lächerliche Gefühl der Begeisterung empfinde ich nur bei
bestimmten Werken, weil ich mir vorstelle, ich könnte sie
nachschaffen, sie selbst schreiben, und so schreibe ich Ihnen
heute, weil ich gerade eins gelesen habe und sofort das
Bedürfnis hatte, etwas zu gestalten: diesen Brief. Doch mir
gefällt nicht, was ich schreibe, ich schreibe nicht in meiner
Art, wenn Sie so wollen, ich ändere ständig den Stil und
finde mich trotzdem nicht gut. Übrigens mögen mich auch
andere deshalb nicht besonders. All das ist sehr banal. Leider
kommt hinzu, daß ich im Grunde von Natur aus den Charakter
einer kleinen alten Jungfer habe: ich bin — wovon Sie
vielleicht keine Ahnung hatten - mit dem Charakter geboren,
der zu meinem Aussehen paßt: schrecklich sentimental,
blödsinnig sentimental, feige und zimperlich. Meine
Sentimentalität ging so weit, daß ich über alles mögliche
flennte. Bei Theaterstücken, Filmen, Romanen habe ich geheult
wie ein Schloßhund. Ich habe ungerechtfertigte und
unglaubliche Anwandlungen von Mitleid gehabt, auch Anfälle
von Feigheit, von Charakterschwäche, so daß meine Eltern und
Freunde mich eine Zeitlang für den letzten Versager hielten.
Das also sind meine beiden
Grundtendenzen. Die wesentliche ist der Ehrgeiz. Ich habe mir
sehr bald nicht gefallen, und das erste, was ich wirklich
gestaltet habe, war mein Charakter. Ich habe an zwei Dingen
gearbeitet: an meinem Willen und an der Unterdrückung der
zweiten Tendenz, deren ich mich zutiefst schämte. Was den
Willen angeht, habe ich mich der Methode der Willkürakte
bedient: ohne irgendeinen Grund etwas zu tun, was mir gegen
den Strich geht. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: mein erster
Willkürakt war, daß ich einen Hut unter die Räder der
Straßenbahn von La Rochelle warf, den ich mir vierzehn Tage
lang gewünscht und den meine Mutter mir endlich gekauft
hatte. Das war idiotisch, aber ich war vierzehn. Ich habe
sogar bei dieser Gelegenheit die letzte Ohrfeige von meiner
Mutter bekommen. Um meinen Charakter zu bezwingen, habe ich
mich bemüht, ihn zu verstecken. Früher war ich sehr
mitteilsam, aber das Leben, das man mir in La Rochelle
bereitet hat, von dem ich Ihnen erzählt habe, und
andererseits mein fester Wille, mich zu ändern, haben mich
verschlossen gemacht. Ich sage Ihnen ehrlich: dies ist das
erste Mal seit sieben Jahren, daß ich so viel darüber sage,
und das kommt daher, daß ich mir meiner selbst jetzt sicher
bin. Aber glauben Sie nicht, ich hätte alle diese grotesken
Tendenzen in mir erstickt: sie existieren immer noch. Ich bin
noch ebenso feige und zimperlich, wie ich war: wenn ein Hund
neben mir bellt, zucke ich vor Angst zusammen. Und doch glaube
ich, wenn ich den festen Entschluß habe, etwas zu tun,
könnte mich keine Angst davon abhalten. Aber daraus folgt:
1. Diese Tendenzen können
jeden Augenblick wieder auftauchen, und bei dem Versuch, sie
zurückzudrängen, nehme ich die gekünstelte Haltung an, die
Sie mir vorwerfen. Ich bin nie ich selbst, weil ich immer
versuche, zu modifizieren, neu zu schaffen: ich werde nie das
Glück (?) haben, spontan handeln zu können.
2. Wenn ich eine echte
Empfindung habe, ein Gefühl, das ich für artikulierbar
halte, bin ich absolut unfähig, es auszudrücken: entweder
ich stammle, oder ich sage genau das Gegenteil von dem, was
ich sagen wollte - oder ich drücke dieses Gefühl mit
geschwollenen Sätzen aus, die nichts besagen -, oder aber,
und das ist das häufigste, ich äußere gar nichts, ich
fliehe vor jeder Äußerung: das ist das klügste. Im übrigen
bin ich jetzt natürlich viel sturer, und ich bin nicht mehr
so leicht zu erschüttern.
Ich habe Ihnen fast alles
gesagt; ich füge hinzu, daß ich ein gewisses Charakterideal
erreichen muß: moralische Gesundheit, das heißt vollkommenes
Gleichgewicht. Ich bin noch sehr weit davon entfernt. Es
gelingt mir allerdings, nur noch das, was ich will, nach
außen durchscheinen zu lassen. Ich übertreibe. Um absolut
ehrlich zu sein: meistens.
Beim Schreiben dieser kurzen
Analyse fand ich, daß die Bilanz nicht besonders gut
ausfällt, und ich hätte hier und da gern ein bißchen
beschönigt. Doch ich habe es mir nicht zugestanden, denn wenn
ich schon einmal angefangen habe, von mir zu sprechen, ist es
besser, es in aller Aufrichtigkeit zu tun. (4)
|
1924-1928 |
Studium an der französischen
Elite-Hochschule École Normale Supérieure. - Beginn der Freundschaft mit Simone de Beauvoir,
Auch sie entstammt dem gehobenen Bürgertum und teilt Sartres
entschiedene Kritik dieser Lebensform. Die Freundschaft
mündet in eine in jeder Hinsicht offene Beziehung. Offen
einerseits, in dem sie von unabdingbarer Aufrichtigkeit
gegeneinander geprägt war, die auch die tiefsten Tiefen der
eigenen Seele dem anderen offenbarte; offen aber anderseits
auch für andere Beziehungen, die nebenherliefen:
Sartre war nicht zur
Monogamie berufen; er war gern in Gesellschaft von Frauen, die
er weniger komisch fand als Männer. Er war nicht bereit, mit
23 Jahren für immer auf die Freuden der Abwechslung zu
verzichten. "Bei uns beiden", erklärte er mir unter
Anwendung seines Lieblingsvokabulars, "handelt es sich um
eine notwendige Liebe: es ist unerläßlich, daß wir auch die
Zufallsliebe kennenlernen." Wir waren von gleicher Art,
und unser Bund würde so lange dauern wie wir selbst; er bot
jedoch keinen Ersatz für den flüchtigen Reichtum der
Begegnungen mit anderen Wesen. Warum sollten wir freiwillig
auf die Skala der Überraschungen, der Enttäuschungen, der
Sehnsüchte, der Freuden verzichten, die sich uns anboten? (5)
Sartre arbeitet zu dieser Zeit
an einer Dissertation über »Die Einbildungskraft in der
Psychologie«
|
Simone de Beauvoir
Jean-Paul Sartre, 1946
|
1929 |
Agrégation (Abschlußexamen
für die Lehrerlaubnis an Hochschulen) in Philosophie
als erster seines Jahrgangs; seine Freundin Simone de Beauvoir
schließt als zweite ab und Sartres Freund Jean Hyppolite als
dritter. Von 1926-1930 studierte hier auch Merleau-Ponty. |
1929-1931 |
Militärdienst als Meteorologe
in Tours |
1931-1933 |
Gymnasiallehrer für Philosophie
in Le Havre. Seinem Ideal der Besitzlosigkeit treu, bezieht
Sartre ein schlichtes Hotelzimmer im Hafenviertel, wo auch die
Arbeiter wohnen. Simone de Beauvoir erhält zur selben Zeit ihre
erste volle Lehrverpflichtung als Philosophielehrerin in
Marseille. Da es für Ehepaare im öffentlichen Dienst die Möglichkeit
gibt, in räumlicher Nähe voneinander beschäftigt zu werden,
bietet Sartre ihr die Heirat an, die Simone aber aus Abneigung
gegen die Ehe als "beschränkende Verbürgerlichung
und institutionalisierte Einmischung des Staates in
Privatangelegenheiten" ablehnt. Sartre und Simone de
Beauvoir beschließen eine dauernde Verbindung, in der jeder
seine Unabhängigkeit behalten und dem anderen ein völlig
gleichberechtigter Partner sein soll: Wir
schlossen einen weiteren Pakt: weder würden wir einander je
belügen noch etwas voreinander verbergen. Die <petits
camarades> empfanden den größten Abscheu vor dem
sogenannten <Innenleben>. In jenen Gärten, wo die edlen
Seelen zarte Geheimnisse hegen, sahen sie nur stinkenden
Morast; dort war die heimliche Brutstätte für Lug und Trug,
dort labte man sich an den fauligen Wonnen des Narzißmus. Um
diese Schatten und Miasmen zu verscheuchen, stellten sie ihr
Leben, ihre Gedanken, ihre Gefühle öffentlich zur Schau.
Begrenzt wurde dieser Drang nach Zurschaustellung nur durch
ihren Mangel an Neugier: wer zu viel von sich sprach,
langweilte die anderen. Aber zwischen Sartre und mir galt
diese Einschränkung nicht: es wurde also abgemacht, daß wir
einander alles sagen würden. Ich war an Schweigen gewöhnt,
und die Befolgung dieser Regel fiel mir zunächst schwer. Aber
ich begriff schnell ihre Vorteile; ich brauchte mich nicht
mehr mit mir selbst auseinanderzusetzen: ein Blick,
wohlwollend zwar, aber unparteiischer als mein eigener,
lieferte mir von jeder meiner Bewegungen ein Abbild, das ich
für objektiv hielt; diese Kontrolle schützte mich vor
Ängsten, falschen Hoffnungen, müßigen Zweifeln,
Hirngespinsten, den Erregungszuständen, gängigen
Begleiterscheinungen der Einsamkeit. Ich trauerte der
Einsamkeit nicht nach, im Gegenteil, ich war glücklich, ihr
entronnen zu sein. In Sartre konnte ich hineinsehen wie in
mich selbst: welche Beruhigung! (6) |
1933-1934 |
Stipendiat am Institut
Français
in Berlin. Studium der zeitgenössischen deutschen
Philosophie, namentlich Husserls Phänomenologie und Heideggers
Existenzphilosophie, aber auch der Philosophie Friedrich
Nietzsches und der dialektischen Methode Hegels, der er sich
später meisterhaft zu bedienen wußte. Sartres Denken
unterscheidet sich aber insofern von seinen deutschen
Vorbildern, als er seine phänomenologische Ontologie innerhalb
der streng rationalistischen cartesischen Tradition ansiedelt
und dadurch seinem Existenzialismus das typisch französische
Gepräge gibt. Sartre wird sich
später strikt auf das rein phänomenologisch Erfahrbare
und rational Beschreibbare stützen und daher etwa den Physiker vorwerfen,
daß sie in ihrer Hypothesenbildung unberechtigterweise über
das phänomenologisch Gegebene hinausgehen. Aus dem gleichen
Grund lehnt Sartre später auch Sigmund Freuds
irrationalen Begriff des
Unbewußten und seine darauf gestützte Trieblehre als pure
unverifizierbare Hypothesen ab und setzt statt dessen seinen
Begriff der Nicht-Aufrichtigkeit (mauvaise
foi) zu sich selbst, der Selbsttäuschung:
Da ist zum Beispiel eine Frau,
die zu einem ersten Rendezvous geht. Sie kennt sehr genau die
Absichten, die der Mann, der mit ihr spricht, in bezug auf sie
hat. Sie weiß auch, daß sie sich früher oder später
irgendwie entscheiden muß. Aber sie will von dem Drängen
nichts merken: sie hält sich allein an das, was die Haltung
ihres Partners an Respektvollem und Zurückhaltendem sehen
läßt. Sie faßt dieses Verhalten nicht als einen Versuch
auf, das ins Werk zu setzen, was man «die ersten
Annäherungen» nennt, das heißt, sie will die Möglichkeiten
zeitlicher Fortentwicklung nicht sehen, die diese Haltung in
sich trägt: sie schränkt dieses Benehmen auf das ein, was es
in der Gegenwart ist, sie will aus den Worten, die man an sie
richtet, nichts anderes heraushören als ihren offenbaren
Sinn; wenn man zu ihr sagt: «Ich bewundere Sie so sehr», so
nimmt sie diesem Satz seinen sexuellen Hintergrund, sie legt
dem Gespräch und dem Benehmen ihres Partners unmittelbare
Bedeutung bei, die sie wie objektive Eigenschaften betrachtet.
Der Mann, der mit ihr redet, erscheint ihr aufrichtig und
respektvoll, so wie der Tisch rund oder viereckig, so wie die
Wand blau oder grau gemalt ist. Und die Eigenschaften, die in
dieser Weise der Person, der sie zuhört, beigelegt worden
sind, erstarren zu einer dinglichen Fortdauer, die nichts
anderes ist als die Projektion ihrer strikten Gegenwart auf
den zeitlichen Ablauf. Sie weiß also nicht über das
Bescheid, was sie wünscht: sie ist zutiefst empfänglich für
die Begierde, die sie erregt, aber diese rohe und unverhüllte
Begierde würde sie erniedrigen und würde bei ihr Abscheu
hervorrufen. Indessen würde sie nichts Reizvolles an einem
Respekt finden, der einzig und allein Respekt wäre. Um sie
zufriedenzustellen, bedarf es eines Gefühls, das sich
ungeteilt an ihre Person wendet, das heißt an ihre
vollkommene Freiheit, und das eine Anerkenntnis ihrer Freiheit
ist. Aber gleichzeitig muß dieses Gefühl ganz und gar
Begierde sein, das heißt, es muß sich an ihren Körper als
Gegenstand der Begierde wenden. In unserem Falle weigert sie
sich also, die Begierde als das aufzufassen, was sie ist, sie
gibt ihr nicht einmal einen Namen, sie erkennt sie nur in dem
Maße, in dem die Begierde sich in Richtung auf die
Bewunderung, die Hochschätzung, den Respekt transzendiert, so
daß sie nur noch als eine Art von Wärme und Verdichtung der
Situation erscheint. Aber jetzt ergreift man ihre Hand. Diese
Handlung ihres Gesprächspartners enthält die Gefahr, die
Situation zu verändern, indem sie zu einer unmittelbaren
Entscheidung aufruft: dem Manne diese Hand überlassen heißt:
dem Flirt von sich aus zuzustimmen, sich darin zu engagieren.
Sie zurückziehen heißt, die unklare und schwankende Harmonie
zu zerstören, die den Reiz der Stunde ausmacht. Es kommt
darauf an, den Augenblick der Entscheidung so weit wie
möglich hinauszuschieben. Man weiß, was nun geschieht: die
junge Frau überläßt ihm ihre Hand, aber sie merkt nicht,
daß sie sie ihm überläßt. Sie merkt es nicht, weil es sich
zufällig so fügt, daß sie in diesem Augenblick ganz Geist
ist. Sie reißt ihren Partner mit fort bis in die höchsten
Höhen empfindsamer Spekulation, sie redet vom Leben im
allgemeinen, von ihrem Leben im besonderen; sie zeigt sich von
ihrer wesenhaften Seite: eine klare bewußte Persönlichkeit.
Und inzwischen vollendet sich die Trennung von Leib und Seele;
die Hand ruht regungslos zwischen den warmen Händen ihres
Partners: weder zustimmend noch widerstrebend - eine Sache. (7) |
1934-1936 |
Gymnasiallehrer für Philosophie
in Le Havre |
Sartre als Soldat, 1939
"To be or not to be"
Sartre mit Simone de Beauvoir, 1947
Sartre mit Simone de Beauvoir in Schweden, 1954
Szene aus "Huis
Clos"
"Die Fliegen"
Skizze von Herta Böhm für die deutsche Erstaufführung 1947 am Schauspielhaus Düsseldorf unter der Regie von Gustav Gründgens
Albert Camus, 1959/1960
Sartre und Simone de Beauvoir
in Rio de Janeiro, 1960
|
1936 |
L 'Imagination
(Über die Einbildungskraft)
La Transcendance de l'ego. Esquisse d'une description
phénomenologique (Die Transzendenz des Ego. Versuch einer
pänomenologischen Beschreibung) |
1936-1937 |
Gymnasiallehrer für Philosophie
in Laon |
1937-1939 |
Lehrer für Philosophie am Lycee
Pasteur in Paris. -
Mitarbeit an verschiedenen Zeitschriften |
1938 |
La Nausee (Der Ekel)
- ein Roman, der die Freiheit, aber auch die Einsamkeit des
Menschen schildert. |
1939 |
Esquisse d'une theorie des
emotions (Entwurf einer Theorie der Emotionen)
Le Mur (Die Mauer).
Sartre wird als Krankenträger
zum Kriegsdienst einberufen. |
1940 |
Juni: Sartre kommt in deutsche
Kriegsgefangenschaft. -
L'lmaginaire. Psychologie phénoménologique de
l'imagination (Das Imaginäre. Phänomenologische
Psychologie der Einbildungskraft) |
1941 |
April: Flucht aus der
Gefangenschaft. Wiederaufnahme der Lehrtätigkeit am Lycee
Pasteur |
1942-1944 |
Professor am Lycee Condorcet in
Paris. Aktive Mitarbeit in der Widerstandsbewegung |
1943 |
Mit seinem ersten
philosophischen Hauptwerk L'Être
et le Néant (Das Sein und das Nichts - Versuch einer
phänomenologischen Ontologie) begründet
Sartre seinen atheistisch geprägten Existenzialismus, der die
absolute Freiheit des Menschen, zugleich aber auch seine
absolute eigene Verantwortung für die Welt betont - ohne
Gott, ohne Gnade - und auch ohne Reue: der Mensch ist das, was
er selbst aus sich macht. Anders
als den Dingen draußen im Raum kommt dem Menschen nicht von
vorneherein ein vorgegebenes naturhaftes Wesen, kein An-sich
zu. Oder anders gesagt: das menschliche Da-sein, seine
Existenz, geht seinem Wesen, seinem So-sein, seiner
Essenz, die er sich selbst erst im Laufe des Lebens schafft,
voraus. Ja, der Mensch vernichtet in sich das
naturhafte Sein, bringt so das Nicht-Sein, das Nichts
in die Welt, und gewinnt gerade dadurch den Freiraum, er
selbst zu werden und sich dabei zugleich seiner selbst bewußt
zu werden: Das Bewußtsein ist nicht, was es ist, und es
ist, was es nicht ist - so oder ähnlich hat das
Sartre auf scheinbar ganz paradoxe Weise wiederholt
formuliert. Dieses Nichts, das sind die noch unverwirklichten
Möglichkeiten, die dem Menschen offenstehen, und durch die er
sein momentanes Sein, das er als Ergebnis seiner Vergangenheit
bereits geworden ist, jederzeit transzendieren, überschreiten
kann, indem er sie durch sein Tun faktisch verwirklicht und
sich selbst damit zu einem neuen Sein umschafft. Das ist ein
lebenslang unaufhaltbarer dynamischer Prozeß der Selbst-gestaltung,
der Selbst-verwirklichung, der erst mit dem Tod endet,
durch den das Leben in dem faktischen Dasein der abgelebten
Lebensgeschichte nun für immer unabänderlich erstarrt. Dabei erlebt sich der Mensch
zunächst als Subjekt in einer ihn umgebenden Welt von
Objekten - das ist ganz cartesianisch gedacht. Aber der Mensch ist als Subjekt nicht für sich
alleine in der Welt, sondern erlebt sich zusammen mit anderen
Menschen. Das wesentliche Erlebnis dabei ist, von den anderen
gesehen, erblickt, betrachtet zu werden. Sartre äußert sich
darüber in dem zentralen Abschnitt über den Blick (le
regard) so: Kurz,
das, worauf sich meine Auffassung des anderen in der Welt als wahrscheinlich
ein Mensch seiend bezieht, ist meine ständige
Möglichkeit, von-ihm-gesehen-zu-werden, das heißt, die
ständige Möglichkeit für ein Subjekt, das mich sieht, sich
an die Stelle des von mir gesehenen Objektes zu setzen. Das «Vom-anderen-gesehen-werden»
ist die Wahrheit des «den-anderen-Sehens». Demnach kann
der Begriff des anderen unter keinen Umständen ein allein
seiendes und außerweltliches Bewußtsein meinen, das ich
nicht einmal denken kann: der Mensch wird in bezug auf die
Welt und in bezug auf mich selbst definiert... (8) Und
weiter: Niemals
kann man Augen, die einen ansehen, schön oder häßlich
finden, kann man ihre Farbe feststellen. Der Blick des anderen
verbirgt seine Augen, er scheint vor ihnen zu stehen... Ich
kann also meine Aufmerksamkeit nicht auf den Blick lenken,
ohne daß meine Wahrnehmung sich im gleichen Augenblick
auflöst und in den Hintergrund tritt. Es geschieht hier etwas
demjenigen Analoges, was ich an anderer Stelle zum Thema des
Eingebildeten (L'Imaginaire) zu zeigen versucht habe;
wir können, sagte ich dort, nicht gleichzeitig wahrnehmen und
einbilden, es kann nur das eine oder das andere sein. Hier
würde ich gerne sagen: wir können nicht die Welt wahrnehmen
und gleichzeitig einen auf uns gehefteten Blick erfassen; es
kann nur das eine oder das andere geschehen. Wahrnehmen ist
nämlich erblicken, und einen Blick erfassen ist nicht
ein Blick-Objekt in der Welt auffassen (es sei denn, dieser
Blick wäre nicht auf uns gerichtet), es ist vielmehr
Bewußtsein davon erlangen, erblickt zu werden. Der Blick, den
die Augen offenbaren, von welcher Art sie auch sein mögen,
ist reine Verweisung auf mich selbst. (9) Erblickt-zu-werden
ist dabei kein bloß neutraler Vorgang, er ist wertend und
immer auch ein Ertappt- oder Beurteilt-werden, ein Verurteilt-
oder Anerkannt-werden. Das Auge des anderen wird so zu einem
Spiegel in dem ich mich selbst so erblicke, wie mich der andere
sieht. Ich blicke vielleicht gerade heimlich durch ein
Schlüsselloch; während ich so hindurchstarre, bin ich ganz
dem hingegeben, was ich dabei verbotenerweise sehe, bin gar
nicht bei mir selbst, sondern ganz in der Welt draußen.
Plötzlich werde ich ertappt, werde von einem anderen
erblickt, und durch dieses Erblickt-werden beginne ich mich zu
schämen. Diese Scham verweist mich auf mich selbst, ich
erkenne mich als das, was ich bin - ein heimlicher Spanner. So
wird mir durch den Blick des anderen mein eigenes Sein
offenbar. Indem sich mein Selbstbewußtsein am Blick des anderen entzündet, ja durch ihn geschenkt wird, werde ich mir
aber zugleich der tragischen Abhängigkeit von diesem anderen
bewußt - die Kernaussage von "Huis Clos" ist so
nicht mehr fern: "die Hölle, das sind die
andern." (12) In "Huis Clos"
geht Sartre über seinen ersten theoretischen Ansatz hinaus,
indem sehr deutlich wird, daß es keineswegs gleichgültig ist
wer uns anblickt: der, dem wir das kompetenteste Urteil
über uns selbst zugestehen, nimmt uns zugleich auch am
meisten gefangen, von ihm machen wir uns am stärksten
abhängig. In "Der Teufel und der liebe Gott" stellt
sich das so dar: GÖTZ:
Hilda, ich brauche das Urteil eines anderen. Jeden Tag, jede
Stunde verurteile ich mich, aber es gelingt mir nicht, mich zu
überzeugen, weil ich mich zu gut kenne, um mir zu trauen. Ich
sehe meine Seele nicht mehr, weil ich sie vor der Nase habe: Jemand
muß mir seine Augen leihen.
HILDA: Nimm meine.
GÖTZ: Du siehst mich auch nicht: Du liebst mich.
Heinrich haßt mich, darum kann er mich überzeugen: Wenn
meine Gedanken aus seinem Mund kommen, glaube ich daran. (18) Vielleicht wird in dieser ganzen Situation des Erblickt-werdens aber auch eine leise Tartufferie
sichtbar, in die wir verfallen könnten: Und
schließlich sündigt man im tiefsten Sinn nur dann, wenn es
die böse Welt erfährt: geheime Sünde ist nicht tadelnswert.
(14) Erblickt-zu-werden
stellt für Sartre gewissermaßen den eigentlichen Sündenfall
dar. Entrinnen
kann ich dieser ganzen Situation nur, indem ich mir meiner eigenen
Freiheit bewußt werde, der Möglichkeit, das Sein, das mir
durch den anderen zugebilligt wird und in dem er mich
erstarren lassen will, zu transzendieren, zu überschreiten. In diesem
eigenverantwortlichen Entwerfen meiner Möglichkeiten
erfahre ich mich in einem höheren Sinn als Selbstheit und
befreie mich von der Versklavung durch den anderen - aber der
Sieg bleibt doch stets ein fragwürdiger, da die Bedrohung
durch den anderen niemals endet.
Les Mouches (Die Fliegen) thematisiert das Thema
der Freiheit und war zugleich ein versteckter Protest gegen
die deutsche Besatzung - allerdings offenbar so versteckt,
daß das Stück die deutsche Zensur passieren konnte: Wenn erst
einmal die Freiheit in einer Menschenseele aufgebrochen ist,
vermögen die Götter nichts mehr gegen diesen Menschen. (10)
Juptier zu Ägist in
"Die Fliegen", Zweites Bild, 5. Szene
Sartre wird Mitglied des "Comité National des
Ecrivains" (C.N.E.), das der Résistance nahesteht. |
1944 |
Sartre arbeitet bei der von Albert
Camus gegründeten Zeitschrift "Combat" mit. |
1945 |
Sartre gibt den Lehrerberuf
endgültig auf und
lebt seitdem als freier Schriftsteller im Quartier
Saim-Germain-des-Pres in Paris und arbeitet als Amerika-Korrespondent für die Zeitungen »Combat« und »Figaro«. - Sehr scharf
unterscheidet Sartre zwischen Dichtung und Literatur und tritt
entschieden für eine "Littératur engagée"
ein: Dichter sind
Leute, die sich weigern, die Sprache zu benutzen...
Tatsächlich hat der Dichter sich entschlossen von der
Sprache als Instrument zurückgezogen; er hat ein für allemal
die dichterische Haltung gewählt, die die Wörter als Dinge
und nicht als Zeichen betrachtet. Denn die Doppeldeutigkeit
des Zeichens schließt ein, daß man es nach Belieben wie eine
Glasscheibe durchdringen und daß man durch das Zeichen
hindurch das bezeichnete Ding verfolgen kann, oder daß man
den Blick auf seine Realität richten und es als Objekt
betrachten kann. Der sprechende Mensch steht jenseits der
Wörter, bei dem Objekt; der Dichter steht diesseits der
Wörter. Für ersteren sind die Wörter Diener, für letzteren
bleiben sie in einem Zustand der Wildheit. Für jenen handelt
es sich um zweckdienliche konventionelle Formen, um Werkzeuge,
die sich allmählich abnutzen und die man wegwirft, wenn sie
einem nicht mehr dienen können; beim zweiten handelt es sich
um naturgegebene Dinge, die ganz natürlich auf der Erde
wachsen wie das Gras und die Bäume. (11)
Gründung und Leitung der
politisch-literarischen Zeitschrift «Les Temps Modernes». -
Der Versuch der Gründung einer nichtkommunistischen
Linkspartei, des «Rassemblement Democratique Revolutionnaire»,
schlägt fehl. -
Reise in die USA. -
L'Âge
de raison. Les Chemins de la liberté. T.1. (Zeit der
Reife. Die Wege der Freiheit. Bd.1.)
Le Sursis. Les Chemins de la liberté. T.2. (Der Aufschub. Die Wege der
Freiheit. Bd.2.)
Huis clos (Geschlossene Gesellschaft): Also
das ist die Hölle. Ich hätte es nie geglaubt ... Wißt ihr
noch: Schwefel, Scheiterhaufen, Rost... Was für Albernheiten.
Ein Rost ist gar nicht nötig, die Hölle, das sind die
andern. (12)
Garcin
in "Geschlossene Gesellschaft"
"Die Hölle, das sind die andern" — insofern , als man sich von Geburt an in einer Situation, in die man geworfen wurde, befindet, eine Situation, die einen zwingt, sich unterzuordnen. Sie können als Sohn eines Reichen oder eines Algeriers oder eines Arztes oder eines Amerikaners zur Welt kommen. Von Anfang an ist Ihre Zukunft vorgezeichnet, eine Zukunft, die andere für Sie geschaffen haben; die anderen haben Sie zwar nicht direkt geschaffen, aber Sie sind Teil einer Gesellschaftsordnung, die aus Ihnen macht, was Sie sind. Wenn Sie Sohn eines Bauern sind, dann zwingt die Gesellschaftsordnung Sie, in die Stadt zu gehen, wo Maschinen auf Sie warten, zu deren Bedienung Leute gebraucht werden wie Sie. Also ist es Ihr Schicksal, ein bestimmter Typ Arbeiter zu werden, ein Kind vom Land, das durch eine bestimmte Art kapitalistischen Drucks aus seinem Heimatort vertrieben wurde. Die Fabrik ist eine Funktion Ihres Seins, aber was ist es denn genau, Ihr "Sein"? Es ist die Arbeit, die Sie tun, eine Arbeit, die Sie völlig beherrscht, weil sie Sie verschleißt — während gleichzeitig Ihr Lohn es ermöglicht, Sie genau nach Ihrem Lebensstandard zu klassifizieren. Dies alles ist Ihnen von den anderen aufgezwungen worden. Die "Hölle" ist der angemessene Ausdruck, um diese Art Dasein zu beschreiben. Nehmen Sie doch nur ein Kind, das zwischen 1930 und 1935 in Algerien geboren wurde. Tod und Folter waren in sein Schicksal eingeschrieben. Auch das ist Hölle.
(13)
Da Sartre sich in
vielen Diskussionen sehr energisch für den Kommunismus
engagierte, kam es zum Bruch mit Raymond Aron, André Gide, André Malraux und anderen.
|
1946 |
L'Existentialisme est un
humanisme (Ist der Existentialismus ein Humanismus?)
Reflexions sur la queslion juive (Betrachtungen zur Judenfrage.
Psychoanalyse des Antisemitismus)
Morts sans sépulture (Tote ohne Begräbnis)
La Putain respectueuse (Die ehrbare Dirne) |
Jean-Paul Sartre, 1949
|
1947 |
Situations I.
Baudelaire.
Les
Jeux sont faits (Das Spiel ist aus) 2.
Juni: Philosophisches Streitgespräch, u.a. mit Jean
Hyppolite,
in der Société Française de
Philosophie über das Thema «Conscience de soi et
connaissance de soi» (Bewußtsein und Selbsterkenntnis).
Darin wird besonders Sartres ablehnende Haltung gegen den
psychoanalytischen Begriff des Unbewußten deutlich: Es
gibt da eine Illusion der Psychoanalytiker. In allen Fällen,
in denen man sich auf das Unbewußte beruft, könnte man sich
auf andere Begriffe berufen; und selbst, wenn bestimmte dieser
Begriffe nicht so umfassend wären, müßte man den Begriff
des Unbewußten korrigieren und alle Schwierigkeiten sehen,
die er nach sich zieht...
Ich frage zunächst, ob man
nicht auf andere Weise als durch das Unbewußte über
Tatsachen Rechenschaft geben kann, die man dem Unbewußten
zuschreibt; und ich stelle fest, daß in vielen Fällen
Begriffe, die Begriffe des reinen Bewußtseins sind, wie die Unaufrichtigkeit
[mauvaise foi], viel besser über bestimmte innere Dialektiken
Rechenschaft geben können als ein Unbewußtes, das ja nur als
exklusiver Typ von Tatsachen, die sich nebeneinander
präsentieren, aufgefaßt werden kann, und nicht als
Dialektik...
Entweder akzeptieren wir
eine Theorie des Bewußtseins, das durch und durch Bewußtsein
ist, und müssen das Unbewußte ablehnen; oder wir gehen von
der entgegengesetzten Idee aus, und das Bewußtsein
verschwindet, wird unerklärlich, wie in allen psychologischen
Abhandlungen, die ich gelesen habe oder kenne. Es wird ein
Zettel, den man von Zeit zu Zeit an ein Phänomen hängt, das
bald bewußt, bald unbewußt ist; das ist völlig
unbegreiflich, da jede psychische Tatsache als Seinsdimension
nur das anfängliche Sein haben kann... (15) |
1948 |
Der Vatikan setzt Sartres Werke auf den
«Index librorum prohibitorum».
-
Sartre diskutiert in Berlin öffentlich über seine
Philosophie und sein Schaffen. -
Situations II.
Les Mains sales (Die scmutzigen Hände) - thematisiert die
problematische Beziehung von Politik und Moral.
L'Engrenage (Im Räderwerk) |
1949 |
Situations III.
La Mort dans l'âme.
Les Chemins
de la liberté. T.3. (Der Pfahl im Fleische. Die Wege der
Freiheit. Bd.3.) |
"Le Diable et le bon
Dieu"
Vorbereitung zur Pariser Aufführung mit Pierre Brasseur als Götz
|
1950 |
Sartre spricht in Frankfurt a.
M. -
Reisen nach Afrika und Italien |
1951 |
Le
Diable et le bon Dieu (Der Teufel und der liebe Gott) - der
Mensch in der Auseinandersetzung mit seinen Mitmenschen, auf
der Suche nach sich selbst und nach dem Absoluten, von dem
sich schließlich herausstellt, das es das nicht gibt: Ich
flehte, ich bettelte um ein Zeichen, ich sandte dem Himmel
Botschaften: Keine Antwort. Der Himmel kennt nicht einmal
meinen Namen. Ich habe mich jede Minute gefragt, was ich in
Gottes Augen sein könnte. Jetzt weiß ich die Antwort:
Nichts. Gott sieht mich nicht. Gott hört mich nicht, Gott
kennt mich nicht. Siehst du diese Leere über unseren Köpfen?
Das ist Gott. Siehst du diesen Spalt in der Tür? Das ist
Gott. Siehst du das Loch in der Erde? Auch das ist Gott. Das
Schweigen ist Gott. Die
Abwesenheit ist Gott. Gott ist die Einsamkeit des Menschen.
Nur ich war da: Ich habe allein über das Böse entschieden;
allein habe ich das Gute gefunden. Ich habe gemogelt, ich habe
Wunder getan, ich klage mich heute an, ich allein kann mich
freisprechen; ich, der Mensch. Wenn
Gott existiert, ist der Mensch nichts; wenn der
Mensch existiert ... (16) Götz,
der "Held" des Dramas, ist gleichsam Sartres "Faust".
Das Reich
des Menschen ist angebrochen - aber es ist kein
Reich, das große Hoffnungen verspricht, wenn Götz sagt: Die
Menschen von heute werden als Verbrecher geboren. Ich muß
meinen Anteil an ihren Verbrechen einfordern, wenn ich meinen
Anteil an ihrer Liebe und ihren Tugenden haben will. Ich wollte
die reine Liebe: Wie albern! Sich lieben heißt denselben
Feind hassen: Ich werde mir also euren Hass zu eigen machen. Ich
wollte das Gute: Wie töricht! Auf dieser Erde und in dieser Zeit
sind Gut und Böse untrennbar: Ich bin bereit, böse zu
sein, um gut zu werden. (17) |
1952 |
Sartre wird
Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, akzeptiert öffentlich
die "führende Rolle der Sowjetunion" in der
Weltpolitik und nimmt am kommunistischen «Völkerkongreß
für den Frieden» in Wien teil. -
Öffentliche Auseinandersetzung
mit seinem ehemaligen Freund und späteren philosophischen und
politischen Gegner Albert
Camus. -
Saint
Genet, comédien et martyr (Saint Genet, Komödiant und
Märtyrer) |
Sartre am kommunistischen «Völkerkongreß
für den Frieden» in Wien.
Jean-Paul Sartre in Wien, 1952
Gustave Flaubert
(1821-1880)
Jean-Paul Sartre in den siebziger Jahren
|
1953 |
Sartre spricht in Freiburg i. B.
L'Affaire Henri Martin (Wider das Unrecht) |
1954 |
Kean.
Adaptation de la comédie d'Alexandre Dumas (Kean oder
Unordnung und Genie. Ein Stück nach Alexandre Dumas) |
1954-1955 |
Reise nach Rußland und China |
1956 |
Sartre
distanziert sich von der Kommunistischen Partei und protestiert öffentlich
gegen das sowjetische Vorgehen in Ungarn (Le Fantôme
de Staline). -
Nekrassov (Nekrassow) |
1960 |
Reise nach Kuba. -
Critique
de la raison dialectique, T.1. (Kritik
der dialektischen Vernunft, Bd.1.) - Sartres zweites
philosophisches Hauptwerk.
Les
Sequestrés d'Altona (Die Eingeschlossenen von Altona) |
1961 |
Merleau-Ponty
vivant |
1962 |
Marxisme et
existentialisme. Controverse sur la dialectique
(Existentialismus und Marxismus. Eine Kontroverse zwischen
Sartre, Garaudy, Hyppolite, Vigier und Orcel) |
1964 |
The Nobel Prize in Literature 1964
"for his work which, rich in ideas and filled with the spirit of freedom and the quest for truth, has exerted a far-reaching influence on our age" Sartre erhält den Nobelpreis
und lehnt ihn aus "persönlichen und objektiven
Gründen" ab - das Nobelpreiskomitee erklärt
aber die Entscheidung für Sartre als unwiderruflich.
SituationsIV bis VI.
Les Mots (Die Wörter) - Sartres autobiographischer
Bericht über seine Jugendzeit.
Qu'est-ce que la littérature? (Was ist Literatur? -
Separatdruck aus Situations II) |
1965 |
Siluations VII.
Euripide: Les
Troyennes (Die Troerinnen des Euripides) |
1968 |
Während der Pariser
Studentenunruhen leiht Sartre dem Protest seine Stimme, zieht
sich aber nach und nach resigniert aus dem politischen Leben
zurück. |
1970 |
Bariona, ou le Fils du
tonnerre (Bariona oder der Donnersohn) |
1971 |
L 'Idiot de la famille,
T.
I und II (Der Idiot der Familie, Bde. 1 und 2)
Diese großangelegte Psychographie und Interpretation Flauberts
sollte das letzte literarische Vermächtnis Sartres werden. |
1972 |
Situations VIII und IX.
L'Idiot de la famille, Bd. III (Der
Idiot der Familie, Bd.3) |
1973-1974 |
Sartre leitet die links
orientierte Tageszeitung "Libération". |
1974 |
Besuch bei Andreas
Baader im Gefängnis Stuttgart-Stammheim; Sartre
meint, daß er "aufrichtig versucht habe, Prinzipien
in die Tat umzusetzen". |
1975 |
Anläßlich Sartres 70.
Geburtstages würdigt die Weltpresse in zahlreichen Artikeln
das Lebenswerk des "eigenwilligen Revolutionärs". |
1976 |
Situations
X
Sartre wird die Ehrendoktorwürde der Hebräischen
Universität Jerusalem zuerkannt. |
1980 |
15. April: Jean-Paul
Sartre stirbt in Paris |
1981 |
Simone de Beauvoir
veröffentlicht das Buch La Cérémonie des adieux,
suivi de Entretiens avec Jean-Paul Sartre (Die
Zeremonie des Abschieds und Gespräche mit Jean-Paul Sartre),
in dem sie völlig offen und mit schonungsloser Authentizität
über die letzten Lebensjahre und das Siechtum Sartres
berichtet.
La Dernière Chance. Les
Chemins de la liberté. T.4. (Die letzte Chance. Die Wege
der Freiheit. Bd.4.)
|
1983 |
Cahiers
pour une morale
Herausgabe von Sartres Briefen
unter dem Titel Lettres au Castor et à quelques
autres (Briefe an Simone de Beauvoir und andere) durch Simone de Beauvoir.
|
1984 |
Le Scénario Freud
(Freud. Das Drehbuch)
|
1985 |
Critique de la raison
dialectique, T.2. (Kritik
der dialektischen Vernunft, Bd.2.) |
|
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Literatur
- zit. nach Walter Biemel, Sartre,
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, 28. Aufl., Reinbeck bei
Hamburg 1998, S 9
- Jean-Paul Sartre, Das Sein und das
Nichts, Rowohlt Verlag, Hamburg 1989, S 106
- Jean-Paul Sartre, Die Wörter,
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
Hamburg 1997, S141
- Jean-Paul Sartre, Briefe an Simone de
Beauvoir 1, 1926-1939,
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
Hamburg 1984, S 9ff
- Simone de Beauvoir, In den besten
Jahren, Reinbeck 1961, S 23
- Ebd., S 24
- Sartre 1989, a.a.O., S 101f
- Ebd., S 343
- Ebd., S 344f
- Jean-Paul Sartre, Die Fliegen,
1943, Zweites Bild, 5. Szene
- Jean-Paul Sartre, Was ist
Literatur?, Hamburg 1958, S 11
- Jean-Paul Sartre, Geschlossene
Gesellschaft, 1945, letzte Szene
- Sartre im Interview mit dem Magazin Playboy, 1965
- Jean
Baptiste Moliere, Tartuffe, 4. Aufzug, 5. Szene
- Jean-Paul Sartre, Bewußtsein und
Selbsterkenntnis,
Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
Hamburg 1986, 74ff
- Jean-Paul Sartre, Der Teufel und der
liebe Gott, 4. Aufl., Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbeck bei
Hamburg 2001, S 158
- Ebd. S 163
- Ebd. S 152
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