Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?
(Berlin, 1904/1905)
VORREDE ZUR DRITTEN AUFLAGE
(1909)
VORREDE ZUR FÜNFTEN AUFLAGE
(1914)
NACHWORT ZUM ACHTEN BIS ELFTEN
TAUSEND (1918)
Kontrolle der Gedanken und
Gefühle
DIE BEDINGUNGEN ZUR GEHEIMSCHULUNG
ÜBER EINIGE WIRKUNGEN DER
EINWEIHUNG
VERÄNDERUNGEN IM TRAUMLEBEN DES
GEHEIMSCHÜLERS
DIE ERLANGUNG DER KONTINUITÄT DES
BEWUSSTSEINS
DIE SPALTUNG DER PERSÖNLICHKEIT
WAHREND DER GEISTESSCHULUNG
LEBEN UND TOD. DER GROSSE HUTER
DER SCHWELLE
Es erscheinen hiermit als Buch
meine Ausführungen, welche ursprünglich als einzelne Aufsätze unter dem Titel
«Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» abgedruckt waren. Zunächst
wird dieser Band den ersten Teil bringen; ein folgender wird die Fortsetzung
enthalten. Diese Arbeit über die Entwickelung des Menschen zum Erfassen der
übersinnlichen Welten soll nicht in neuer Gestalt vor die Welt treten ohne
einige Geleitworte, welche ihr hiermit vorgesetzt werden. Die in ihr
enthaltenen Mitteilungen über die Seelenentwickelung des Menschen möchten
verschiedenen Bedürfnissen dienen. Zunächst soll denjenigen Personen etwas
gegeben werden, welche sich hingezogen fühlen zu den Ergebnissen der
Geistesforschung und welche die Frage aufwerfen müssen: Ja, woher haben
diejenigen ihr Wissen, welche behaupten, etwas über hohe Rätselfragen des
Lebens sagen zu können? Die Geisteswissenschaft sagt über solche Rätsel etwas.
Wer die Tatsachen beobachten will, welche zu diesen Aussagen führen, der muß zu
übersinnlichen Erkenntnissen aufsteigen. Er muß den Weg gehen, welcher in dieser
Schrift zu schildern versucht wird. Doch wäre es ein Irrtum, zu glauben, daß
die Mitteilungen der Geisteswissenschaft für den wertlos seien, der nicht
Neigung oder Möglichkeit hat, diesen Weg selbst zu gehen. Um die Tatsachen zu erforschen, muß man die Fähigkeit haben,
in die übersinnlichen Welten hineinzutreten. Sind sie aber erforscht und werden
sie mitgeteilt, so kann auch derjenige, welcher sie nicht selber wahrnimmt,
sich eine hinreichende Überzeugung von der Wahrheit der Mitteilungen
verschaffen. Ein großer Teil derselben ist ohne weiteres dadurch zu prüfen, daß
man die gesunde Urteilskraft in wirklich unbefangener Weise auf sie anwendet.
Man wird sich nur nicht in dieser Unbefangenheit stören lassen dürfen durch
alle möglichen Vorurteile, die einmal im Menschenleben so zahlreich vorhanden
sind. Es wird zum Beispiel leicht vorkommen, daß jemand findet, dies oder jenes
vertrage sich nicht mit gewissen wissenschaftlichen Ergebnissen der Gegenwart.
In Wahrheit gibt es kein wissenschaftliches Ergebnis, welches der geistigen
Forschung widerspricht. Doch kann man leicht glauben, daß dieses oder jenes wissenschaftliche Urteil zu den
Mitteilungen über die höheren Welten nicht stimme, wenn man nicht allseitig und
unbefangen die wissenschaftlichen Ergebnisse zu Rate zieht. Man wird finden,
daß, je unbefangener man die Geisteswissenschaft gerade mit den positiven
wissenschaftlichen Errungenschaften zusammenhält, um so schöner die volle
Übereinstimmung erkannt werden kann. – Ein anderer Teil der geisteswissenschaftlichen
Mitteilungen wird sich allerdings mehr oder weniger dem bloßen
Verstandesurteile entziehen. Aber es wird unschwer derjenige ein rechtes
Verhältnis auch zu diesem Teile gewinnen können, welcher einsieht, daß nicht
nur der Verstand, sondern auch das gesunde
Gefühl ein Richter über die Wahrheit sein kann. Und wo dieses Gefühl sich
nicht durch Sympathie oder Antipathie für diese oder jene Meinung treiben läßt,
sondern wirklich unbefangen die Erkenntnisse der übersinnlichen Welten auf sich
wirken läßt, da wird sich auch ein entsprechendes Gefühlsurteil ergeben. – Und
noch manch anderen Weg gibt es zur Bewahrheitung dieser Erkenntnisse für
diejenigen Personen, welche den Pfad in die übersinnliche Welt nicht
beschreiten können und wollen. Solche Menschen können aber gleichwohl fühlen,
welchen Wert diese Erkenntnisse für das Leben haben, auch wenn sie sie nur aus
den Mitteilungen der Geistesforscher erfahren. Ein schauender Mensch kann nicht
ein jeder augenblicklich werden; eine rechte gesunde Lebensnahrung sind aber
die Erkenntnisse des schauenden Menschen für jedermann. Denn anwenden im Leben
kann sie jeder. Und wer es tut, wird bald einsehen, was das Leben mit ihnen auf
allen Gebieten sein kann und was es entbehrt, wenn man sie ausschließt. Die
Erkenntnisse der übersinnlichen Welten erweisen sich, richtig im Leben
angewendet, nicht unpraktisch, sondern im höchsten Sinne praktisch Wenn aber
auch jemand den höheren Erkenntnispfad nicht selbst betreten will, so kann er
doch, wenn er Neigung für die auf demselben beobachteten Tatsachen hat, fragen:
Wie kommt der schauende Mensch zu diesen Tatsachen? Denjenigen Personen, welche
ein Interesse an dieser Frage haben, möchte diese Schrift ein Bild von dem
geben, was man unternehmen muß, um die übersinnliche Welt wirklich
kennenzulernen. Sie möchte den Weg in dieselbe so darstellen, daß auch
derjenige, der ihn nicht selbst geht, Vertrauen gewinnen kann zu dem, was ein
solcher sagt, der ihn gegangen ist. Man kann ja auch, wenn man gewahr wird, was
der Geistesforscher tut, dies richtig finden und sich sagen: die Schilderung
des Pfades in die höheren Welten macht auf mich einen solchen Eindruck, daß ich
verstehen kann, warum die mitgeteilten Tatsachen mir einleuchtend erscheinen.
So soll also diese Schrift jenen dienen, welche in ihrem Wahrheitssinn und
Wahrheitsgefühl für die übersinnliche Welt eine Stärkung und Sicherheit
wünschen. Nicht minder möchte sie aber auch denjenigen etwas bieten, welche den
Weg zu den übersinnlichen Erkenntnissen selbst suchen. Diejenigen Personen
werden die Wahrheit des hier Dargestellten am besten erproben, welche sie in
sich selbst verwirklichen. Wer solch eine Absicht hat, wird gut tun, sich immer
wieder zu sagen, daß bei Darstellung der Seelenentwickelung mehr notwendig ist
als ein solches Bekanntwerden mit dem Inhalte, wie es bei anderen Ausführungen
oftmals angestrebt wird. Ein intimes Hineinleben in die Darstellung ist
notwendig; die Voraussetzung soll man machen, daß man die eine Sache nicht nur durch das begreifen soll, was über sie selbst
gesagt wird, sondern durch manches, was über ganz anderes mitgeteilt wird. Man
wird so die Vorstellung erhalten, daß nicht
in einer Wahrheit das Wesentliche liegt, sondern in dem Zusammenstimmen
aller. Wer Übungen ausführen will, muß das ganz ernstlich bedenken. Eine Übung
kann richtig verstanden, auch richtig ausgeführt sein; und dennoch kann sie
unrichtig wirken, wenn nicht von dem Ausführenden ihr eine andere Übung
hinzugefügt wird, welche die Einseitigkeit der ersten zu einer Harmonie der
Seele auslöst. Wer diese Schrift intim liest, so daß ihm Lesen wie ein
innerliches Erleben wird, der wird sich nicht nur mit dem Inhalte bekannt
machen, sondern auch an dieser Stelle dieses, an einer anderen jenes Gefühl
haben; und dadurch wird er erkennen, welches Gewicht für die Seelenentwickelung dem einen oder dem anderen
zukommt. Er wird auch herausfinden, in welcher Form er diese oder jene Übung,
nach seiner besonderen Individualität, gerade bei sich versuchen sollte. Wenn,
wie hier, Beschreibungen in Betracht kommen von Vorgängen, welche erlebt werden sollen, so erweist sich
als notwendig, daß man auf den Inhalt immer wieder zurückgreife; denn man wird
sich überzeugen, daß man manches erst dann für sich selbst zu einem
befriedigenden Verständnis bringt, wenn man es versucht hat und nach dem
Versuche gewisse Feinheiten der Sache bemerkt, die einem früher entgehen
mußten.
Auch solche Leser, welche den
Weg, der vorgezeichnet ist, nicht zu gehen beabsichtigen, werden in der Schrift
manches Brauchbare für das innere Leben finden: Lebensregeln, Hinweise, wie
dies oder jenes sich aufklärt, was rätselhaft erscheint und so weiter.
Und mancher, der durch seine
Lebenserfahrung dieses oder jenes hinter sich hat, in mancher Beziehung eine
Lebenseinweihung durchgemacht hat, wird eine gewisse Befriedigung finden
können, wenn er im Zusammenhange geklärt findet, was ihm im einzelnen
vorgeschwebt hat; was er schon wußte, ohne vielleicht dies Wissen bis zu einer
für ihn selbst hinreichenden Vorstellung gebracht zu haben.
Berlin, 12. Oktober 1909 Rudolf Steiner
Für diese Neuauflage von «Wie
erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?» ist die vor mehr als zehn Jahren
niedergeschriebene Darstellung in allen Einzelheiten wieder durchgearbeitet
worden. Das Bedürfnis nach solcher Durcharbeitung entsteht naturgemäß bei
Mitteilungen über Seelenerlebnisse und Seelenwege von der Art, wie sie in
diesem Buche gegeben sind. Es kann ja keinen Teil innerhalb des Mitgeteilten
geben, mit dem die Seele des Mitteilers nicht innig verbunden bliebe und der
nicht etwas enthielte, das an dieser Seele fortdauernd arbeitet. Es ist wohl
auch kaum anders möglich, als daß mit diesem seelischen Arbeiten sich ein
Streben nach erhöhter Klarheit und Deutlichkeit der vor Jahren gegebenen
Darstellung verbindet. Diesem Streben ist entsprungen, was ich für das Buch bei
dieser Neuauflage zu tun bemüht war. Zwar sind alle wesentlichen Glieder der Auseinandersetzungen, alle Hauptsachen so
geblieben, wie sie waren; und doch sind wichtige
Änderungen vollzogen worden. Ich konnte für eine genauere Charakterisierung im einzelnen an vielen Stellen
manches tun. Und dies schien mir wichtig. Will jemand das in dem Buche
Mitgeteilte in dem eigenen Geistesleben anwenden, so ist es von Bedeutung, daß
er die Seelenwege, von denen die Rede ist, in möglichst genauer
Charakterisierung ins Auge zu fassen vermag. In einem viel höheren Maße als an
die Schilderung der Tatsachen der physischen Welt können sich an diejenige
innerer geistiger Vorgänge Mißverständnisse knüpfen. Das Bewegliche des
Seelenlebens, die Notwendigkeit, diesem Leben gegenüber nie aus dem Bewußtsein
zu verlieren, wie verschieden es ist von allem Leben in der physischen Welt,
und vieles andere, machen solche Mißverständnisse möglich. Ich habe bei dieser
Neuauflage die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, die Stellen des Buches
aufzufinden, wo solche Mißverständnisse entstehen können; und ich habe mich
bemüht, bei der Abfassung ihrem Entstehen entgegenzuarbeiten.
Als ich die Aufsätze schrieb, aus welchen das Buch
zusammengesetzt ist, mußte über manches auch aus dem Grunde anders gesprochen
werden als gegenwärtig, weil ich auf den Inhalt dessen, was ich in den letzten
zehn Jahren über Tatsachen der Erkenntnis geistiger Welten veröffentlicht habe,
damals anders hinzudeuten hatte, als es jetzt, nach der Veröffentlichung, zu
geschehen hat. In meiner «Geheimwissenschaft», in der «Führung des Menschen und
der Menschheit», in «Ein Weg zur Selbsterkenntnis» und besonders in «Die Schwelle
der geistigen Welt», auch in anderen meiner Schriften sind geistige Vorgänge
geschildert, auf deren Vorhandensein dieses Buch vor mehr als zehn Jahren zwar
schon hindeuten mußte, dies aber doch mit anderen Worten, als es gegenwärtig
richtig scheint. Ich mußte damals von vielem, das in dem Buche noch nicht
geschildert wurde, sagen, es könne durch «mündliche Mitteilung» erfahren
werden. Gegenwärtig ist nun vieles von
dem veröffentlicht, was mit solchen Hinweisen gemeint war. Es waren aber diese
Hinweise, die irrtümliche Meinungen bei den Lesern vielleicht nicht völlig
ausschlossen. Man könnte etwa in dem persönlichen
Verhältnis zu diesem oder jenem Lehrer bei dem nach Geistesschulung
Strebenden etwas viel Wesentlicheres sehen, als gesehen werden soll. Ich hoffe,
daß es mir gelungen ist, in dieser neuen Auflage durch die Art der Darstellung
mancher Einzelheiten schärfer zu betonen, wie es bei dem, der Geistesschulung
sucht im Sinne der gegenwärtigen geistigen Bedingungen, viel mehr auf ein
völlig unmittelbares Verhältnis zur
objektiven Geisteswelt als auf ein Verhältnis zur Persönlichkeit eines Lehrers
ankommt. Dieser wird auch in der Geistesschulung immer mehr die Stellung nur
eines solchen Helfers annehmen, die der Lehrende, gemäß den neueren
Anschauungen, in irgendeinem anderen Wissenszweige innehat. Ich glaube genügend
darauf hingewiesen zu haben, daß des Lehrers Autorität und der Glaube an ihn in
der Geistesschulung keine andere Rolle spielen sollten, als dies der Fall ist
auf irgendeinem anderen Gebiete des Wissens und Lebens. Mir scheint viel darauf
anzukommen, daß immer richtiger beurteilt werde gerade dieses Verhältnis des
Geistesforschers zu Menschen, die Interesse entwickeln für die Ergebnisse
seines Forschens. So glaube ich das Buch verbessert zu haben, wo ich das
Verbesserungsbedürftige nach zehn Jahren zu finden in der Lage war.
An diesen ersten Teil soll sich
ein zweiter anschließen. Dieser soll weitere Ausführungen über die
Seelenverfassung bringen, welche den Menschen zum Erleben der höheren Welten
führt.
Die Neuauflage des Buches lag
fertig gedruckt vor, als der große Krieg begann, den die Menschheit gegenwärtig
erlebt. Diese Vorbemerkungen habe ich zu schreiben, während meine Seele tief
bewegt ist von dem schicksaltragenden Ereignisse.
Berlin, 7. September 1914 Rudolf Steiner
Der Weg zu übersinnlicher
Erkenntnis, der in dieser Schrift gekennzeichnet wird, führt zu einem
seelischen Erleben, demgegenüber es von ganz besonderer Wichtigkeit ist, daß,
wer es anstrebt, sich keinen Täuschungen und Mißverständnissen über dasselbe
hingibt. Und es liegt dem Menschen nahe, sich über dasjenige zu täuschen, was
hier in Betracht kommt. Eine der Täuschungen, die besonders schwerwiegende,
entsteht, wenn man das ganze Gebiet des Seelenerlebens, von dem in wahrer
Geisteswissenschaft die Rede ist, so verschiebt, daß es in der Umgebung des
Aberglaubens, des visionären Träumens, des Mediumismus und mancher anderer
Entartungen des Menschenstrebens eingereiht erscheint. Diese Verschiebung rührt
oft davon her, daß Menschen, welche in ihrer von echtem Erkenntnisstreben
abliegenden Art sich einen Weg in die übersinnliche Wirklichkeit suchen möchten
und die dabei auf die genannten Entartungen verfallen, mit solchen verwechselt
werden, die den in dieser Schrift gezeichneten Weg gehen wollen. Was auf dem
hier gemeinten Wege von der Menschenseele durchlebt wird, das verläuft durchaus
im Felde rein geistig-seelischen Erfahrens. Es ist nur dadurch möglich, solches
zu durchleben, daß sich der Mensch auch noch für andere innere Erfahrungen so
frei und unabhängig von dem Leibesleben machen kann, wie er im Erleben des
gewöhnlichen Bewußtseins nur ist, wenn er sich über das von außen Wahrgenommene
oder das im Innern Gewünschte, Gefühlte, Gewollte Gedanken macht, die nicht aus dem Wahrgenommenen, Gefühlten,
Gewollten selbst herrühren. Es gibt Menschen, die an das Vorhandensein solcher
Gedanken überhaupt nicht glauben. Diese meinen: der Mensch könne nichts denken,
was er nicht aus der Wahrnehmung oder dem leiblich bedingten Innenleben
herauszieht. Und alle Gedanken seien nur gewissermaßen Schattenbilder von
Wahrnehmungen oder von inneren Erlebnissen. Wer dieses behauptet, der tut es
nur, weil er sich niemals zu der Fähigkeit gebracht hat, mit seiner Seele das
reine, in sich beruhende Gedankenleben zu erleben. Wer aber solches erlebt hat,
für den ist es Erfahrung geworden, daß überall, wo im Seelenleben Denken waltet, in dem Maße, als dieses Denken andere Seelenverrichtungen
durchdringt, der Mensch in einer Tätigkeit begriffen ist, an deren
Zustandekommen sein Leib unbeteiligt ist.
im gewöhnlichen Seelenleben ist ja fast immer das Denken mit anderen
Seelenverrichtungen: Wahrnehmen, Fühlen, Wollen und so weiter vermischt. Diese
anderen Verrichtungen kommen durch den Leib zustande. Aber in sie spielt das
Denken hinein. Und in dem Maße, in dem es hineinspielt, geht in dem Menschen
und durch den Menschen etwas vor sich, an dem der Leib nicht mitbeteiligt ist.
Die Menschen, welche dieses in Abrede stellen, können nicht über die Täuschung
hinauskommen, welche dadurch entsteht, daß sie die denkerische Betätigung immer
mit anderen Verrichtungen vereinigt beobachten. Aber man kann im inneren
Erleben sich seelisch dazu aufraffen, den denkerischen Teil des Innenlebens
auch abgesondert von allem andern für sich zu erfahren. Man kann aus dem
Umfange des Seelenlebens etwas herauslösen, das nur in reinen Gedanken besteht. In Gedanken, die in sich bestehen, aus
denen alles ausgeschaltet ist, was Wahrnehmung oder leiblich bedingtes
Innenleben geben. Solche Gedanken
offenbaren sich durch sich selbst, durch das, was sie sind, als ein geistig,
ein übersinnlich Wesenhaftes. Und die Seele, die mit solchen Gedanken sich
vereinigt, indem sie während dieser Vereinigung alles Wahrnehmen, alles
Erinnern, alles sonstige Innenleben ausschließt, weiß sich mit dem Denken
selbst in einem übersinnlichen Gebiet und erlebt sich außerhalb des Leibes. Für
denjenigen, welcher diesen ganzen Sachverhalt durchschaut, kann die Frage gar
nicht mehr in Betracht kommen: gibt es ein Erleben der Seele in einem
übersinnlichen Element außerhalb des Leibes? Denn für ihn hieße es in Abrede
stellen, was er aus der Erfahrung weiß. Für ihn gibt es nur die Frage: was
verhindert die Menschen, eine solche sichere Tatsache anzuerkennen? Und zu
dieser Frage findet er die Antwort, daß die in Frage kommende Tatsache eine
solche ist, die sich nicht offenbart, wenn der Mensch sich nicht vorher in eine
solche Seelenverfassung versetzt, daß er die Offenbarung empfangen kann. Nun
werden zunächst die Menschen mißtrauisch, wenn sie selbst etwas erst rein
seelisch tun sollen, damit sich ihnen ein an sich von ihnen Unabhängiges
offenbare. Sie glauben da, weil sie sich vorbereiten müssen, die Offenbarung zu
empfangen, sie machen den Inhalt der Offenbarung. Sie wollen Erfahrungen, zu
denen der Mensch nichts tut, gegenüber denen er ganz passiv bleibt. Sind solche
Menschen außerdem noch unbekannt mit den einfachsten Anforderungen an
wissenschaftliches Erfassen eines Tatbestandes, dann sehen sie in
Seeleninhalten oder Seelen-Hervorbringungen, bei denen die Seele unter den Grad
von bewußter Eigenbetätigung herabgedrückt ist, der im Sinneswahmehmen und im
willkürlichen Tun vorliegt, eine objektive Offenbarung eines nicht sinnlichen Wesenhaften. Solche
Seelen-Inhalte sind die visionären Erlebnisse, die mediumistischen
Offenbarungen. – Was aber durch solche Offenbarungen zutage tritt, ist keine übersinnliche, es ist eine
untersinnliche Welt. Das menschliche bewußte Wachleben verläuft nicht völlig in dem Leibe; es verläuft vor allem der
bewußte Teil dieses Lebens an der Grenze zwischen Leib und physischer
Außenwelt; so das Wahmehmungsleben, bei dem, was in den Sinnesorganen vorgeht,
ebensogut das Hineinragen eines außerleiblichen Vorganges in den Leib ist wie
ein Durchdringen dieses Vorganges vom Leibe aus; und so das Willensleben, das
auf einem Hineinstellen des menschlichen Wesens in das Weltenwesen beruht, so
daß, was im Menschen durch seinen Willen geschieht, zugleich Glied des
Weltgeschehens ist. In diesem an der Leibesgrenze verlaufenden seelischen
Erleben ist der Mensch in hohem Grade abhängig von seiner Leibesorganisation;
aber es spielt die denkerische Betätigung in dieses Erleben hinein, und in dem
Maße, als das der Fall ist, macht sich in Sinneswahmehmung und Wollen der
Mensch vom Leibe unabhängig. Im visionären Erleben und im mediumistischen
Hervorbringen tritt der Mensch völlig in die Abhängigkeit vom Leibe ein. Er
schaltet aus seinem Seelenleben dasjenige aus, was ihn in Wahrnehmung und
Wollen vom Leibe unabhängig macht. Und dadurch werden Seelen-Inhalte und
Seelen-Hervorbringungen bloße Offenbarungen des Leibeslebens. Visionäres
Erleben und mediumistisches Hervorbringen sind die Ergebnisse des Umstandes,
daß der Mensch bei diesem Erleben und Hervorbringen mit seiner Seele weniger
vom Leibe unabhängig ist als im gewöhnlichen Wahrnehmungs- und Willensleben.
Bei dem Erleben des Übersinnlichen, das in dieser Schrift gemeint ist, geht nun
die Entwickelung des Seelen-Erlebens gerade nach der entgegengesetzten Richtung
gegenüber der visionären oder mediumistischen. Die Seele macht sich
fortschreitend unabhängiger vom Leibe, als sie im Wahrnehmungs- und
Willeusleben ist. Sie erreicht diejenige Unabhängigkeit, die im Erleben reiner
Gedanken zu fassen ist, für eine viel breitere Seelenbetätigung.
Für die hier gemeinte
übersinnliche Seelenbetätigung ist es außerordentlich bedeutsam, in voller
Klarheit das Erleben des reinen Denkens zu durchschauen. Denn im Grunde ist
dieses Erleben selbst schon eine übersinnliche Seelenbetätigung. Nur eine
solche, durch die man noch nichts Übersinnliches schaut. Man lebt mit dem
reinen Denken im Übersinnlichen; aber man erlebt nur dieses auf eine übersinnliche Art; man erlebt noch nichts anderes
Übersinnliches. Und das übersinnliche Erleben muß sein eine Fortsetzung
desjenigen Seelen-Erlebens, das schon im Vereinigen mit dem reinen Denken
erreicht werden kann. Deshalb ist es so bedeutungsvoll, diese Vereinigung
richtig erfahren zu können. Denn von dem Verständnisse dieser Vereinigung aus
leuchtet das Licht, das auch rechte Einsicht in das Wesen der übersinnlichen
Erkenntnis bringen kann. Sobald das Seelen-Erleben unter die
Bewußtseinsklarheit, die im Denken sich auslebt, heruntersinken würde, wäre sie
für die wahre Erkenntnis der übersinnlichen Welt auf einem Irrwege. Sie würde
erfaßt von den Leibesverrichtungen; was sie erlebt und hervorbringt, ist dann
nicht Offenbarung des Übersinnlichen durch sie, sondern Leibesoffenbarung im
Bereich der untersinnlichen Welt.
Sobald die Seele mit ihren
Erlebnissen in das Feld des Übersinnlichen eindringt, sind diese Erlebnisse von
einer solchen Art, daß sich die sprachlichen Ausdrücke für sie nicht in so
leichter Art finden lassen wie für die Erlebnisse im Bereiche der sinnlichen
Welt. Man muß oftmals bei Beschreibungen des übersinnlichen Erlebens sich
bewußt sein, daß gewissermaßen die Entfernung des sprachlichen Ausdrucks von
dem ausgedrückten wirklichen Tatbestande eine größere ist als im physischen Erleben.
Man muß sich ein Verständnis dafür erwerben, daß mancher Ausdruck wie eine
Verbildlichung in zarter Weise auf das nur hinweist, auf das er sich bezieht.
So ist es auf Seite 22 dieser Schrift gesagt: «Ursprünglich werden nämlich alle
Regeln und Lehren der Geisteswissenschaft in einer sinnbildlichen
Zeichensprache gegeben.» Und auf Seite 56 f. mußte von einem «bestimmten
Schriftsystem» gesprochen werden. Es kann nun leicht jemandem beikommen, solche
Schrift in einer ähnlichen Art lernen zu wollen, wie man Lautzeichen und deren
Zusammenfügungen für die Schrift einer gewöhnlichen physischen Sprache erlernt.
Nun muß allerdings gesagt werden: es hat gegeben und gibt
geisteswissenschaftliche Schulen und Vereinigungen, welche im Besitze
symbolischer Zeichen sind, durch die sie übersinnliche Tatbestände zum Ausdruck
bringen. Und wer in die Bedeutung dieser Sinnbilder eingeweiht wird, der hat
dadurch ein Mittel, sein Seelen-Erleben zu den in Frage kommenden
übersinnlichen Wirklichkeiten hinzulenken. Aber ein für das übersinnliche
Erleben Wesentliches ist vielmehr, daß im Laufe eines solchen übersinnlichen
Erlebens, wie es durch die Verwirklichung des Inhaltes dieser Schrift von der
Seele erreicht werden kann, diese Seele in der Anschauung des Übersinnlichen die
Offenbarung einer solchen Schrift durch ihre eigene Erfahrung gewinnt. Das
Übersinnliche sagt der Seele etwas, das sich diese in verbildlichende Zeichen
übersetzen muß, damit sie es vollbewußt überschauen kann. Es kann gesagt
werden: was in dieser Schrift mitgeteilt ist, das kann von jeder Seele verwirklicht werden. Und im Laufe der
Verwirklichung, den sich nach den gemachten Angaben die Seele selbst bestimmen
kann, stellen sich die Ergebnisse ein, die beschrieben sind. Man nehme doch ein
solches Buch, wie dieses ist, wie ein Gespräch, das der Verfasser mit dem Leser
führt. Wenn gesagt ist: der Geheimschüler bedürfe der persönlichen Anweisung,
so fasse man dies doch so auf, daß das Buch selbst eine solche persönliche
Anweisung ist. In früheren Zeiten gab es Gründe, solche persönlichen
Anweisungen dem mündlichen Geheim-Unterrichte vorzubehalten; gegenwärtig sind
wir auf einer Entwickelungsstufe der Menschheit angelangt, in der das
geisteswissenschaftliche Erkennen eine viel größere Verbreitung erfahren muß als
früher. Es muß in ganz anderem Maße jedem zugänglich sein als in alter Zeit. Da
tritt eben das Buch an die Stelle der früheren mündlichen Unterweisung. Der
Glaube, daß man durchaus über das in dem Buche Gesagte hinaus noch eine
persönliche Unterweisung brauche, hat nur eine bedingte Richtigkeit. Der eine
oder der andere kann ja freilich ein persönliches Nachhelfen brauchen, und ein
solches kann ihm bedeutungsvoll sein. Aber es führte in die Irre, wenn man
meinte, es gäbe Hauptsachen, die man im Buche nicht finde. Man findet sie, wenn
man recht und namentlich wenn man vollständig
liest.
Die Schilderungen dieses Buches
nehmen sich so aus, als ob sie Anweisungen wären zum völligen Anderswerden des
ganzen Menschen. Wer sie richtig liest, wird aber finden, daß sie nichts
anderes sagen wollen, als in welcher inneren Seelenverfassung ein Mensch sein
muß in denjenigen Augenblicken seines Lebens, in denen er der übersinnlichen
Welt gegenüberstehen will. Diese Seelenverfassung entwickelt er als eine zweite
Wesenheit in sich; und die gesunde andere Wesenheit läuft in der alten Weise
ihren Gang fort. Er weiß beide Wesenheiten in Vollbewußtheit
auseinanderzuhalten; er weiß sie in rechter Art miteinander in Wechselwirkung
zu setzen. Er macht sich nicht dadurch für das Leben unbrauchbar und untüchtig,
daß er Interesse und Geschicklichkeit für dieses verliert und «den ganzen Tag
Geistesforscher ist». Allerdings muß gesagt werden, daß die Erlebnisweise in
der übersinnlichen Welt ihr Licht auf das ganze Wesen des Menschen ausstrahlen
wird; aber dies kann nicht in einer von dem Leben ablenkenden Art sein, sondern
in einer dieses Leben tüchtiger, fruchtbarer machenden Weise. – Daß trotzdem
die Schilderung so gehalten werden mußte, wie es der Fall ist, das rührt davon
her, daß allerdings jeder auf das Übersinnliche gerichtete Erkenntnisvorgang
den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, so daß in dem Augenblicke, in dem der
Mensch an einen solchen Erkenntnisvorgang hingegeben ist, er dies mit seinem
ganzen Wesen sein muß. Soviel der Farbenwahmehmungsvorgang nur die Einzelheit des Auges mit seiner Nervenfortsetzung in
Anspruch nimmt, soviel nimmt ein übersinnlicher Erkenntnisvorgang den ganzen
Menschen in Anspruch. Dieser wird «ganz Auge» oder «ganz Ohr». Weil dies so
ist, deshalb sieht es so aus, daß, wenn man von der Bildung von übersinnlichen
Erkenntnisvorgängen Mitteilung macht, man von einer Umwandlung des Menschen
spräche; man meine, der gewöhnliche Mensch sei nichts Rechtes; er müsse etwas
ganz anderes werden.
Zu dem auf Seite 82ff. «Über
einige Wirkungen der Einweihung» Gesagten möchte ich noch etwas hinzufügen, was
– mit einiger Abänderung – auch für andere Ausführungen dieses Buches gelten
kann. – Es könnte wohl jemand auf den Gedanken kommen: wozu solche Beschreibung
von bildhaften Ausgestaltungen übersinnlichen Erlebens; könnte man nicht dieses
Erleben in Ideen ohne solche Versinnlichung schildern? Darauf muß erwidert
werden: Es kommt für das Erleben der übersinnlichen Wirklichkeit in Betracht,
daß der Mensch sich im Übersinnlichen selbst als ein Übersinnliches weiß. Ohne
das Hinblicken auf seine eigene übersinnliche Wesenheit, deren Wirklichkeit in
der hier gegebenen Schilderung der «Lotusblumen» und des «ätherischen Leibes»
vollkommen in ihrer Art zur Offenbarung kommt, erlebte sich der Mensch im
Übersinnlichen so, wie wenn er im Sinnlichen nur so drinnen stände, daß ihm die
Dinge und Vorgänge um ihn her sich offenbarten, er aber von seinem eigenen
Leibe nichts wüßte. Was er in «Seelenleib» und «Ätherleib» als seine übersinnliche
Gestaltung schaut, das macht, daß er seiner selbst bewußt im Übersinnlichen
steht, wie er durch die Wahrnehmung seines Sinnesleibes seiner selbst bewußt in
der Sinnenwelt steht.
Die folgenden Mitteilungen sind
Glieder einer geistigen Schulung, über deren Namen und Wesenheit jeder sich
klar wird, der sie richtig anwendet. Sie beziehen sich auf die drei Stufen,
durch welche die Schule des geistigen Lebens zu einem gewissen Grade der
Einweihung führt. Aber nur so viel von diesen Auseinandersetzungen wird man
hier finden, als eben öffentlich gesagt werden kann. Es sind dies Andeutungen,
welche aus einer noch viel tieferen, intimen Lehre herausgeholt sind. In der
Geheimschulung selbst wird ein ganz bestimmter Lehrgang befolgt. Gewisse
Verrichtungen dienen dazu, die Seele des Menschen zum bewußten Verkehr mit der
geistigen Welt zu bringen. Diese Verrichtungen verhalten sich etwa zu dem, was
im folgenden mitgeteilt wird, wie der Unterricht, den man jemandem in einer
höheren streng geregelten Schule gibt, zu der Unterweisung, die man ihm
gelegentlich auf einer vorbereitenden Schule zuteil werden läßt. Doch kann die ernste und beharrliche Verfolgung
dessen, was man hier angedeutet findet, zur wirklichen Geheimschulung führen. Allerdings,
das ungeduldige Probieren, ohne Ernst und Beharrlichkeit, kann zu gar nichts
führen. – Von Erfolg kann das Geheimstudium nur sein, wenn dasjenige zunächst
eingehalten wird, was bereits gesagt worden ist, und auf dieser Grundlage
fortgeschritten wird.
Die Stufen, welche die
angedeutete Überlieferung angibt, sind die folgenden drei: 1. Die Vorbereitung,
2. die Erleuchtung, 3. die Einweihung. Es ist nicht durchaus notwendig, daß
diese drei Stufen sich so folgen, daß man die erste ganz durchgemacht hat, bevor die zweite, und diese, bevor die
dritte an die Reihe kommen. Man kann in bezug auf gewisse Dinge schon der
Erleuchtung, ja der Einweihung teilhaftig werden, wenn man in bezug auf andere
sich noch in der Vorbereitung befindet. Doch wird man eine gewisse Zeit in
Vorbereitung zu verbringen haben, bevor überhaupt eine Erleuchtung beginnen
kann. Und wenigstens für einiges wird man erleuchtet sein müssen, wenn der
Anfang mit der Einweihung gemacht werden soll. In der Beschreibung aber müssen,
der Einfachheit wegen, die drei Stufen hintereinander folgen.
Die Vorbereitung besteht in einer
ganz bestimmten Pflege des Gefühls- und Gedankenlebens. Durch diese Pflege
werden Seelen- und Geistesleib mit höheren Sinneswerkzeugen und Tätigkeitsorganen
begabt, wie die Naturkräfte den physischen Leib aus unbestimmter lebendiger
Materie mit Organen ausgerüstet haben.
Der Anfang muß damit gemacht
werden, die Aufmerksamkeit der Seele auf gewisse Vorgänge in der uns umgebenden
Welt zu lenken. Solche Vorgänge sind das sprießende, wachsende und gedeihende
Leben einerseits, und alle Erscheinungen, die mit Verblühen, Verwelken,
Absterben zusammenhängen, andererseits. Überall, wohin der Mensch die Augen
wendet, sind solche Vorgänge gleichzeitig vorhanden. Und überall rufen sie
naturgemäß auch in dem Menschen Gefühle und Gedanken hervor. Aber nicht genug
gibt sich unter gewöhnlichen Verhältnissen der Mensch diesen Gefühlen und
Gedanken hin. Dazu eilt er viel zu rasch von einem Eindruck zum anderen. Es
handelt sich darum, daß er intensiv die Aufmerksamkeit ganz bewußt auf diese
Tatsachen lenke. Er muß, wo er Blühen und Gedeihen einer ganz bestimmten Art
wahrnimmt, alles andere aus seiner Seele verbannen und sich kurze Zeit ganz
allein diesem einen Eindrucke
überlassen. Er wird sich bald überzeugen, daß ein Gefühl, das in einem solchen
Falle durch seine Seele früher nur durchgehuscht ist, anschwillt, daß es eine
kräftige und energische Form annimmt. Diese Gefühlsform muß er dann ruhig in
sich nachklingen lassen. Er muß dabei ganz still in seinem Innern werden. Er
muß sich abschließen von der übrigen Außenwelt und ganz allein dem folgen, was
seine Seele zu der Tatsache des Blühens und Gedeihens sagt.
Dabei soll man nur ja nicht
glauben, daß man weit kommt, wenn man seine Sinne
etwa stumpf macht gegen die Welt. Erst schaue man so lebhaft, so genau, als
es nur irgend möglich ist, die Dinge an. Dann
erst gebe man sich dem in der Seele auflebenden Gefühle, dem aufsteigenden
Gedanken hin. Worauf es ankommt, ist, daß man auf beides, im völligen inneren Gleichgewicht, die Aufmerksamkeit
richte. Findet man die nötige Ruhe und gibt man sich dem hin, was in der Seele
auflebt, dann wird man nach entsprechender Zeit das Folgende erleben. Man wird neue Arten von
Gefühlen und Gedanken in seinem Innern aufsteigen sehen, die man vorher nicht
gekannt hat. Je öfter man in einer solchen Weise die Aufmerksamkeit auf etwas
Wachsendes, Blühendes und Gedeihendes und damit abwechselnd auf etwas
Welkendes, Absterbendes lenkt, desto lebhafter werden diese Gefühle werden. Und
aus den Gefühlen und Gedanken, die so entstehen, bauen sich die Hellseherorgane
ebenso auf, wie sich durch Naturkräfte aus belebtem Stoffe Augen und Ohren des
physischen Körpers aufbauen. Eine ganz bestimmte Gefühlsform knüpft sich an das
Wachsen und Werden; eine andere ganz bestimmte an das Verwelken und Absterben.
Aber nur dann, wenn die Pflege dieser Gefühle auf die beschriebene Art
angestrebt wird. Es ist möglich, annähernd richtig zu beschreiben, wie diese
Gefühle sind. Eine vollständige Vorstellung kann sich davon jeder selbst
verschaffen, indem er diese inneren Erlebnisse durchmacht. Wer oft die
Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Werdens, des Gedeihens, des Blühens gelenkt
hat, der wird etwas fühlen, was der Empfindung bei einem Sonnenaufgang entfernt ähnlich ist. Und aus dem
Vorgang des Welkens, Absterbens wird sich ihm ein Erlebnis ergeben, das in
ebensolcher Art mit dem langsamen Aufsteigen des Mondes im Gesichtskreis zu
vergleichen ist. Diese beiden Gefühle sind zwei Kräfte, die bei gehöriger
Pflege, bei immer lebhafter werdender Ausbildung zu den bedeutsamsten geistigen
Wirkungen führen. Wer sich immer wieder und wieder planmäßig, mit Vorsatz,
solchen Gefühlen überläßt, dem eröffnet sich eine neue Welt. Die Seelenwelt,
der sogenannte astrale Plan, beginnt vor ihm aufzudämmern. Wachsen und Vergehen
bleiben für ihn nicht mehr Tatsachen, die ihm solch unbestimmte Eindrücke
machen wie vorher. Sie formen sich vielmehr zu geistigen Linien und Figuren, von
denen er vorher nichts ahnte. Und diese Linien und Figuren haben für die
verschiedenen Erscheinungen auch verschiedene Gestalten. Eine blühende Blume
zaubert vor seine Seele eine ganz bestimmte Linie, ebenso ein im Wachsen
begriffenes Tier oder ein im Absterben befindlicher Baum. Die Seelenwelt (der
astrale Plan) breitet sich langsam vor ihm aus. Nichts Willkürliches liegt in
diesen Linien und Figuren. Zwei Geheimschüler, die sich auf der entsprechenden
Stufe der Ausbildung befinden, werden bei dem gleichen Vorgange stets dieselben
Linien und Figuren sehen. So gewiß zwei richtig sehende Menschen einen runden
Tisch rund sehen, und nicht einer rund und der andere viereckig, so gewiß
stellt sich vor zwei Seelen beim Anblicke einer blühenden Blume dieselbe geistige
Gestalt. – So wie die Gestalten der Pflanzen und Tiere in der gewöhnlichen
Naturgeschichte beschrieben werden, so beschreibt oder zeichnet der Kenner der
Geheimwissenschaft die geistigen Gestalten der Wachstums- und
Absterbensvorgänge nach Gattungen und Arten.
Wenn der Schüler so weit ist, daß
er solch geistige Gestalten von Erscheinungen sehen kann, die sich seinem
äußeren Auge auch physisch zeigen: dann wird er auch nicht weit entfernt sein
von der Stufe, Dinge zu sehen, die kein physisches Dasein haben, die also dem
ganz verborgen (okkult) bleiben müssen, der keine Unterweisung in der
Geheimlehre erhalten hat.
Zu betonen ist, daß der
Geheimforscher sich nicht in ein Nachsinnen verlieren soll, was dieses oder
jenes Ding bedeutet. Durch solche
Verstandesarbeit bringt er sich nur von dem rechten Wege ab. Er soll frisch,
mit gesundem Sinne, mit scharfer Beobachtungsgabe in die Sinnenwelt sehen und
dann sich seinen Gefühlen überlassen. Was die Dinge bedeuten, das soll nicht er
mit spekulierendem Verstande ausmachen wollen, sondern er soll es sich von den
Dingen selbst sagen lassen. [Bemerkt soll werden, daß künstlerisches Empfinden, gepaart mit einer stillen, in sich
versenkten Natur, die beste Vorbedingung für die Entwickelung der geistigen
Fähigkeiten ist. Dieses Empfinden dringt ja durch die Oberfläche der Dinge
hindurch und gelangt dadurch zu deren Geheimnissen.]
Ein Weiteres, worauf es ankommt,
ist das, was die Geheimwissenschaft die Orientierung
in den höheren Welten nennt. Man gelangt dazu, wenn man sich ganz von dem
Bewußtsein durchdringt, daß Gefühle und Gedanken wirkliche Tatsachen sind, genau so wie Tische und Stühle in der
physisch-sinnlichen Welt. In der seelischen und in der Gedankenwelt wirken
Gefühle und Gedanken aufeinander wie in der physischen die sinnlichen Dinge.
Solange jemand nicht lebhaft von diesem Bewußtsein durchdrungen ist, wird er
nicht glauben, daß ein verkehrter Gedanke, den er hegt, auf andere Gedanken,
die den Gedankenraum beleben, so verheerend wirken kann wie eine blindlings
losgeschossene Flintenkugel für die physischen Gegenstände, die sie trifft. Ein
solcher wird sich vielleicht niemals erlauben, eine physisch sichtbare Handlung
zu begehen, die er für sinnlos hält. Er wird aber nicht davor zurückschrecken, verkehrte
Gedanken oder Gefühle zu hegen. Denn diese erscheinen ihm ungefährlich für die
übrige Welt. In der Geheimwissenschaft kann man aber nur vorwärtskommen, wenn
man auf seine Gedanken und Gefühle ebenso achtet, wie man auf seine Schritte in
der physischen Welt achtet. Wenn jemand eine Wand sieht, so versucht er nicht,
geradewegs durch dieselbe durchzurennen; er lenkt seine Schritte seitwärts. Er
richtet sich eben nach den Gesetzen der physischen Welt. – Solche Gesetze gibt
es nun auch für die Gefühls- und Gedankenwelt. Nur können sie dem Menschen da
nicht von außen sich aufdrängen. Sie müssen aus dem Leben seiner Seele selbst
fließen. Man gelangt dazu, wenn man sich jederzeit verbietet, verkehrte Gefühle
und Gedanken zu hegen. Alles willkürliche Hin- und Hersinnen, alles
spielerische Phantasieren, alle zufällig auf- und abwogenden Gefühle muß man
sich in dieser Zeit verbieten. Man macht sich dadurch nicht gefühlsarm. Man
wird nämlich bald finden, daß man reich an Gefühlen, schöpferisch in wahrer
Phantasie erst wird, wenn man in solcher Art sein Inneres regelt. An die Stelle
kleinlicher Gefühlsschwelgerei und spielerischer Gedankenverknüpfung treten
bedeutsame Gefühle und fruchtbare Gedanken. Und diese Gefühle und Gedanken
führen den Menschen dazu, sich in der geistigen Welt zu orientieren. Er kommt in richtige Verhältnisse zu den Dingen der
Geisteswelt. Eine ganz bestimmte Wirkung tritt für ihn ein. Wie er als
physischer Mensch seinen Weg findet zwischen den physischen Dingen, so führt
ihn jetzt sein Pfad zwischen Wachsen und
Absterben, die er ja auf dem oben
bezeichneten Weg kennenlernt, hindurch. Er folgt dann allem Wachsenden,
Gedeihenden und auch andererseits allem Verwelkenden und Absterbenden so, wie
es zu seinem und der Welt Gedeihen erforderlich ist.
Eine weitere Pflege hat der
Geheimschüler der Welt der Töne angedeihen
zu lassen. Man unterscheide da zwischen dem Tone, der durch das sogenannte Leblose (einen fallenden Körper, eine
Glocke oder ein Musikinstrument) hervorgebracht wird, und dem, welcher von
Lebendigem (einem Tiere oder Menschen) stammt. Wer eine Glocke hört, wird den
Ton wahrnehmen und ein angenehmes Gefühl daran knüpfen; wer den Schrei eines
Tieres hört, wird außer diesem Gefühl in dem Tone noch die Offenbarung eines
inneren Erlebnisses des Tieres, Lust oder Schmerz, verspüren. Bei der letzteren
Art von Tönen hat der Geheimschüler einzusetzen. Er soll seine ganze
Aufmerksamkeit darauf lenken, daß der Ton ihm etwas verkündet, was außer der
eigenen Seele liegt. Und er soll sich versenken in dieses Fremde. Er soll sein
Gefühl innig verbinden mit dem Schmerz oder der Lust, die ihm durch den Ton
verkündet werden. Er soll darüber hinweg sich setzen, was für ihn der Ton ist, ob er ihm angenehm oder unangenehm ist,
wohlbehaglich oder mißfällig; nur das soll seine Seele erfüllen, was in dem
Wesen vorgeht, von dem der Ton kommt. Wer planmäßig und mit Vorbedacht solche
Übungen macht, der wird sich dadurch die Fähigkeit aneignen, mit einem Wesen,
sozusagen, zusammenzufließen, von dem der Ton ausgeht. Einem musikalisch
empfindenden Menschen wird solche Pflege seines Gemütslebens leichter sein als
einem unmusikalischen. Doch darf niemand glauben, daß der musikalische Sinn
schon diese Pflege ersetzt. Man muß, als Geheimschüler, in dieser Art der ganzen Natur gegenüber empfinden lernen.
– Und dadurch senkt sich in Gefühls- und Gedankenwelt eine neue Anlage. Die
ganze Natur fängt an, dem Menschen durch ihr Ertönen Geheimnisse zuzuraunen.
Was vorher seiner Seele unverständlicher Schall war, wird dadurch sinnvolle Sprache der Natur. Und wobei er vorher
nur Ton gehört hat, beim Erklingen des sogenannten Leblosen, vernimmt er jetzt
eine neue Sprache der Seele. Schreitet er in solcher Pflege seiner Gefühle
vorwärts, dann wird er bald gewahr, daß er hören
kann, wovon er vorher nichts vermutet hat. Er fängt an, mit der Seele zu hören.
Dazu muß dann noch etwas anderes
kommen, um zum Gipfel zu gelangen, der auf diesem Gebiete zu erreichen ist. –
Was für die Ausbildung des Geheimschülers ganz besonders wichtig ist, das ist
die Art, wie er anderen Menschen beim Sprechen zuhört. Er muß sich daran gewöhnen, dies so zu tun, daß dabei sein
eigenes Innere vollkommen schweigt. Wenn
jemand eine Meinung äußert, und ein anderer hört zu, so wird sich im Innern des
letzteren im allgemeinen Zustimmung oder Widerspruch regen. Viele Menschen
werden wohl auch sofort sich gedrängt fühlen, ihre zustimmende und namentlich
ihre widersprechende Meinung zu äußern. Alle solche Zustimmung und allen
solchen Widerspruch muß der Geheimschüler zum Schweigen bringen. Es kommt dabei
nicht darauf an, daß er plötzlich seine Lebensart so ändere, daß er solch
inneres, gründliches Schweigen fortwährend zu erreichen sucht. Er wird damit
den Anfang machen müssen, daß er es in einzelnen Fällen tut, die er sich mit
Vorsatz auswählt. Dann wird sich ganz langsam und allmählich, wie von selbst,
diese ganz neue Art des Zuhörens in seine Gewohnheiten einschleichen. – In der
Geistesforschung wird solches planmäßig geübt. Die Schüler fühlen sich
verpflichtet, übungsweise zu gewissen Zeiten sich die entgegengesetztesten
Gedanken anzuhören und dabei alle Zustimmung und namentlich alles abfällige
Urteilen vollständig zum Verstummen zu bringen. Es kommt darauf an, daß dabei
nicht nur alles verstandesmäßige Urteilen schweige, sondern auch alle Gefühle
des Mißfallens, der Ablehnung oder auch Zustimmung. Insbesondere muß sich der
Schüler stets sorgfältig beobachten, ob nicht solche Gefühle, wenn auch nicht
an der Oberfläche, so doch im intimsten Innern seiner Seele vorhanden seien. Er
muß sich zum Beispiel die Aussprüche von Menschen anhören, die in irgendeiner
Beziehung weit unter ihm stehen, und muß dabei jedes Gefühl des Besserwissens oder der Überlegenheit unterdrücken.
– Nützlich ist es für jeden, in solcher Art Kindern zuzuhören. Auch der
Weiseste kann unermeßlich viel von Kindern lernen. – So bringt es der Mensch
dazu, die Worte des anderen ganz selbstlos
zu hören, mit vollkommener Ausschaltung seiner eigenen Person, deren
Meinung und Gefühlsweise. Wenn er sich so übt, kritiklos zuzuhören, auch dann,
wenn die völlig entgegengesetzte Meinung vorgebracht wird, wenn das
«Verkehrteste» sich vor ihm abspielt, dann lernt er nach und nach mit dem Wesen
eines anderen vollständig zu verschmelzen, ganz in dasselbe aufzugehen. Er hört
dann durch die Worte hindurch in des anderen Seele hinein. Durch anhaltende
Übung solcher Art wird erst der Ton das rechte Mittel, um Seele und Geist
wahrzunehmen. Allerdings gehört dazu die allerstrengste Selbstzucht. Aber diese
führt zu einem hohen Ziele. Wenn diese Übungen nämlich in Verbindung mit den
anderen getrieben werden, die angegeben worden sind bezüglich des Tönens in der
Natur, so erwächst der Seele ein neuer Hörsinn. Sie wird imstande, Kundgebungen
aus der geistigen Welt wahrzunehmen, die nicht ihren Ausdruck finden in äußeren
Tönen, die für das physische Ohr wahrnehmbar sind. Die Wahrnehmung des «inneren
Wortes» erwacht.
Dem Geheimschüler offenbaren sich
allmählich von der Geisteswelt aus Wahrheiten. Er hört auf geistige Art zu sich
sprechen. [Nur wer durch selbstloses Zuhören es dahin bringt, daß er wirklich
von innen aufnehmen kann, still, ohne Regung einer persönlichen Meinung oder
eines persönlichen Gefühls, zu dem können die höheren Wesenheiten sprechen, von
denen man in der Geheimwissenschaft spricht. Solange man noch irgendeine
Meinung, irgendein Gefühl dem zu Hörenden entgegenschleudert, schweigen die
Wesenheiten der Geisteswelt.] – Alle höheren Wahrheiten werden durch solches
«inneres Einsprechen» erreicht. Und was man aus dem Munde eines wahren
Geheimforschers hören kann, das hat er durch diese Art in Erfahrung gebracht. –
Damit aber soll nicht gesagt sein, daß es unnötig sei, sich mit
geheimwissenschaftlichen Schriften zu befassen, bevor man selbst in solcher
Weise «inneres Einsprechen» vernehmen kann. Im Gegenteil: das Lesen solcher
Schriften, das Anhören der Geheimforscherlehren sind selbst Mittel, auch zu
eigener Erkenntnis zu gelangen. Jeder Satz der Geheimwissenschaft, den der
Mensch hört, ist geeignet, den Sinn dahin zu lenken, wohin er gelangen muß,
soll die Seele wahren Fortschritt erleben. Zu all dem Gesagten muß vielmehr
eifriges Studium dessen treten, was die Geheimforscher der Welt mitteilen. Bei
aller Geheimschulung gehört solches Studium zur Vorbereitung. Und wer alle
sonstigen Mittel anwenden wollte, er käme zu keinem Ziele, wenn er nicht die
Lehren der Geheimforscher in sich aufnähme. Denn weil diese Lehren aus dem
lebendigen «inneren Worte», aus der «lebendigen Einsprechung» geschöpft sind,
haben sie selbst geistiges Leben. Sie sind nicht bloß Worte. Sie sind lebendige
Kräfte. Und während du den Worten eines Geheimkundigen folgst, während du ein
Buch liest, das einer wirklichen inneren Erfahrung entstammt, wirken in deiner
Seele Kräfte, welche dich ebenso hellsehend machen, wie die Naturkräfte
aus lebendigem Stoffe deine Augen und Ohren gebildet haben.
Die Erleuchtung geht von sehr
einfachen Vorgängen aus. Auch dabei handelt es sich darum, gewisse Gefühle und
Gedanken zu entwickeln, die in jedem Menschen schlummern und die erwachen
müssen. Nur wer mit voller Geduld, streng und anhaltend die einfachen Vorgänge
durchnimmt, den können sie zur Wahrnehmung der inneren Lichterscheinungen
führen. Der erste Anfang wird damit gemacht, in einer bestimmten Art
verschiedene Naturwesen zu betrachten, und zwar zum Beispiele: einen
durchsichtigen, schön geformten Stein (Kristall), eine Pflanze und ein Tier.
Man suche zuerst seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Vergleich des Steines mit
dem Tier in folgender Art zu lenken. Die Gedanken, die hier angeführt werden,
müssen von lebhaften Gefühlen begleitet durch die Seele ziehen. Und kein
anderer Gedanke, kein anderes Gefühl dürfen sich einmischen und die intensiv
aufmerksame Betrachtung stören. Man sage sich:
«Der Stein hat eine Gestalt; das Tier hat auch eine Gestalt.
Der Stein bleibt ruhig an seinem Ort.
Das Tier verändert seinen Ort. Es ist der Trieb (die Begierde), welcher das
Tier veranlaßt, seinen Ort zu ändern. Und die Triebe sind es auch, denen die
Gestalt des Tieres dient. Seine Organe, seine Werkzeuge sind diesen Trieben
gemäß ausgebildet. Die Gestalt des Steins ist nicht nach Begierden, sondern
durch begierdelose Kraft gebildet.» [Die hier gemeinte Tatsache, insofern sie
sich auf Kristallbeobachtung bezieht, ist von solchen, die nur in äußerlicher
Weise (exoterisch) davon gehört haben, in mancherlei Art verdreht worden,
woraus Verrichtungen wie «Kristallsehen» und so weiter entstanden sind. Derlei
Manipulationen beruhen auf Mißverständnissen. Sie sind in vielen Büchern
beschrieben worden. Aber sie bilden niemals den Gegenstand wahren
(esoterischen) Geheimunterrichtes.] Wenn man sich intensiv in diese Gedanken
versenkt und dabei mit gespannter Aufmerksamkeit Stein und Tier betrachtet:
dann leben in der Seele zwei ganz verschiedene Gefühlsarten auf. Aus dem Stein
strömt die eine Art des Gefühls, aus dem Tiere die andere Art in unsere Seele.
Die Sache wird wahrscheinlich im Anfange nicht gelingen: aber nach und nach,
bei wirklicher geduldiger Übung, werden sich diese Gefühle einstellen. Man muß
nur immerfort und fort üben. Erst sind die Gefühle nur so lange vorhanden, als
die Betrachtung dauert, später wirken sie nach. Und dann werden sie zu etwas,
was in der Seele lebendig bleibt. Der Mensch braucht sich dann nur zu besinnen:
und die beiden Gefühle steigen immer, auch ohne Betrachtung eines äußeren
Gegenstandes, auf. – Aus diesen Gefühlen und den mit ihnen verbundenen Gedanken
bilden sich Hellseherorgane. – Tritt
dann in der Betrachtung noch die Pflanze hinzu, so wird man bemerken, daß das
von ihr ausgehende Gefühl, seiner Beschaffenheit und auch seinem Grade nach, in
der Mitte liegt zwischen dem vom Stein und dem vom Tier ausströmenden. Die
Organe, welche sich auf solche Art bilden, sind Geistesaugen. Man lernt mit ihnen allmählich etwas wie seelische
und geistige Farben zu sehen. Solange man nur das sich angeeignet hat, was als
«Vorbereitung» beschrieben worden ist, bleibt die geistige Welt mit ihren
Linien und Figuren dunkel; durch die Erleuchtung wird sie hell. – Auch hier muß
bemerkt werden, daß die Worte «dunkel» und «hell» sowie die anderen gebrauchten
Ausdrücke nur annähernd aussprechen, was gemeint ist. Will man sich aber der
gebräuchlichen Sprache bedienen, so ist nichts anderes möglich. Diese Sprache
ist ja nur für die physischen Verhältnisse geschaffen. – Die Geheimwissenschaft
bezeichnet nun das, was für das Hellseherorgan vom Stein ausströmt, als «blau»
oder «blaurot». Dasjenige, was vom Tier empfunden wird, als «rot» oder
«rot–gelb». In der Tat sind es Farben «geistiger Art», die da gesehen werden.
Die von der Pflanze ausgehende Farbe ist «grün», das nach und nach in ein
helles ätherisches Rosarot übergeht. Die Pflanze ist nämlich dasjenige
Naturwesen, welches in höheren Welten in einer gewissen Beziehung ihrer
Beschaffenheit in der physischen Welt gleicht. Nicht dasselbe ist aber bei
Stein und Tier der Fall. – Nun muß man sich klar sein, daß mit den oben
genannten Farben nur die Hauptschattierungen des Stein-, Pflanzen- und
Tierreiches angegeben sind. In Wirklichkeit sind alle möglichen
Zwischenschattierungen vorhanden. Jeder Stein, jede Pflanze, jedes Tier hat
seine ganz bestimmte Farbennuance. Dazu kommen die Wesen der höheren Welten,
die niemals sich physisch verkörpern, mit ihren oft wundervollen, oft auch
gräßlichen Farben. In der Tat ist der Farbenreichtum in diesen höheren Welten
unermeßlich viel größer als in der physischen Welt.
Hat der Mensch einmal die
Fähigkeit erworben, mit «Geistesaugen» zu sehen, so begegnet er auch, über kurz
oder lang, den genannten höheren, zum Teil auch tieferen Wesen, als der Mensch
ist, die niemals die physische Wirklichkeit betreten.
Hat der Mensch es so weit gebracht, wie hier beschrieben
ist, so stehen ihm die Wege zu vielem offen. Aber es ist keinem anzuraten, noch
weiter zu gehen ohne sorgfältige Beachtung des vom Geistesforscher Gesagten
oder sonst von ihm Mitgeteilten. Und auch für das schon Gesagte ist eine
Beachtung solcher kundigen Führerschaft das Allerbeste. Hat übrigens der Mensch
in sich die Kraft und Ausdauer, es so weit zu bringen, wie es den angegebenen
elementaren Stufen der Erleuchtung entspricht, so wird er ganz gewiß auch die
rechte Führung suchen und finden.
Eine Vorsicht ist aber unter
allen Umständen notwendig, und wer sie nicht anwenden will, der soll am besten
alle Schritte in die Geheimwissenschaft unterlassen. Es ist notwendig, daß der
Mensch, der Geheimschüler wird, nichts verliere von seinen Eigenschaften als
edler, guter und für alles physisch Wirkliche empfänglicher Mensch. Er muß im
Gegenteile seine moralische Kraft, seine innere Lauterkeit, seine
Beobachtungsgabe während der Geheimschülerschaft fortwährend steigern. Um ein
Einzelnes zu erwähnen: Während der elementaren Erleuchtungsübungen muß der
Geheimschüler dafür sorgen, daß er sein Mitgefühl für die Menschen- und
Tierwelt, seinen Sinn für Schönheit der Natur immerfort vergrößere. Sorgt er
nicht dafür, so stumpfen sich jenes Gefühl und dieser Sinn durch solche Übungen
fortwährend ab. Das Herz würde hart, der Sinn stumpf. Und das müßte zu
gefährlichen Ergebnissen führen.
Wie sich die Erleuchtung
gestaltet, wenn man im Sinne der obigen Übungen über Stein, Pflanze und Tier
zum Menschen heraufsteigt, und wie, nach der Erleuchtung, der Zusammenschluß
der Seele mit der geistigen Welt unter allen Umständen sich einmal einstellt
und zur Einweihung hingeleitet: davon wird in den nächsten Abschnitten
gesprochen werden, soweit das sein kann.
Es wird in unserer Zeit von
vielen Menschen der Weg zur Geheimwissenschaft gesucht. Auf mancherlei Art wird
das getan; und viele gefährliche, ja verwerfliche Prozeduren werden probiert.
Deshalb sollen diejenigen, die etwas Wahrhaftes von diesen Dingen zu wissen
meinen, anderen die Möglichkeit geben, einiges aus der Geheimschulung
kennenzulernen. Nur soviel ist hier mitgeteilt worden, als solcher Möglichkeit
entspricht. Es ist notwendig, daß etwas von dem Wahren bekannt werde, damit
nicht das Irrtümliche großen Schaden anrichte. Durch die hier vorgezeichneten
Wege kann niemand Schaden nehmen, der nichts forciert. Nur das eine muß
beachtet werden: niemand darf mehr Zeit und Kraft auf solche Übungen verwenden,
als ihm nach seiner Lebensstellung, nach seinen Pflichten zur Verfügung stehen.
Niemand darf durch den Geheimpfad irgend etwas in seinen äußeren
Lebensverhältnissen augenblicklich ändern. Will man wirkliche Ergebnisse, dann
muß man Geduld haben; man muß nach
wenigen Minuten der Übung aufhören können und ruhig seiner Tagesarbeit
nachgehen. Und nichts darf sich von Gedanken an die Übungen in die Tagesarbeit
mischen. Wer nicht im höchsten und besten Sinne warten gelernt hat, der taugt nicht zum Geheimschüler und wird auch
niemals zu Ergebnissen kommen, die einen erheblichen Wert haben.
Wenn jemand die Wege zur
Geheimwissenschaft in der Art sucht, wie es in dem vorhergehenden Kapitel
beschrieben worden ist, dann darf er nicht versäumen, sich während der ganzen
Arbeit durch einen fortwirkenden
Gedanken zu stärken. Er muß sich nämlich stets vor Augen halten, daß er nach
einiger Zeit schon ganz erhebliche Fortschritte gemacht haben kann, ohne daß
sie sich ihm in der Weise zeigen, wie er es vielleicht erwartet hat. Wer dies
nicht bedenkt, wird leicht die Beharrlichkeit verlieren und nach kurzer Zeit
alle Versuche aufgeben. Die Kräfte und Fähigkeiten, welche man zu entwickeln
hat, sind anfänglich von sehr zarter Art. Und ihre Wesenheit ist etwas ganz
anderes als das, wovon sich der Mensch vorher Vorstellungen gemacht hat. Er war
ja nur gewohnt, sich mit der physischen Welt zu beschäftigen. Die geistige und
seelische entzog sich seinen Blicken und auch seinen Begriffen. Es ist daher
gar nicht zu verwundern, daß er jetzt, wo sich in ihm geistige und seelische
Kräfte entwickeln, diese nicht sogleich bemerkt. – Darinnen liegt die
Möglichkeit einer Beirrung für den, welcher sich, ohne sich an die Erfahrungen
zu halten, welche kundige Forscher gesammelt haben, auf den Geheimpfad begibt.
Der Geheimforscher kennt die Fortschritte, welche der Schüler macht, lange
bevor dieser sich selbst ihrer bewußt wird. Er weiß, wie die zarten geistigen
Augen sich heranbilden, ehe der Schüler etwas davon weiß. Und ein großer Teil
der Anweisungen dieses Geheimforschers besteht eben darinnen, das zum Ausdrucke
zu bringen, was bewirkt, daß der Schüler das Vertrauen, die Geduld, die
Ausdauer nicht verliere, bevor er zur eigenen Erkenntnis seiner Fortschritte
gelangt. Geben kann ja der
Geheimkundige seinem Zögling nichts, was in diesem nicht – auf verborgene Art –
schon liegt. Er kann nur anleiten zur Entwickelung von schlummernden
Fähigkeiten. Aber, was er aus seinen Erfahrungen mitteilt, wird eine Stütze
sein dem, der sich aus dem Dunkel zum Lichte durchringen will.
Gar viele verlassen den Pfad zur
Geheimwissenschaft bald, nachdem sie ihn betreten haben, weil ihnen ihre
Fortschritte nicht sogleich bemerklich werden. Und selbst, wenn die ersten für
den Zögling wahrnehmbaren höheren Erfahrungen auftreten, so betrachtet sie
dieser oft als Illusionen, weil er sich ganz andere Vorstellungen von dem
gemacht hat, was er erleben soll. Er verliert den Mut, weil er entweder die
ersten Erfahrungen für wertlos hält oder weil sie ihm doch so unscheinbar
vorkommen, daß er nicht glaubt, sie könnten ihn in absehbarer Zeit zu irgend
etwas Erheblichem führen. Mut und Selbstvertrauen sind aber zwei Lichter,
die auf dem Wege zur Geheimwissenschaft nicht erlöschen dürfen. Wer es nicht
über sich bringen kann, eine Übung, die scheinbar unzähligemal mißglückt ist,
immer wieder und wieder geduldig fortzusetzen, der kann nicht weit kommen.
Viel früher als eine deutliche
Wahrnehmung von den Fortschritten tritt ein dunkles Gefühl auf, daß man auf dem
rechten Wege sei. Und dieses Gefühl sollte man hegen und pflegen. Denn es kann
zu einem sicheren Führer werden. Vor allem muß man den Glauben ausrotten, als
ob es ganz absonderliche, geheimnisvolle Verrichtungen sein müßten, durch die
man zu höheren Erkenntnissen gelangt. Man muß sich klarmachen, daß von den
Gefühlen und Gedanken ausgegangen werden muß, mit denen der Mensch ja
fortwährend lebt, und daß er diesen Gefühlen und Gedanken nur eine andere
Richtung geben muß, als die gewohnte ist. Ein jeder sage sich zunächst: in
meiner eigenen Gefühls- und Gedankenwelt liegen die höchsten Geheimnisse
verborgen: ich habe sie bisher nur noch nicht wahrgenommen. Alles beruht
schließlich darauf, daß der Mensch fortwährend Leib, Seele und Geist mit sich
herumträgt, daß er sich aber nur seines Leibes im ausgesprochenen Sinne bewußt ist, nicht seiner Seele und
seines Geistes. Und der Geheimschüler wird sich der Seele und des Geistes
bewußt, wie sich der gewöhnliche Mensch seines Leibes bewußt ist.
Deshalb kommt es darauf an, die
Gefühle und Gedanken in die rechte Richtung zu bringen. Dann entwickelt man die
Wahrnehmungen für das im gewöhnlichen Leben Unsichtbare. Hier soll einer der
Wege angegeben werden, wie man das macht. Eine einfache Sache ist es wieder,
wie fast alles, was bisher mitgeteilt worden ist. Aber von den größten
Wirkungen ist sie, wenn sie beharrlich durchgeführt wird und wenn der Mensch
vermag, mit der nötigen intimen Stimmung sich ihr hinzugeben.
Man lege ein kleines Samenkorn
einer Pflanze vor sich hin. Es kommt darauf an, sich vor diesem unscheinbaren
Ding die rechten Gedanken intensiv zu machen und durch diese Gedanken gewisse
Gefühle zu entwickeln. Zuerst mache man sich klar, was man wirklich mit Augen
sieht. Man beschreibe für sich Form, Farbe und alle sonstigen Eigenschaften des
Samens. Dann überlege man folgendes. Aus diesem Samenkorn wird eine
vielgestaltige Pflanze entstehen, wenn es in die Erde gepflanzt wird. Man
vergegenwärtige sich diese Pflanze. Man baue sie sich in der Phantasie auf. Und
dann denke man: Was ich mir jetzt in meiner Phantasie vorstelle, das werden die
Kräfte der Erde und des Lichtes später wirklich aus dem Samenkorn hervorlocken.
Wenn ich ein künstlich geformtes Ding vor mir hätte, das ganz täuschend dem
Samenkorn nachgeahmt wäre, so daß es meine Augen nicht von einem wahren
unterscheiden könnten, so würde keine Kraft der Erde und des Lichtes aus diesem
eine Pflanze hervorlocken. Wer sich diesen Gedanken ganz klar macht, wer ihn
innerlich erlebt, der wird sich auch den folgenden mit dem richtigen Gefühle bilden können. Er wird sich sagen: in dem
Samenkorn ruht schon auf verborgene Art – als Kraft der ganzen Pflanze – das, was später aus ihm herauswächst. In
der künstlichen Nachahmung ruht diese Kraft nicht. Und doch sind für meine Augen beide gleich. In dem
wirklichen Samenkorn ist also etwas unsichtbar
enthalten, was in der Nachahmung nicht ist. Auf dieses Unsichtbare lenke
man nun Gefühl und Gedanken. [Wer da einwenden wollte, daß bei einer genaueren
mikroskopischen Untersuchung sich ja doch die Nachahmung von dem wirklichen
Samenkorn unterscheide, der zeigte nur, daß er nicht erfaßt hat, worauf es
ankommt. Es handelt sich nicht darum, was man genau wirklich in sinnenfälliger
Weise vor sich hat, sondern darum, daß man daran seelisch-geistige Kräfte
entwickle.] Man stelle sich vor: dieses Unsichtbare wird sich später in die
sichtbare Pflanze verwandeln, die ich in Gestalt und Farbe vor mir haben werde.
Man hänge dem Gedanken nach: das
Unsichtbare wird sichtbar werden. Könnte ich nicht denken, so könnte sich mir auch nicht schon jetzt ankündigen, was
erst später sichtbar werden wird.
Besonders deutlich sei es betont:
Was man da denkt, muß man auch intensiv fühlen.
Man muß in Ruhe, ohne alle
störenden Beimischungen anderer Gedanken, den einen oben angedeuteten in sich erleben. Und man muß sich Zeit lassen,
so daß sich der Gedanke und das Gefühl, die sich an ihn knüpfen, gleichsam in
die Seele einbohren. – Bringt man das in der rechten Weise zustande, dann wird
man nach einiger Zeit – vielleicht erst nach vielen Versuchen – eine Kraft in
sich verspüren. Und diese Kraft wird eine neue Anschauung erschaffen. Das
Samenkorn wird wie in einer kleinen Lichtwolke eingeschlossen erscheinen. Es
wird auf sinnlich–geistige Weise als eine Art Flamme empfunden werden. Gegenüber der Mitte dieser Flamme
empfindet man so, wie man beim Eindruck der Farbe Lila empfindet; gegenüber dem Rande, wie man der Farbe Bläulich gegenüber empfindet. – Da
erscheint das, was man vorher nicht gesehen hat und was die Kraft des Gedankens
und der Gefühle geschaffen hat, die man in sich erregt hat. Was sinnlich
unsichtbar war, die Pflanze, die erst später sichtbar werden wird, das
offenbart sich da auf geistig sichtbare Art.
Es ist begreiflich, daß mancher
Mensch das alles für Illusion halten wird. Viele werden sagen: «Was sollen mir
solche Gesichte, solche Phantasmen?» Und manche werden abfallen und den Pfad
nicht fortsetzen. Aber gerade darauf kommt es an: in diesen schwierigen Punkten
der menschlichen Entwickelung nicht Phantasie und geistige Wirklichkeit
miteinander zu verwechseln. Und ferner darauf, den Mut zu haben, vorwärts zu
dringen und nicht furchtsam und kleinmütig zu werden. Auf der anderen Seite
aber muß allerdings betont werden, daß der gesunde
Sinn, der Wahrheit und Täuschung unterscheidet, fortwährend gepflegt werden
muß. Der Mensch darf während all dieser Übungen nie die volle bewußte Herrschaft über sich selbst
verlieren. So sicher, wie er über die Dinge und Vorgänge des Alltagslebens
denkt, so muß er auch hier denken. Schlimm wäre es, wenn er in Träumerei
verfiele. Verstandesklar, um nicht zu sagen: nüchtern, muß er in jedem
Augenblicke bleiben. Und der größte Fehler wäre gemacht, wenn der Mensch durch
solche Übungen sein Gleichgewicht verlöre, wenn er abgehalten würde, so gesund
und klar über die Dinge des Alltagslebens zu urteilen, wie er das vorher getan
hat. Immer wieder soll sich der Geheimschüler daher prüfen, ob er nicht etwa
aus seinem Gleichgewicht herausgefallen ist, ob er derselbe geblieben ist innerhalb der Verhältnisse, in denen er
lebt. Festes Ruhen in sich selbst, klarer Sinn für alles, das muß er sich
bewahren. Allerdings ist streng zu beachten, daß man sich nicht jeder
beliebigen Träumerei hingeben soll, sich nicht allen möglichen Übungen
überlassen soll. Die Gedankenrichtungen, die hier angegeben werden, sind seit
Urzeiten in den Geheimschulen erprobt und geübt. Und nur solche werden hier mitgeteilt. Wer solche anderer Art anwenden
wollte, die er sich selbst bildet oder von denen er da oder dort hört und
liest, der muß in die Irre gehen und wird sich bald auf dem Pfade uferloser
Phantastik befinden.
Eine weitere Übung, die sich an
die beschriebene anzuschließen hat, ist die folgende. Man stelle sich einer
Pflanze gegenüber, die sich auf der Stufe der vollen Entwickelung befindet. Nun
erfülle man sich mit dem Gedanken, daß die Zeit kommen werde, wo diese Pflanze
abstirbt. Nichts wird von dem mehr sein, was ich jetzt vor mir sehe. Aber diese
Pflanze wird dann Samenkörner aus sich entwickelt haben, die wieder zu neuen
Pflanzen werden. Wieder werde ich gewahr, daß in dem, was ich sehe, etwas
verborgen ruht, was ich nicht sehe. Ich erfülle mich ganz mit dem Gedanken:
diese Pflanzengestalt mit ihren Farben wird künftig nicht mehr sein. Aber die
Vorstellung, daß sie Samen bildet, lehrt mich, daß sie nicht in Nichts
verschwinden werde. Was sie vor dem Verschwinden bewahrt, kann ich jetzt
ebensowenig mit Augen sehen, wie ich früher die Pflanze im Samenkorn habe sehen
können. Es gibt also in ihr etwas, was
ich nicht mit Augen sehe. Lasse ich diesen Gedanken in mir leben und verbindet sich das entsprechende Gefühl in mir mit ihm, dann entwickelt
sich wieder, nach angemessener Zeit, in meiner Seele eine Kraft, die zur neuen Anschauung wird. Aus der Pflanze
wächst wieder eine Art von geistiger Flammenbildung
heraus. Diese ist natürlich entsprechend größer als die vorhin
geschilderte. Die Flamme kann etwa in ihrem mittleren Teile grünlichblau und an
ihrem äußeren Rande gelblichrot empfunden werden.
Es muß ausdrücklich betont
werden, daß man, was hier als «Farben» bezeichnet wird, nicht so sieht, wie physische Augen die Farben sehen, sondern daß
man durch die geistige Wahrnehmung
Ähnliches empfindet, wie wenn man einen physischen Farbeneindruck hat. Geistig
«blau» wahrnehmen heißt etwas empfinden oder erfühlen, was ähnlich dem ist, was
man empfindet, wenn der Blick des physischen Auges auf der Farbe «Blau» ruht.
Dies muß berücksichtigen, wer allmählich wirklich zu geistigen Wahrnehmungen
aufsteigen will. Er erwartet sonst, im Geistigen nur eine Wiederholung des
Physischen zu finden. Das müßte ihn auf das bitterste beirren.
Wer es dahin gebracht hat,
solches geistig zu sehen, hat viel gewonnen. Denn die Dinge enthüllen sich ihm
nicht nur im gegenwärtigen Sein, sondern
auch in ihrem Entstehen und Vergehen. Er fängt an, überall den Geist zu
schauen, von dem die sinnlichen Augen nichts wissen können. Und damit hat er
die ersten Schritte dazu getan, um allmählich durch eigene Anschauung hinter
das Geheimnis von Geburt und Tod zu
kommen. Für die äußeren Sinne entsteht ein Wesen bei der Geburt; es vergeht im
Tode. Dies ist aber nur deshalb, weil diese Sinne den verborgenen Geist des
Wesens nicht wahrnehmen. Für den Geist sind Geburt und Tod nur eine
Verwandlung, wie das Hervorsprießen der Blume aus der Knospe eine Verwandlung
ist, die sich vor den sinnlichen Augen abspielt. Will man das aber durch eigene
Anschauung kennenlernen, so muß man in der angedeuteten Art erst den geistigen
Sinn dafür erwecken.
Um gleich noch einen Einwand
hinwegzunehmen, den manche Menschen machen könnten, die einige seelische
(psychische) Erfahrung haben, sei dieses gesagt. Es soll gar nicht bestritten
werden, daß es kürzere, einfachere Wege gibt, daß manche aus eigener Anschauung
die Erscheinungen von Geburt und Tod kennenlernen, ohne erst alles das, was
hier beschrieben wird, durchgemacht zu haben. Es gibt eben Menschen, welche
bedeutende psychische Anlagen haben, die nur eines kleinen Änstoßes bedürfen,
um entwickelt zu werden. Aber das sind Ausnahmen. Der hier angegebene Weg ist
jedoch ein allgemeiner und sicherer. Man kann sich ja auch einige chemische
Kenntnisse auf einem ausnahmsweisen Weg erwerben; will man aber Chemiker
werden, dann muß man den allgemeinen und sicheren Weg gehen.
Ein folgenschwerer Irrtum würde
sich ergeben, wenn jemand glauben wollte, er könne, um bequemer zum Ziele zu
gelangen, sich das besprochene Samenkörnchen oder die Pflanze bloß vorstellen, bloß in der Phantasie
vorhalten. Wer dies tut, kann wohl auch zum Ziele kommen, doch nicht so sicher
wie auf die angegebene Art. Die Anschauung, zu der man kommt, wird in den
meisten Fällen nur ein Blendwerk der Phantasie sein. Bei ihr müßte dann die
Umwandlung in geistige Anschauung erst abgewartet werden. Denn darauf kommt es
an, daß nicht ich in bloßer Willkür mir Anschauungen schaffe, sondern darauf,
daß die Wirklichkeit sie in mir erschafft.
Aus den Tiefen meiner eigenen Seele muß die Wahrheit hervorquellen; aber nicht
mein gewöhnliches Ich darf selbst der Zauberer sein, der die Wahrheit
hervorlocken will, sondern die Wesen müssen dieser Zauberer sein, deren
geistige Wahrheit ich schauen will.
Hat der Mensch durch solcherlei
Übungen in sich die ersten Anfänge zu geistigen Anschauungen gefunden, so darf
er aufsteigen zur Betrachtung des Menschen selbst. Einfache Erscheinungen des
menschlichen Lebens müssen zunächst gewählt werden. – Bevor man aber dazu
schreitet, ist es notwendig, besonders ernstlich an der vollen Lauterkeit
seines moralischen Charakters zu arbeiten. Man muß jeden Gedanken daran
entfernen, daß man etwa auf diese Art erlangte Erkenntnis zum persönlichen
Eigennutz anwenden werde. Man muß mit sich darüber einig sein, daß man niemals eine Macht über seine
Mitmenschen, die man etwa erlangen werde, im Sinne des Bösen ausnutzen werde.
Deshalb muß jeder, der Geheimnisse über die menschliche Natur durch eigene
Anschauung sucht, die goldene Regel
der wahren Geheimwissenschaften befolgen. Und diese goldene Regel ist: wenn du einen Schritt vorwärts zu machen
versuchst in der Erkenntnis geheimer Wahrheiten, so mache zugleich drei vorwärts in der Vervollkommnung
deines Charakters zum Guten. – Wer diese Regel befolgt, der kann solche Übungen
machen, wie nunmehr eine beschrieben werden soll.
Man vergegenwärtige sich einen
Menschen, von dem man einmal beobachtet hat, wie er nach irgendeiner Sache verlangt hat. Auf die Begierde soll die Aufmerksamkeit
gerichtet werden. Am besten ist es, den Zeitpunkt in der Erinnerung
wachzurufen, in dem die Begierde am lebhaftesten war und in dem es ziemlich
unentschieden war, ob der Mensch das Verlangte erhalten werde oder nicht. Und
nun gebe man sich der Vorstellung an das, was man in der Erinnerung beobachtet,
ganz hin. Man stelle die denkbar größte innere Ruhe der eigenen Seele her. Man
versuche so viel, als nur möglich ist, blind und taub zu sein für alles andere,
was ringsherum vorgeht. Und man achte besonders darauf, daß durch die angeregte
Vorstellung in der Seele ein Gefühl erwache.
Dieses Gefühl lasse man in sich heraufziehen wie eine Wolke, die an dem sonst
ganz leeren Horizont heraufzieht. Es ist ja nun natürlich, daß in der Regel die
Beobachtung dadurch unterbrochen wird, daß man den Menschen, auf den man die
Aufmerksamkeit lenkt, nicht lange genug in dem geschilderten Seelenzustand
beobachtet hat. Man wird wahrscheinlich Hunderte und aber Hunderte von
vergeblichen Versuchen anstellen. Man darf eben die Geduld nicht verlieren.
Nach vielen Versuchen wird man es dahin bringen, daß man in der eigenen Seele
ein Gefühl erlebt, das dem Seelenzustand des beobachteten Menschen entspricht.
Dann wird man aber auch nach einiger Zeit bemerken, daß durch dieses Gefühl in
der eigenen Seele eine Kraft erwächst, die zur geistigen Anschauung des Seelenzustandes des anderen wird. Im
Gesichtsfelde wird ein Bild auftreten, das man wie etwas Leuchtendes empfindet.
Und dieses geistig leuchtende Bild ist die sogenannte astrale Verkörperung des
beobachteten Seelenzustandes der Begierde. Wieder als flammenähnlich empfunden
kann dieses Bild beschrieben werden. Es wird in der Mitte wie gelbrot sein und
am Rande wie rötlichblau oder lila empfunden werden. Viel kommt darauf an, daß
man mit solcher geistigen Anschauung zart umgehe. Man tut am besten, wenn man
zunächst zu niemand davon spricht als nur etwa zu seinem Lehrer, wenn man einen
solchen hat. Denn versucht man eine solche Erscheinung durch ungeschickte Worte
zu beschreiben, so gibt man sich meistens argen Täuschungen hin. Man gebraucht
die gewöhnlichen Worte, die doch für solche Dinge nicht bestimmt und daher für
sie zu grob und schwerfällig sind. Die Folge ist dann, daß man durch den
eigenen Versuch, die Sache in Worte zu kleiden, verführt wird, sich in die
wahren Anschauungen allerlei Phantasieblendwerke hineinzumischen. Wieder ist
eine wichtige Regel für den Geheimschüler: Verstehe über deine geistigen
Gesichte zu schweigen. Ja, schweige
sogar vor dir selber darüber. Versuche nicht, was du im Geiste erschaust, in
Worte zu kleiden oder mit dem ungeschickten Verstande zu ergründen. Gib dich
unbefangen deiner geistigen Anschauung hin und störe sie dir nicht durch vieles
Nachdenken darüber. Denn du mußt bedenken, daß dein Nachdenken anfangs ganz und
gar nicht deinem Schauen gewachsen ist. Dieses Nachdenken hast du dir in deinem
bisherigen, bloß auf die physisch–sinnliche Welt beschränkten Leben erworben;
und was du dir jetzt erwirbst, geht darüber hinaus. Suche also nicht, an das
neue Höhere den Maßstab des alten anzulegen. Nur wer schon einige Festigkeit
hat im Beobachten innerer Erfahrungen, der kann darüber reden, um durch solches
Reden seine Mitmenschen anzuregen.
Zu der beschriebenen Übung mag
eine ergänzende kommen. Man beobachte in der gleichen Art, wie einem Menschen
die Befriedigung irgendeines Wunsches, die Erfüllung einer Erwartung zuteil
geworden ist. Gebraucht man dabei dieselben Regeln und Vorsichten, die eben für
den anderen Fall angegeben worden sind, so wird man auch da zu einer geistigen
Anschauung gelangen. Man wird eine geistige Flammenbildung bemerken, die in der
Mitte als gelb sich fühlt und die wie mit einem grünlichen Rande empfunden
wird.
Leicht kann der Mensch durch
solche Beobachtung seiner Mitmenschen in einen moralischen Fehler verfallen. Er
kann lieblos werden. Daß dies nicht der Fall sei, muß eben mit allen nur
erdenkbaren Mitteln angestrebt werden. Beobachtet man so, dann soll man eben durchaus
schon auf der Höhe stehen, in der es einem zur völligen Gewißheit geworden ist,
daß Gedanken wirkliche Dinge sind.
Man darf sich da nicht mehr gestatten, über seinen Mitmenschen so zu denken, daß die Gedanken mit der
höchsten Achtung der Menschenwürde und der Menschenfreiheit nicht verträglich
wären. Daß ein Mensch nur ein Beobachtungsobjekt für uns sein könnte: dieser
Gedanke darf uns nicht einen Augenblick erfüllen. Hand in Hand mit jeder
Geheimbeobachtung über die menschliche Natur muß die Selbsterziehung dahin
gehen, die volle Selbstgeltung eines jeden Menschen uneingeschränkt zu schätzen
und das als etwas Heiliges, von uns Unantastbares – auch in Gedanken und
Gefühlen – zu betrachten, was in dem Menschen wohnt. Ein Gefühl von heiliger
Scheu vor allem Menschlichen, selbst wenn es nur als Erinnerung gedacht wird,
muß uns erfüllen.
Nur an den zwei Beispielen sollte
vorläufig hier gezeigt werden, wie man sich zur Erleuchtung über die
menschliche Natur durchringt. Daran konnte aber wenigstens der Weg gezeigt
werden, der zu betreten ist. Wer die notwendige innere Stille und Ruhe findet,
die zu solcher Beobachtung gehören, dessen Seele wird schon dadurch eine große
Verwandlung durchmachen. Das wird bald so weit gehen, daß die innere
Bereicherung, die sein Wesen erfährt, ihm Sicherheit und Ruhe gibt auch in
seinem äußeren Verhalten. Und dieses verwandelte äußere Verhalten wird wieder
zurückwirken auf seine Seele. Und so wird er sich weiter helfen. Er wird Mittel
und Wege finden, immer mehr von der menschlichen Natur zu entdecken, was den
äußeren Sinnen verborgen ist; und er wird dann auch reif werden, einen Einblick
zu tun in die geheimnisvollen Zusammenhänge zwischen der Menschennatur und all
dem, was sonst noch im Weltall vorhanden ist. – Und auf diesem Wege naht sich
der Mensch immer mehr dem Zeitpunkte, wo er die ersten Schritte der Einweihung bewerkstelligen kann. Bevor
diese aber getan werden können, ist noch eines notwendig. Es ist dies etwas,
dessen Notwendigkeit der Geheimschüler zunächst vielleicht am wenigsten
einsehen wird. Später aber wird er dies.
Was nämlich der Einzuweihende
mitbringen muß, ist ein in gewisser Beziehung ausgebildeter Mut und Furchtlosigkeit. Der Geheimschüler muß geradezu die Gelegenheiten
aufsuchen, durch welche diese Tugenden ausgebildet werden. In der
Geheimschulung sollten sie ganz systematisch herangebildet werden. Aber auch
das Leben selbst ist namentlich nach dieser Richtung hin eine gute
Geheimschule; vielleicht die beste. Einer Gefahr ruhig ins Auge schauen, Schwierigkeiten
ohne Zagen überwinden wollen: solches muß der Geheimschüler können. Er muß zum
Beispiel einer Gefahr gegenüber sich sofort zu der Empfindung aufraffen: meine
Angst nützt nach gar keiner Seite; ich darf sie gar nicht haben; ich muß nur an
das denken, was zu tun ist. Und er muß es so weit bringen, daß für
Gelegenheiten, in denen er vorher ängstlich war, «Angsthaben», «Mutlos-werden»
für ihn wenigstens im eigentlichen innersten Empfinden unmögliche Dinge werden.
Durch die Selbsterziehung nach dieser Richtung entwickelt nämlich der Mensch in
sich ganz bestimmte Kräfte, die er braucht, wenn er in höhere Geheimnisse
eingeweiht werden soll. So wie der physische Mensch Nervenkraft braucht, um
seine physischen Sinne zu benutzen, so bedarf der seelische Mensch jener Kraft,
die nur entwickelt wird in mutvollen und furchtlosen Naturen. Wer zu den
höheren Geheimnissen vordringt, der sieht nämlich Dinge, welche dem
gewöhnlichen Menschen durch die Täuschungen der Sinne verborgen bleiben. Denn,
wenn die physischen Sinne uns auch die höhere Wahrheit nicht schauen lassen, so
sind sie eben dadurch auch des Menschen Wohltäter. Durch sie verbergen sich für
ihn Dinge, welche ihn, unvorbereitet, in maßlose Bestürzung versetzen müßten,
deren Anblick er nicht ertragen könnte. Diesem Anblick muß der Geheimschüler
gewachsen werden. Er verliert gewisse Stützen in der Außenwelt, die er eben dem
Umstande verdankte, daß er in Täuschung befangen war. Es ist wirklich und
buchstäblich so, wie wenn man jemand auf eine Gefahr aufmerksam machte, in der
er schon lange geschwebt hat, von der er aber nichts gewußt hat. Vorher hatte
er keine Angst; jetzt aber, nachdem er weiß, überkommt ihn die Angst, obwohl
die Gefahr durch sein Wissen nicht größer geworden ist.
Die Kräfte der Welt sind
zerstörende und aufbauende: das Schicksal der äußeren Wesenheiten ist Entstehen
und Vergehen. In das Wirken dieser Kräfte, in den Gang dieses Schicksals soll
der Wissende blicken. Der Schleier, der im gewöhnlichen Leben vor den geistigen
Augen liegt, soll entfernt werden. Der Mensch selbst aber ist mit diesen
Kräften, mit diesem Schicksal verwoben. In seiner eigenen Natur sind
zerstörende und aufbauende Kräfte. So unverhüllt die anderen Dinge vor das
sehende Auge des Wissenden treten, so unverhüllt zeigt die eigene Seele sich
selbst. Solcher Selbsterkenntnis gegenüber darf der Geheimschüler nicht die
Kraft verlieren. Und sie wird ihm nur dann nicht fehlen, wenn er einen
Überschuß an ihr mitbringt. Damit dieses der Fall sei, muß er lernen, in
schwierigen Lebensverhältnissen die innere Ruhe und Sicherheit zu bewahren; er
muß in sich ein starkes Vertrauen in die guten Mächte des Daseins erziehen. Er
muß darauf gefaßt sein, daß manche Triebfedern ihn nicht mehr leiten werden,
die ihn bisher geleitet haben. Er wird ja einsehen müssen, daß er bisher
manches nur getan und gedacht hat, weil er in Unwissenheit befangen war. Solche
Gründe, wie er sie bisher gehabt, werden wegfallen. Er hat manches aus
Eitelkeit getan; er wird sehen, wie unsäglich wertlos alle Eitelkeit für den
Wissenden ist. Er hat manches aus Habsucht getan; er wird gewahr werden, wie
zerstörend alle Habsucht ist. Ganz neue Triebfedern zum Handeln und Denken wird
er entwickeln müssen. Und eben dazu gehören Mut und Furchtlosigkeit.
Vorzüglich handelt es sich darum,
im tiefsten Innern des Gedankenlebens selbst diesen Mut und diese
Furchtlosigkeit zu pflegen. Der Geheimschüler muß lernen, über einen Mißerfolg
nicht zu verzagen. Er muß zu dem Gedanken fähig sein: «Ich will vergessen, daß
mir diese Sache schon wieder mißglückt ist, und aufs neue versuchen, wie wenn
nichts gewesen wäre.» So ringt er sich durch zu der Überzeugung, daß die
Kraftquellen in der Welt, aus denen er schöpfen kann, unversieglich sind. Er
strebt immer wieder nach dem Geistigen, das ihn heben und tragen wird, wie oft
auch sein Irdisches sich als kraftlos und schwach erwiesen haben mag. Er muß
fähig sein, der Zukunft entgegenzuleben, und in diesem Streben sich durch keine
Erfahrung der Vergangenheit stören lassen. – Hat der Mensch die geschilderten
Eigenschaften bis zu einem gewissen Grade, dann ist er reif, die wahren Namen der Dinge zu erfahren, die
der Schlüssel zu dem höheren Wissen sind. Denn darin besteht die Einweihung, daß man lernt, die Dinge der
Welt bei demjenigen Namen zu benennen, die sie im Geiste ihrer göttlichen
Urheber haben. In diesen ihren Namen liegen die Geheimnisse der Dinge. Deshalb
sprechen die Eingeweihten eine andere Sprache als Uneingeweihte, weil die
ersteren die Bezeichnung der Wesen nennen, durch welche diese selbst gemacht
sind. – Soweit von der Einweihung (Initiation) selbst gesprochen werden kann,
soll das im nächsten Kapitel folgen.
Die Einweihung ist die höchste der Stufen einer Geheimschulung, über
welche in einer Schrift noch Andeutungen gegeben
werden können, die allgemein verständlich sind. Über alles, was darüber liegt,
sind Mitteilungen schwer verständlich. Aber auch dazu findet jeder den Weg, der
durch die Vorbereitung, Erleuchtung und Einweihung bis zu den niederen Geheimnissen
vorgedrungen ist.
Das Wissen und Können, das einem
Menschen durch die Einweihung zuteil wird, könnte er ohne eine solche erst in
einer sehr fernen Zukunft – nach vielen Verkörperungen – auf einem ganz anderen
Wege und auch in einer ganz anderen Form erwerben. Wer heute eingeweiht wird,
erfährt etwas, was er sonst viel später, unter ganz anderen Verhältnissen,
erfahren würde.
Ein Mensch kann von den
Geheimnissen des Daseins nur so viel wirklich erfahren, als dem Grade seiner
Reife entspricht. Nur deshalb gibt es Hindernisse zu den höheren Stufen des
Wissens und Könnens. Der Mensch soll ein Schießgewehr nicht früher gebrauchen,
als bis er genügende Erfahrung hat, um durch den Gebrauch nicht Unheil
anzurichten. – Würde heute jemand ohne weiteres eingeweiht, so würde ihm die
Erfahrung fehlen, die er durch die Verkörperungen in der Zukunft noch machen
wird, bis ihm die entsprechenden Geheimnisse im regelmäßigen Verlauf seiner
Entwickelung zuteil werden. Deshalb müssen an der Pforte der Einweihung diese
Erfahrungen durch etwas anderes ersetzt sein. In einem Ersatz für künftige
Erfahrungen bestehen daher die ersten Unterweisungen des Einweihungskandidaten.
Es sind das die sogenannten «Proben», die er durchzumachen hat und die sich als
regelmäßige Folge des Seelenlebens ergeben, wenn Übungen, wie die in den
vorhergehenden Kapiteln geschilderten, richtig fortgesetzt werden.
Von diesen «Proben» wird ja auch
in Büchern oft gesprochen. Aber es ist nur natürlich, daß von ihrer Natur durch
solche Besprechungen in der Regel ganz falsche Vorstellungen hervorgerufen
werden müssen. Denn wer nicht durch die Vorbereitung und Erleuchtung
hindurchgegangen ist, hat ja nichts von diesen Proben jemals erfahren. Ein
solcher kann sie auch nicht sachgemäß beschreiben.
Dem Einzuweihenden müssen sich
gewisse Dinge und Tatsachen ergeben, die den höheren Welten angehören. Er kann
sie aber nur sehen und hören, wenn er die geistigen Wahrnehmungen wie Figuren,
Farben, Töne und so weiter empfinden kann, von denen bei Besprechung der
«Vorbereitung» und «Erleuchtung» berichtet worden ist.
Die erste «Probe» besteht
darinnen, daß er eine wahrere Anschauung erlangt
von den leiblichen Eigenschaften der leblosen Körper, dann der Pflanzen, der
Tiere und des Menschen, als sie der Durchschnittsmensch besitzt. Damit ist aber
nicht das gemeint, was man heute wissenschaftliche Erkenntnis nennt. Denn nicht
um Wissenschaft, sondern um Anschauung handelt
es sich. – In der Regel ist der Vorgang so, daß der Einzuweihende erkennen
lernt, wie sich die Naturdinge und Lebewesen für das geistige Ohr und geistige
Auge kundgeben. In einer gewissen Weise stehen diese Dinge dann unverhüllt –
nackt – vor dem Beschauer. Dem sinnlichen Auge und dem sinnlichen Ohre
verbergen sich die Eigenschaften, die man da hört und sieht. Sie sind für
dieses sinnliche Anschauen wie mit einem Schleier verhüllt. Daß dieser Schleier
für den Einzuweihenden wegfällt, beruht auf einem Vorgang, den man als
«geistigen Verbrennungsprozeß» bezeichnet. Deshalb wird diese erste Probe die «Feuerprobe» genannt.
Für manche Menschen ist das
gewöhnliche Leben selbst schon ein mehr oder weniger unbewußter
Einweihungsprozeß durch die Feuerprobe. Es sind das diejenigen, welche durch
reiche Erfahrungen von solcher Art durchgehen, daß ihr Selbstvertrauen, ihr Mut
und ihre Standhaftigkeit in gesunder Weise groß werden und daß sie Leid,
Enttäuschung, Mißlingen von Unternehmungen mit Seelengröße und namentlich mit
Ruhe und in ungebrochener Kraft ertragen lernen. Wer Erfahrungen in dieser Art
durchgemacht hat, der ist oft schon, ohne daß er es deutlich weiß, ein
Eingeweihter; und es bedarf dann nur eines wenigen, um ihm geistige Ohren und
Augen zu öffnen, so daß er ein Hell sehender wird. Denn das ist festzuhalten:
es handelt sich bei einer wahren «Feuerprobe» nicht darum, daß die Neugierde
des Kandidaten befriedigt werde. Gewiß, er lernt außergewöhnliche Tatsachen
kennen, von denen andere Menschen keine Ahnung haben. Aber dieses Kennenlernen
ist nicht das Ziel, sondern nur das Mittel zum Ziel. Das Ziel aber ist, daß
sich der Kandidat durch die Erkenntnis der höheren Welten größeres und wahreres
Selbstvertrauen, höheren Mut und eine ganz andere Seelengröße und Ausdauer
erwerbe, als sie in der Regel innerhalb der niederen Welt erlangt werden
können.
Nach der «Feuerprobe» kann jeder
Kandidat noch umkehren. Er wird gestärkt in physischer und seelischer Beziehung
dann sein Leben fortsetzen und wohl erst in einer nächsten Verkörperung die
Einweihung fortsetzen. In seiner gegenwärtigen aber wird er ein brauchbareres
Glied der menschlichen Gesellschaft sein, als er vorher war. In welcher Lage er
sich auch befinden mag: seine Festigkeit, seine Umsicht, sein günstiger Einfluß
auf seine Mitmenschen, seine Entschlossenheit werden zugenommen haben.
Will der
Kandidat nach vollbrachter Feuerprobe die Geheimschulung fortsetzen, so muß ihm
nunmehr ein bestimmtes Schriftsystem enthüllt werden, wie solche in der
Geheimschulung üblich sind. In diesen Schriftsystemen offenbaren sich die
eigentlichen Geheimlehren. Denn dasjenige, was in den Dingen wirklich
«verborgen» (okkult) ist, kann weder mit den Worten der gewöhnlichen Sprache
unmittelbar ausgesprochen, noch kann es mit den gewöhnlichen Schriftsystemen
aufgezeichnet werden. Diejenigen, welche von den Eingeweihten gelernt haben, übersetzen die Lehren der
Geheimwissenschaft in die gewöhnliche Sprache, so gut das geht. Die okkulte
Schrift offenbart sich der Seele, wenn diese die geistige Wahrnehmung erlangt
hat. Denn diese Schrift steht in der geistigen Welt immer geschrieben. Man
lernt sie nicht so, wie man eine künstliche Schrift lesen lernt. Man wächst
vielmehr in sachgemäßer Weise der hellsichtigen Erkenntnis entgegen, und
während dieses Wachsens entwickelt sich wie eine seelische Fähigkeit die Kraft,
welche die vorhandenen Geschehnisse und Wesenheiten der geistigen Welt wie die
Charaktere einer Schrift zu entziffern sich gedrängt fühlt. Es könnte sein, daß
diese Kraft und mit ihr das Erleben der entsprechenden «Probe» mit der
fortschreitenden Seelenentwickelung wie von selbst erwachen. Doch sicherer
gelangt man zum Ziele, wenn man die Anweisungen der erfahrenen Geheimforscher
befolgt, die Gewandtheit haben im Entziffern der okkulten Schrift.
Die Zeichen der Geheimschrift
sind nicht willkürlich ersonnen, sondern sie entsprechen den Kräften, welche in
der Welt wirksam sind. Man lernt durch diese Zeichen die Sprache der Dinge. Dem
Kandidaten zeigt sich alsbald, daß die Zeichen, die er kennenlernt, den
Figuren, Farben, Tönen und so weiter entsprechen, die er während der
Vorbereitung und Erleuchtung wahrzunehmen gelernt hat. Es zeigt sich ihm, daß
alles Vorhergehende nur wie ein Buchstabieren war. Jetzt erst fängt er an, in
der höheren Welt zu lesen. In einem großen Zusammenhang erscheint ihm alles, was
vorher nur vereinzelte Figur, Ton, Farbe war. Jetzt erst gewinnt er die rechte
Sicherheit im Beobachten der höheren Welten. Vorher konnte er nie mit
Bestimmtheit wissen, ob die Dinge, die er gesehen hat, auch richtig gesehen
waren. Und jetzt erst kann eine geregelte Verständigung zwischen dem Kandidaten
und dem Eingeweihten auf den Gebieten des höheren Wissens stattfinden. Denn wie
auch das Zusammenleben eines Eingeweihten mit einem anderen Menschen im
gewöhnlichen Leben gestaltet sein mag: von dem höheren Wissen in unmittelbarer Gestalt kann der
Eingeweihte nur in der erwähnten Zeichensprache etwas mitteilen.
Durch diese Sprache wird der
Geheimschüler auch bekannt mit gewissen Verhaltungsmaßregeln für das Leben. Er
lernt gewisse Pflichten kennen, von denen er vorher nichts gewußt hat. Und wenn
er diese Verhaltungsmaßregeln kennengelernt hat, so kann er Dinge vollbringen,
die eine Bedeutung haben, wie sie niemals die Taten eines Uneingeweihten haben
können. Er handelt von den höheren Welten aus. Die Anweisungen zu solchen
Handlungen können nur in der angedeuteten Schrift verstanden werden.
Es muß aber betont werden, daß es
Menschen gibt, die solche Handlungen unbewußt
auszuführen vermögen, trotzdem sie nicht eine Geheimschulung durchgemacht
haben. Solche «Helfer der Welt und Menschheit» schreiten segnend und wohltuend
durchs Leben. Ihnen sind durch Gründe, die hier nicht zu erörtern sind, Gaben
verliehen worden, die übernatürlich erscheinen. Was sie von dem Geheimschüler
unterscheidet, ist lediglich das, daß dieser mit Bewußtsein, mit voller Einsicht in den ganzen Zusammenhang handelt.
Er erringt eben durch Schulung, was jenen von höheren Mächten zum Heile der
Welt beschert worden ist. Die Gottbegnadeten kann man aufrichtig verehren; aber
deswegen darf man die Arbeit der Schulung nicht für überflüssig halten.
Hat der Geheimschüler die
erwähnte Zeichenschrift gelernt, dann beginnt für ihn eine weitere «Probe».
Durch diese muß sich erweisen, ob er sich frei und sicher in der höheren Welt
bewegen kann. Im gewöhnlichen Leben wird der Mensch durch Antriebe von außen zu
seinen Handlungen bewogen. Er arbeitet dieses oder jenes, weil ihm die
Verhältnisse diese oder jene Pflichten auferlegen. – Es braucht wohl kaum
erwähnt zu werden, daß der Geheimschüler keine seiner Pflichten im gewöhnlichen
Leben versäumen darf, weil er in
höheren Welten lebt. Keine Pflicht in
einer höheren Welt kann jemanden zwingen, eine einzige seiner Pflichten in der
gewöhnlichen außer acht zu lassen. Der Familienvater bleibt ebenso guter
Familienvater, die Mutter ebenso gute Mutter, der Beamte wird von nichts
abgehalten, ebensowenig der Soldat oder ein anderer, wenn sie Geheimschüler
werden. Im Gegenteil: alle die Eigenschaften, die den Menschen im Leben tüchtig
machen, steigern sich bei dem Geheimschüler in einem Maße, von dem sich der
Uneingeweihte keinen Begriff machen kann. Und wenn das dem Uneingeweihten auch
oft – nicht immer, sogar selten – nicht so erscheint, dann rührt das nur davon
her, daß er den Eingeweihten nicht immer richtig zu beurteilen vermag. Was
letzterer tut, ist manchmal dem anderen nicht sogleich durchsichtig. Aber auch
das ist, wie gesagt, nur in besonderen Fällen zu bemerken.
Für den auf der genannten Stufe
der Einweihung Angelangten gibt es nun Pflichten, zu denen kein äußerer Anstoß vorhanden ist. Er wird in
diesen Dingen nicht durch äußere Verhältnisse, sondern nur durch jene Maßregeln
veranlaßt, welche ihm in der «verborgenen» Sprache offenbar werden. Nun muß er
durch die zweite «Probe» zeigen, daß er, geführt von einer solchen Maßregel,
ebenso sicher und fest handelt, wie etwa ein Beamter seine ihm obliegenden
Pflichten vollführt. – Zu diesem Zwecke wird durch die Geheimschulung der
Kandidat sich vor eine bestimmte Aufgabe gestellt fühlen. Dieser soll eine
Handlung ausführen infolge von Wahrnehmungen, die er macht auf Grund dessen,
was er auf der Vorbereitungs- und Erleuchtungsstufe gelernt hat. Und was er
auszuführen hat, das muß er erkennen durch die gekennzeichnete Schrift, die er
sich angeeignet hat. Erkennt er seine Pflicht und handelt er richtig, dann hat
er die Probe bestanden. Man erkennt den Erfolg an der Veränderung, die sich mit
den als Figuren, Farben und Tönen empfundenen Wahrnehmungen der Geistesohren
und -augen durch die Handlung vollzieht. In den Fortschritten der
Geheimschulung wird ganz genau angegeben, wie diese Figuren und so weiter nach
der Handlung aussehen, empfunden werden. Und der Kandidat muß wissen, wie er
eine solche Veränderung hervorzubringen vermag. – Man nennt diese Probe die «Wasserprobe»,
weil bei der Tätigkeit in diesen höheren Gebieten dem Menschen die Stütze durch
die äußeren Verhältnisse so fehlt, wie beim Bewegen im Wasser, dessen Grund man
nicht erreicht, die Stütze fehlt. – Der Vorgang muß so oft wiederholt werden, bis
der Kandidat völlige Sicherheit hat.
Auch bei dieser Probe handelt es
sich um das Erwerben einer Eigenschaft; und durch die Erfahrungen in der
höheren Welt bildet der Mensch diese Eigenschaft in kurzer Zeit in einem solch
hohen Grade aus, daß er im gewöhnlichen Verlaufe der Entwickelung wohl durch
viele Verkörperungen hindurchgehen müßte, um ihn zu erreichen. Worauf es
nämlich ankommt, ist das Folgende. Der Kandidat daif, um die angegebene
Veränderung auf dem höheren Gebiet des Daseins hervorzubringen, lediglich dem
folgen, was sich ihm auf Grund seiner höheren Wahrnehmung und als Folge seines
Lesens der verborgenen Schrift ergibt. Würde er während seiner Handlung irgend
etwas von seinen Wünschen, Meinungen und so weiter einmischen, folgte er nur
einen Augenblick nicht den Gesetzen, die er als richtig erkannt hat, sondern
seiner Willkür: dann würde etwas ganz anderes geschehen, als geschehen soll. In
diesem Falle verlöre der Kandidat sofort die Richtung auf sein Ziel der
Handlung, und Verwirrung träte ein. – Daher hat der Mensch durch diese Probe in
reichlichstem Maße Gelegenheit, seine Selbstbeherrschung
auszubilden. Und darauf kommt es an. Wieder kann daher diese Probe von
denen leichter bestanden werden, die vor der Einweihung durch ein Leben
gegangen sind, das ihnen die Erwerbung der Selbstbeherrschung gebracht hat. Wer
sich die Fähigkeit erworben hat, hohen Grundsätzen und Idealen mit
Hintansetzung der persönlichen Laune und Willkür zu folgen, wer versteht, die
Pflicht auch immer da zu erfüllen, wo die Neigungen und Sympathien gar zu gerne
von dieser Pflicht ablenken wollen, der ist unbewußt
schon mitten im gewöhnlichen Leben ein Eingeweihter. Und nur ein Geringes
wird notwendig sein, damit er die geschilderte Probe bestehe. Ja, es muß sogar
gesagt werden, daß ein gewisser schon im Leben unbewußt erlangter Grad von
Einweihung in der Regel durchaus notwendig sein wird, um die zweite Probe zu
bestehen. Denn wie es vielen Menschen, die in der Jugend nicht richtig
schreiben gelernt haben, schwer wird, dies nachzuholen, wenn sie einmal die
volle Lebensreife erlangt haben, so wird es auch schwer, den notwendigen Grad
von Selbstbeherrschung beim Einblicke
in die höheren Welten auszubilden, wenn man nicht schon vorher darinnen einen
gewissen Grad im alltäglichen Leben sich angeeignet hat. Die Dinge der
physischen Welt ändern sich nicht, was wir auch wünschen, begehren, was immer
wir auch für Neigungen haben. In den höheren Welten aber sind unsere Wünsche,
Begierden und Neigungen von Wirkung für
die Dinge. Wollen wir da auf die Dinge in entsprechender Weise wirken, so
müssen wir uns ganz in unserer Gewalt haben, müssen lediglich den richtigen
Maßregeln folgen und keinerlei Willkür unterworfen sein.
Eine Eigenschaft des Menschen,
die auf dieser Stufe der Einweihung ganz besonders in Betracht kommt, ist eine
unbedingt gesunde und sichere
Urteilskraft. Auf die Heranbildung einer solchen muß schon auf allen
früheren Stufen gesehen werden; und auf dieser muß es sich erweisen, ob der
Kandidat sie so handhabt, daß er für den wahren Erkenntnispfad geeignet ist. Er
kann nur dann weiterkommen, wenn er Illusion, wesenlose Phantasiegebilde,
Aberglauben und alle Art von Blendwerk von der wahren Wirklichkeit
unterscheiden kann. Und auf den höheren Stufen des Daseins ist das zunächst
schwieriger als auf den niederen. Da muß jedes Vorurteil, jede liebgewordene
Meinung schwinden in bezug auf die Dinge, auf die es ankommt; und einzig und
allein die Wahrheit muß Richtschnur
sein. Vollkommene Bereitschaft muß vorhanden sein, einen Gedanken, eine
Ansicht, eine Neigung sofort aufzugeben, wenn das logische Denken solches
fordert. Gewißheit in höheren Welten ist nur zu erlangen, wenn man nie die
eigene Meinung schont.
Menschen mit einer Denkungsart,
die zur Phantastik, zum Aberglauben neigt, können auf dem Geheimpfade keinen
Fortschritt machen. Ein kostbares Gut soll ja der Geheimjünger erringen. Alle Zweifel an den höheren Welten werden von
ihm genommen. Diese enthüllen sich in ihren Gesetzen vor seinen Blicken. Aber
er kann dieses Gut nicht erringen, solange er sich von Blendwerken und
Illusionen täuschen läßt. Schlimm wäre es für ihn, wenn seine Phantasie, seine
Vorurteile mit seinem Verstande durchgingen. Träumer und Phantasten sind für
den Geheimpfad ebenso ungeeignet wie abergläubische Personen. Das alles kann
nicht genug betont werden. Denn in Träumerei, Phantastik und Aberglauben lauern
die schlimmsten Feinde auf dem Wege zu Erkenntnissen in höheren Welten. Es
braucht aber auch niemand zu glauben, daß dem Geheimjünger die Poesie des
Lebens, die Begeisterungsfähigkeit verlorengehe, weil über dem Tore, das zur
zweiten Probe der Einweihung führt, die Worte stehen: «Alle Vorurteile müssen
von dir fallen», und weil er an der Eingangspforte zur ersten Probe bereits
lesen muß: «Ohne gesunden Menschenverstand sind alle deine Schritte vergebens.
»
Ist der Kandidat in dieser Art weit
genug vorgeschritten, so wartet die dritte «Probe» auf ihn. Bei dieser wird ihm
kein Ziel fühlbar. Es ist alles in seine eigene Hand gelegt. Er befindet sich
in einer Lage, wo ihn nichts zum Handeln veranlaßt. Er muß ganz allein aus sich
seinen Weg finden. Dinge oder Personen, die ihn zu etwas bewegen, sind nicht
da. Nichts und niemand kann ihm jetzt die Kraft geben, die er braucht, als nur
er selbst. Fände er diese Kraft nicht in sich selbst, so stände er sehr bald
wieder da, wo er vorher gestanden hat. Doch muß man sagen, daß nur wenige von
denen, welche die vorigen Proben bestanden haben, hier diese Kraft nicht finden
werden. Man bleibt entweder schon vorher zurück, oder man besteht auch hier.
Alles, was nötig ist, das besteht darinnen, rasch mit sich selbst zurecht zu
kommen. Denn man muß hier sein «höheres Selbst» im wahrsten Sinne des Wortes
finden. Man muß sich rasch entschließen, auf die Eingebung des Geistes in allen
Dingen zu hören. Zeit zu irgendwelchen Bedenken, Zweifeln und so weiter hat man
hier nicht mehr. Jede Minute Zögerung würde nur beweisen, daß man noch nicht
reif ist. Was abhält, auf den Geist zu hören, muß kühn überwunden werden. Es kommt
darauf an, Geistesgegenwart in dieser
Lage zu beweisen. Und das ist auch die Eigenschaft, auf deren vollkommene
Ausbildung es auf dieser Entwickelungsstufe abgesehen ist. Alle Verlockungen
zum Handeln, ja selbst zum Denken, an die ein Mensch vorher gewöhnt war, hören
auf. Um nicht untätig zu bleiben, darf der Mensch sich selbst nicht verlieren. Denn nur in sich selbst kann er den
einzigen festen Punkt finden, an den er sich zu halten vermag. Niemand, der
dies hier liest, ohne weiter mit den Sachen vertraut zu sein, sollte eine
Antipathie empfinden gegen dieses Zurückgewiesensein auf sich selbst. Denn es
bedeutet für den Menschen die schönste Glückseligkeit, wenn er die geschilderte
Probe besteht.
Und nicht weniger als in den
anderen Fällen ist auch für diesen Punkt das gewöhnliche Leben für viele
Menschen schon eine Geheimschule. Personen, die es dahin gebracht haben, daß
sie, vor plötzlich an sie herantretende Lebensaufgaben gestellt, ohne Zögern,
ohne viel Bedenken eines raschen Entschlusses fähig sind, ihnen ist das Leben
eine solche Schulung. Die geeigneten Lagen sind diejenigen, wo ein
erfolgreiches Handeln sofort unmöglich wird, wenn der Mensch nicht rasch
eingreift. Wer rasch bei der Hand ist, zuzugreifen, wenn ein Unglück in Sicht
ist, während durch einige Augenblicke Zögerung das Unglück bereits geschehen
wäre, und wer eine solche rasche Entschlußfähigkeit zu einer bleibenden
Eigenschaft bei sich gemacht hat, der hat unbewußt die Reife für die dritte
«Probe» erworben. Denn auf die Heranbildung der unbedingten Geistesgegenwart kommt es bei ihr an.
Man nennt sie in den Geheimschulen die «Luftprobe», weil der Kandidat bei ihr
sich weder auf den festen Boden der äußeren Veranlassungen stützen kann noch
auf dasjenige, was sich aus den Farben, Formen und so weiter ergibt, die er
durch Vorbereitung und Erleuchtung kennengelernt hat, sondern ausschließlich
auf sich selbst.
Hat der Geheimjünger diese Probe
bestanden, dann darf er den «Tempel der höheren Erkenntnisse» betreten. – Was
darüber weiter zu sagen ist, kann nur die allerspärlichste Andeutung sein. –
Was jetzt zu leisten ist, wird oft so ausgedrückt, daß man sagt: der
Geheimjünger habe einen «Eid» zu leisten, nichts von den Geheimlehren zu
«verraten». Doch sind die Ausdrücke «Eid» und «verraten» keineswegs sachgemäß
und sogar zunächst irreführend. Es handelt sich um keinen «Eid» im gewöhnlichen
Sinne des Wortes. Man macht vielmehr auf dieser Stufe der Entwickelung eine Erfahrung. Man lernt, wie man die
Geheimlehre anwendet, wie man sie in den Dienst der Menschheit stellt. Man
fängt an, die Welt erst recht zu verstehen. Nicht auf das «Verschweigen» der
höheren Wahrheiten kommt es da an, sondern vielmehr auf die rechte Art, den
entsprechenden Takt, sie zu vertreten. Worüber man «schweigen» lernt, das ist
etwas ganz anderes. Man eignet sich diese herrliche Eigenschaft nämlich in
bezug auf vieles an, worüber man vorher geredet hat, namentlich auf die Art,
wie man geredet hat. Ein schlechter Eingeweihter wäre der, welcher nicht die
erfahrenen Geheimnisse in den Dienst der Welt stellte, so gut und soweit dies
nur möglich ist. Es gibt kein anderes Hindernis für die Mitteilung auf diesem
Gebiete als allein das Nichtverstehen von seiten dessen, der empfangen soll.
Zum beliebigen Reden darüber eignen sich allerdings die höheren Geheimnisse
nicht. Aber es ist niemandem etwas «verboten» zu sagen, der die beschriebene
Stufe der Entwickelung erlangt hat. Kein anderer Mensch und kein Wesen legt ihm
einen dahingehenden «Eid» auf. Alles ist in seine eigene Verantwortlichkeit
gestellt. Was er lernt, ist, in jeder Lage ganz durch sich selbst zu finden,
was er zu tun hat. Und der «Eid» bedeutet nichts, als daß der Mensch reif
geworden ist, eine solche Verantwortung tragen zu können.
Ist der Kandidat reif geworden zu
dem Beschriebenen, dann erhält er dasjenige, was man sinnbildlich als den
«Vergessenheitstrunk» bezeichnet. Er wird nämlich in das Geheimnis eingeweiht,
wie man wirken kann, ohne sich durch das niedere Gedächtnis fortwährend stören
zu lassen. Das ist für den Eingeweihten notwendig. Denn er muß stets das volle
Vertrauen in die unmittelbare Gegenwart haben. Er muß die Schleier der
Erinnerung zerstören können, die sich in jedem Augenblick des Lebens um den
Menschen ausbreiten. Wenn ich etwas, was mir heute begegnet, nach dem
beurteile, was ich gestern erfahren habe, so bin ich vielfachen Irrtümern
unterworfen. Natürlich ist damit nicht gemeint, daß man seine im Leben
gewonnene Erfahrung verleugne. Man soll sich sie immer gegenwärtig halten, so
gut man kann. Aber man muß als Eingeweihter die Fähigkeit haben, jedes neue
Erlebnis aus sich selbst zu beurteilen, es ungetrübt durch alle Vergangenheit
auf sich wirken zu lassen. Ich muß in jedem Augenblicke darauf gefaßt sein, daß
mir ein jegliches Ding oder Wesen eine ganz neue Offenbarung bringen kann.
Beurteile ich das Neue nach dem Alten, so bin ich dem Irrtum unterworfen.
Gerade dadurch wird mir die Erinnerung an alte Erfahrungen am nützlichsten, daß
sie mich befähigt, Neues zu sehen. Hätte
ich eine bestimmte Erfahrung nicht, so würde ich die Eigenschaft eines Dinges
oder eines Wesens, die mir entgegentreten, vielleicht gar nicht sehen. Aber eben zum Sehen des Neuen, nicht zur Beurteilung
des Neuen nach dem Alten soll die Erfahrung dienen. In dieser Beziehung erlangt
der Eingeweihte ganz bestimmte Fähigkeiten. Dadurch enthüllen sich ihm viele
Dinge, die dem Uneingeweihten verborgen bleiben.
Der zweite «Trank», der dem
Eingeweihten verabreicht wird, ist der «Gedächtnistrank». Durch ihn erlangt er
die Fähigkeit, höhere Geheimnisse stets im Geiste gegenwärtig zu haben. Dazu
würde das gewöhnliche Gedächtnis nicht ausreichen. Man muß ganz eins werden mit
den höheren Wahrheiten. Man muß sie nicht nur wissen, sondern ganz selbstverständlich in lebendigem Tun
handhaben, wie man als gewöhnlicher Mensch ißt und trinkt. Übung, Gewöhnung,
Neigung müssen sie werden. Man muß gar nicht über sie in gewöhnlichem Sinne
nachzudenken brauchen; sie müssen sich durch den Menschen selbst darstellen,
durch ihn fließen wie die Lebensfunktionen seines Organismus. So macht er sich
in geistigem Sinne immer mehr zu dem, wozu ihn im physischen die Natur gemacht
hat.
Wenn der Mensch seine Ausbildung
in bezug auf Gefühle; Gedanken und Stimmungen so durchmacht, wie dies in den
Kapiteln über Vorbereitung, Erleuchtung und Einweihung beschrieben worden ist,
so bewirkt er in seiner Seele und in seinem Geist eine ähnliche Gliederung, wie
sie die Natur in seinem physischen Leibe bewirkt hat. Vor dieser Ausbildung
sind Seele und Geist ungegliederte Massen. Der Hellseher nimmt sie wahr als
ineinandergreifende, spiralige Nebelwirbel, die vorzugsweise wie rötliche und
rötlichbraune oder auch rötlichgelbe Farben matt glimmend empfunden werden;
nach der Ausbildung beginnen sie wie die gelblichgrünen, grünlichblauen Farben
geistig zu erglänzen und zeigen einen regelmäßigen Bau. Der Mensch gelangt zu
solcher Regelmäßigkeit und damit zu höheren Erkenntnissen, wenn er in seine
Gefühle, Gedanken und Stimmungen solche Ordnung bringt, wie sie die Natur in
seine körperlichen Verrichtungen gebracht hat, so daß er sehen, hören,
verdauen, atmen, sprechen und so weiter kann. – Mit der Seele atmen und sehen
und so weiter, mit dem Geiste hören und sprechen und so weiter lernt der
Geheimschüler allmählich.
Es sollen hier nur noch einige praktische Gesichtspunkte genauer
ausgeführt werden, die zur höheren Seelen- und Geisteserziehung gehören. Es
sind solche, die im Grunde jeder, ohne auf andere Regeln Rücksicht zu nehmen,
befolgen kann und durch die er in der Geheimwissenschaft eine Strecke weit
gelangt.
Eine besondere Ausbildung muß man
in der Geduld anstreben. Jede Regung
der Ungeduld wirkt lähmend, ja ertötend auf die im Menschen schlummernden
höheren Fähigkeiten. Man soll nicht verlangen, daß sich von heute auf morgen
unermeßliche Einblicke in die höheren Welten eröffnen. Denn dann kommen sie in
der Regel ganz gewiß nicht; Zufriedenheit mit dem Geringsten, das man erreicht,
Ruhe und Gelassenheit sollen sich der Seele immer mehr bemächtigen. – Es ist ja
begreiflich, daß der Lernende ungeduldig die Ergebnisse erwartet. Dennoch
erlangt er nichts, solange er diese Ungeduld nicht bemeistert. Es nützt auch
nichts, wenn man diese Ungeduld nur in gewöhnlichem Sinne des Wortes bekämpft.
Dann wird sie nur um so stärker. Man täuscht sich dann über sie hinweg, und in
den Tiefen der Seele sitzt sie nur um so stärker. Nur wenn man sich einem ganz
bestimmten Gedanken immer wieder hingibt, ihn ganz sich zu eigen macht,
erreicht man etwas. Dieser Gedanke ist: «Ich muß zwar alles tun zu meiner
Seelen- und Geistesausbildung; aber ich
werde ganz ruhig warten, bis ich
von höheren Mächten für würdig befunden werde zu bestimmter Erleuchtung.» Wird
dieser Gedanke im Menschen so mächtig, daß er zur Charakteranlage sich
gestaltet, dann ist man auf dem rechten Wege. Schon im Äußerlichen prägt sich
dann diese Charakteranlage aus. Der Blick des Auges wird ruhig, die Bewegungen
sicher, die Entschlüsse bestimmt, und alles, was man Nervosität nennt, weicht
allmählich von dem Menschen. Scheinbar unbedeutende, kleine Regeln kommen dabei
in Betracht. Zum Beispiel es fügt uns jemand eine Beleidigung zu. Vor unserer
Geheimerziehung wenden wir unser Gefühl gegen den Beleidiger. Ärger wallt in
unserem Inneren auf. In dem Geheimschü1er aber steigt sofort bei einer solchen
Gelegenheit der Gedanke auf: «Eine solche Beleidigung ändert nichts an meinem
Werte»; und er tut dann, was gegen die Beleidigung zu unternehmen ist, mit Ruhe
und Gelassenheit, nicht aus dem Ärger heraus. Es kommt natürlich nicht darauf
an, etwa jede Beleidigung einfach hinzunehmen, sondern darauf, daß man so ruhig
und sicher in der Ahndung einer Beleidigung der eigenen Person gegenüber ist,
wie man wäre, wenn die Beleidigung einem anderen zugefügt worden wäre, bei dem
man das Recht hat, sie zu ahnden. – Immer muß berücksichtigt werden, daß sich
die Geheimschulung nicht in groben äußeren Vorgängen, sondern in feinen,
stillen Umwandlungen des Gefühls- und Gedankenlebens vollzieht.
Geduld wirkt
anziehend auf die Schätze des höheren Wissens. Ungeduld wirkt auf sie
abstoßend. In Hast und Unruhe kann nichts auf den höheren Gebieten des Daseins
erlangt werden. Vor allen Dingen müssen Verlangen
und Begierde schweigen. Das sind
Eigenschaften der Seele, vor denen sich alles höhere Wissen scheu zurückzieht.
So wertvoll auch alle höhere Erkenntnis ist: man darf sie nicht verlangen, wenn
sie zu uns kommen soll. Wer sie haben will um seiner selbst willen, der erlangt
sie nie. – Und das erfordert vor allem, daß man in tiefster Seele wahr gegen sich selbst sei. Man darf
sich in nichts über sich selbst täuschen. Man muß seinen eigenen Fehlern,
Schwächen und Untauglichkeiten mit innerer Wahrhaftigkeit ins Antlitz schauen.
– In dem Augenblicke, wo du irgendeine deiner Schwächen vor dir selbst
entschuldigst, hast du dir einen Stein hingelegt auf den Weg, der dich aufwärts
führen soll. Solche Steine kannst du nur durch Selbstaufklärung über dich
beseitigen. Es gibt nur einen Weg,
seine Fehler und Schwächen abzulegen, und der ist: sie richtig zu erkennen.
Alles schlummert in der Menschenseele und kann erweckt werden. Auch seinen
Verstand und seine Vernunft kann der Mensch verbessern, wenn er sich in Ruhe
und Gelassenheit darüber aufklärt, warum er in dieser Beziehung schwach ist. Solche
Selbsterkenntnis ist natürlich schwierig, denn die Versuchung zur Täuschung
über sich selbst ist eine unermeßlich große. Wer sich an Wahrheit gegen sich
selbst gewöhnt, öffnet sich die Pforten zu höherer Einsicht.
Schwinden muß beim Geheimschüler
eine jegliche Neugierde. Er muß sich so viel wie möglich das Fragen abgewöhnen
über Dinge, die er nur zur Befriedigung seines persönlichen Wissensdranges
wissen will. Nur das soll er fragen, was ihm zur Vervollkommnung seiner
Wesenheit im Dienste der Entwickelung dienen kann. Dabei soll in ihm aber die
Freude, die Hingabe an das Wissen in keiner Weise gelähmt werden. Auf alles,
was zu solchem Ziele dient, soll er andächtig hinhorchen und jede Gelegenheit
zu solcher Andacht aufsuchen.
Insbesondere ist zur
Geheimausbildung eine Erziehung des Wunschlebens notwendig. Man soll nicht etwa
wunschlos werden. Denn alles, was wir erreichen sollen, sollen wir ja auch
wünschen. Und ein Wunsch wird immer in Erfüllung gehen, wenn hinter ihm eine
ganz besondere Kraft steht. Diese Kraft kommt aus der richtigen Erkenntnis. «In keiner Art zu wünschen,
bevor man das Richtige auf einem Gebiete erkannt hat», das ist eine der
goldenen Regeln für den Geheimschüler. Der Weise lernt zuerst die Gesetze der
Welt kennen, dann werden seine Wünsche zu Kräften, welche sich verwirklichen. –
Ein Beispiel, das deutlich wirkt, soll hier angeführt werden. Gewiß wünschen
viele, aus eigener Anschauung über ihr Leben vor ihrer Geburt etwas zu
erfahren. Solcher Wunsch ist ganz zwecklos und ergebnislos, solange der
Betreffende sich nicht die Erkenntnis der
Gesetze durch geisteswissenschaftliches Studium angeeignet hat – und zwar in
ihrem feinsten, intimsten Charakter – von dem Wesen des Ewigen. Hat er sich
aber diese Erkenntnis wirklich erworben, und will er dann weiterkommen, so wird er es durch seinen veredelten,
geläuterten Wunsch.
Es nützt auch nichts, zu sagen:
Ja, ich will ja gerade mein vorhergehendes Leben übersehen und zu dem Zwecke
eben lernen. Man muß vielmehr imstande sein, diesen Wunsch ganz fallenzulassen,
ganz von sich auszuschalten, und zunächst ganz ohne diese Absicht lernen. Man
muß die Freude, die Hingebung an dem Gelernten entwickeln ohne die genannte
Absicht. Denn nur dadurch lernt man zugleich den entsprechenden Wunsch so zu
haben, daß er seine Erfüllung nach sich zieht.
Wenn ich zornig bin oder mich ärgere, so
richte ich einen Wall in der Seelenwelt um mich auf, und die Kräfte können
nicht an mich herantreten, welche meine seelischen Augen entwickeln sollen.
Ärgert mich zum Beispiel ein Mensch, so schickt er einen seelischen Strom in
die Seelenwelt. Ich kann diesen Strom so lange nicht sehen, als ich noch fähig
bin, mich zu ärgern. Mein Ärger verdeckt ihn mir. Nun darf ich auch nicht
glauben, daß ich sofort eine seelische (astralische) Erscheinung haben werde,
wenn ich mich nicht mehr ärgere. Denn dazu ist notwendig, daß sich erst in mir
ein seelisches Auge entwickele. Aber die Anlage zu einem solchen Auge liegt in
jedem Menschen. Es bleibt unwirksam, solange der Mensch fähig ist, sich zu
ärgern. Aber es ist auch noch nicht sogleich da, wenn man ein wenig das Ärgern
bekämpft hat. Man muß vielmehr fortfahren in dieser Bekämpfung des Ärgers und
in Geduld immer wieder fortfahren; dann wird man eines Tages bemerken, daß sich
dieses seelische Auge entwickelt hat. Allerdings ist nicht der Ärger das
einzige, was man zu solchem Ziele zu bekämpfen hat. Viele werden ungeduldig
oder zweifelnd, weil sie jahrelang einige Eigenschaften der Seele bekämpft
haben und das Hellsehen doch nicht eintritt. Sie haben dann eben einige
Eigenschaften ausgebildet und andere um so mehr überwuchern lassen. Die Gabe
des Hellsehens tritt erst dann ein, wenn alle Eigenschaften unterdrückt sind,
welche die entsprechenden schlummernden Fähigkeiten nicht herauskommen lassen.
Allerdings stellen sich Anfänge des Schauens (oder Hörens) schon früher ein;
aber das sind zarte Pflänzchen, die leicht allem möglichen Irrtum unterworfen
sind und die auch leicht absterben, wenn sie nicht sorgfältig weiter gehegt und
gepflegt werden.
Zu den Eigenschaften, die zum
Beispiel ebenso bekämpft werden müssen wie Zorn und Ärger, gehören
Furchtsamkeit, Aberglaube und Vorurteilssucht, Eitelkeit und Ehrgeiz, Neugierde
und unnötige Mitteilungssucht, das Unterschiedmachen in bezug auf Menschen nach
äußerlichen Rang-, Geschlechts-, Stammeskennzeichen und so weiter. In unserer
Zeit wird man recht schwer begreifen, daß die Bekämpfung solcher Eigenschaften
etwas zu tun habe mit der Erhöhung der Erkenntnisfähigkeit. Aber jeder Geheimwissenschafter
weiß, daß von solchen Dingen viel mehr abhängt als von der Erweiterung der
Intelligenz und von dem Anstellen künstlicher Übungen. Insbesondere kann leicht
ein Mißverständnis darüber entstehen, wenn manche glauben, daß man sich
tollkühn machen solle, weil man furchtlos sein soll, daß man sich vor den
Unterschieden der Menschen verschließen soll, weil man die Standes-, Rassen-
und so weiter Vorurteile bekämpfen soll. Man lernt vielmehr erst richtig
erkennen, wenn man nicht mehr in Vorurteilen befangen ist. Schon in
gewöhnlichem Sinne ist es richtig, daß mich die Furcht vor einer Erscheinung
hindert, sie klar zu beurteilen, daß mich ein Rassenvorurteil hindert, in eines
Menschen Seele zu blicken. Diesen gewöhnlichen Sinn muß der Geheimschüler in großer
Feinheit und Schärfe bei sich zur Entwickelung bringen.
Einen Stein in den Weg der Geheimerziehung wirft dem
Menschen auch alles, was er sagt, ohne daß er es gründlich in seinen Gedanken
geläutert hat. Und dabei muß etwas in Betracht kommen, was hier nur durch ein
Beispiel erläutert werden kann. Wenn mir jemand zum Beispiel etwas sagt und ich
habe darauf zu erwidern, so muß ich bemüht sein, des anderen Meinung, Gefühl,
ja Vorurteil mehr zu beachten, als was ich im Augenblicke selbst zu der in Rede
stehenden Sache zu sagen habe. Hiermit ist eine feine Taktausbildung
angedeutet, welcher sich der Geheimschüler sorgfältig zu widmen hat. Er muß
sich ein Urteil darüber aneignen, wie weit es für den anderen eine Bedeutung
hat, wenn er der seinigen die eigene Meinung entgegenhält. Nicht zurückhalten
soll man deshalb mit seiner Meinung. Davon kann nicht im entferntesten die Rede
sein. Aber man soll so genau als nur irgend möglich auf den anderen hinhören
und aus dem, was man gehört hat, die Gestalt seiner eigenen Erwiderung formen.
Immer wieder steigt in einem solchen Falle in dem Geheimschüler ein Gedanke auf; und er ist auf dem
rechten Wege, wenn dieser Gedanke in ihm so lebt, daß er Charakteranlage
geworden ist. Dies ist der Gedanke: «Nicht darauf kommt es an, daß ich etwas
anderes meine als der andere, sondern darauf, daß der andere das Richtige aus
Eigenem finden wird, wenn ich etwas dazu beitrage.» Durch solche und ähnliche
Gedanken überströmt den Charakter und die Handlungsweise des Geheimschülers das
Gepräge der Milde, die ein
Hauptmittel aller Geheimschulung ist. Härte
verscheucht um dich herum die Seelengebilde, die dein seelisches Auge
erwecken sollen; Milde schafft dir
die Hindernisse hinweg und öffnet deine Organe.
Und mit der Milde wird sich alsbald ein anderer Zug in der Seele ausbilden: das
ruhige Achten auf alle Feinheiten des
seelischen Lebens in der Umgebung bei völliger Schweigsamkeit der eigenen Seelenregungen. Und hat es ein Mensch zu
diesem gebracht, dann wirken die Seelenregungen seiner Umgebung auf ihn so ein,
daß die eigene Seele wächst und wachsend sich gliedert, wie die Pflanze gedeiht
im Sonnenlichte. Milde und Schweigsamkeit in wahrer Geduld öffnen die Seele der
Seelenwelt, den Geist dem Geisterlande. – «Verharre in Ruhe und Abgeschlossenheit,
schließe die Sinne für das, was sie dir vor deiner Geheimschulung überliefert
haben, bringe alle Gedanken zum Stillstand, die nach deinen vorherigen
Gewohnheiten in dir auf- und abwogten, werde ganz still und schweigsam in
deinem Innern und warte in Geduld, dann fangen höhere Welten an, deine
Seelenaugen und Geistesohren auszubilden. Du darfst nicht erwarten, daß du
sogleich siehst und hörst in der Seelen- und Geisterwelt. Denn was du tust,
trägt nur bei, deine höheren Sinne auszubilden. Seelisch sehen und geistig
hören aber wirst du erst, wenn du diese Sinne haben wirst. Hast du eine Weile
so in Ruhe und Abgeschlossenheit verharrt, so gehe an deine gewohnten
Tagesgeschäfte, indem du dir vorher noch tief den Gedanken eingeprägt: es wird
mir einmal werden, was mir werden soll, wenn ich dazu reif bin. Und unterlasse
es streng, etwas von den höheren Gewalten durch deine Willkür an dich zu
ziehen.» Das sind Anweisungen, die jeder Geheimschüler von seinem Lehrer im
Beginne des Weges erhält. Beobachtet er sie, dann vervollkommnet er sich.
Beobachtet er sie nicht, dann ist alles Arbeiten vergebens. Aber sie sind nur
für den schwierig, der nicht Geduld und Standhaftigkeit hat. Es gibt keine
anderen Hindernisse, als diejenigen sind, die sich ein jeder selbst in den Weg wirft und die auch jeder vermeiden kann,
wenn er wirklich will. Das muß immer wieder betont werden, weil sich viele eine
ganz falsche Vorstellung bilden über die Schwierigkeiten des Geheimpfades. Es
ist in gewissem Sinne leichter, die ersten Stufen dieses Pfades zu
überschreiten, als ohne Geheimschulung mit den alleralltäglichsten
Schwierigkeiten des Lebens fertig zu werden. – Außerdem durften hier nur solche
Dinge mitgeteilt werden, die von keinerlei Art von Gefahren begleitet sind für die
körperliche und seelische Gesundheit. Es gibt ja auch andere Wege, die
schneller zum Ziele führen; aber mit diesen hat, was hier gemeint ist, nichts
zu tun, weil sie gewisse Wirkungen auf den Menschen haben können, die ein
erfahrener Geheimkundiger nicht anstrebt. Da einiges von solchen Wegen doch
immer wieder in die Öffentlichkeit dringt, so muß ausdrücklich davor gewarnt
werden, sie zu betreten. Aus Gründen, die nur der Eingeweihte verstehen kann,
können diese Wege nie in ihrer wahren
Gestalt öffentlich bekanntgegeben werden. Und die Bruchstücke, die dort und da
erscheinen, können zu nichts Gedeihlichem, wohl aber zur Untergrabung von
Gesundheit, Glück und Seelenfrieden führen. Wer sich nicht ganz dunklen Mächten
anvertrauen will, von deren wahrem Wesen und Ursprung er nichts wissen kann,
der vermeide es, sich auf solche Dinge einzulassen.
Es kann noch einiges gesagt
werden über die Umgebung, in welcher die Übungen der Geheimschulung vorgenommen
werden sollen. Denn darauf kommt einiges an. Doch liegt die Sache fast für
jeden Menschen anders. Wer in einer Umgebung übt, die nur von selbstsüchtigen
Interessen, zum Beispiel von dem modernen Kampfe ums Dasein, erfüllt ist, der
muß sich bewußt sein, daß diese Interessen nicht ohne Einfluß bleiben auf die Ausbildung
seiner seelischen Organe. Zwar sind die inneren Gesetze dieser Organe so stark,
daß dieser Einfluß nicht ein allzu schädlicher werden kann. So wenig eine Lilie
durch eine noch so unangemessene Umgebung zu einer Distel werden kann, so wenig
kann sich das seelische Auge zu etwas anderem bilden, als wozu es bestimmt ist,
auch wenn die selbstsüchtigen Interessen der modernen Städte darauf einwirken.
Aber gut ist es unter allen Umständen, wenn der Geheimschüler ab und zu den
stillen Frieden und die innere Würde und Anmut der Natur zu seiner Umgebung
macht. Besonders günstig liegt die Sache bei dem, der seine Geheimschulung ganz
in der grünen Pflanzenwelt oder zwischen sonnigen Bergen und dem lieben Weben
der Einfalt vornehmen kann. Das treibt die inneren Organe in einer Harmonie
heraus, die niemals in der modernen Stadt entstehen kann. Etwas besser als der
bloße Stadtmensch ist auch schon derjenige gestellt, welcher wenigstens während
seiner Kindheit Tannenluft atmen, Schneegipfel schauen und das stille Treiben
der Waldtiere und Insekten beobachten durfte. Keiner derjenigen aber, denen es
aufgegeben ist, in der Stadt zu leben, darf es unterlassen, seinen in Bildung
begriffenen Seelen- und Geistesorganen als Nahrung die inspirierten Lehren der
Geistesforschung zuzuführen. Wessen Auge nicht jeden Frühling die Wälder Tag
für Tag in ihrem Grün verfolgen kann, der sollte dafür seinem Herzen die
erhabenen Lehren der Bhagavad-Gita, des Johannes-Evangeliums, des Thomas von
Kempen und die Darstellungen der geisteswissenschaftlichen Ergebnisse zuführen.
Viele Wege gibt es zum Gipfel der Einsicht; aber eine richtige Wahl ist
unerläßlich. – Der Geheimkundige weiß gar manches über solche Wege zu sagen,
was dem Uneingeweihten absonderlich erscheint. Es kann zum Beispiel jemand sehr
weit auf dem Geheimpfade sein. Er kann sozusagen unmittelbar vor dem Öffnen der
seelischen Augen und geistigen Ohren stehen; und dann hat er das Glück, eine
Fahrt über das ruhige oder vielleicht auch das wildbewegte Meer zu machen, und
eine Binde löst sich von seinen Seelenaugen: plötzlich wird er sehend. – Ein
anderer ist ebenfalls so weit, daß diese Binde sich nur zu lösen braucht; es
geschieht durch einen starken Schicksalsschlag. Auf einen anderen Menschen
hätte dieser Schlag wohl den Einfluß gehabt, daß er seine Kraft lähmte, seine
Energie untergrübe; für den Geheimschüler wird er zum Anlaß der Erleuchtung. –
Ein dritter harrt in Geduld aus; Jahre hindurch hat er so geharrt, ohne eine
merkliche Frucht. Plötzlich in seinem ruhigen Sitzen in der stillen Kammer wird
es geistig Licht um ihn, die Wände verschwinden, werden seelisch durchsichtig,
und eine neue Welt breitet sich vor seinem sehend gewordenen Auge aus oder
erklingt seinem hörend gewordenen Geistesohre.
Die Bedingungen zum Antritt der
Geheimschulung sind nicht solche, die von irgend jemand durch Willkür
festgesetzt werden. Sie ergeben sich aus dem Wesen des Geheimwissens. Wie ein
Mensch nicht Maler werden kann, der keinen Pinsel in die Hand nehmen Will, so
kann niemand eine Geheimschulung empfangen, der nicht erfüllen will, was die
Geheimlehrer als notwendige Forderung angeben. Im Grunde kann der Geheimlehrer
nichts geben als Ratschläge. Und in diesem Sinne ist auch alles aufzunehmen,
was er sagt. Er hat die vorbereitenden Wege zum Erkennen der höheren Welten
durchgemacht. Er weiß aus Erfahrung, was notwendig ist. Es hängt ganz von dem freien Willen des einzelnen ab, ob er
die gleichen Wege wandeln will oder nicht. Wenn jemand verlangen wollte, daß
ihm ein Lehrer eine Geheimschulung zukommen ließe, ohne die Bedingungen
erfüllen zu wollen, so gliche eine solche Forderung eben durchaus der: lehre
mich malen, aber befreie mich davon, einen Pinsel zu berühren. – Der
Geheimlehrer kann auch niemals etwas bieten, wenn ihm nicht der freie Wille des
Aufnehmenden entgegenkommt. Aber es muß betont werden, daß der allgemeine
Wunsch nach höherem Wissen nicht genügt. Diesen Wunsch werden natürlich viele
haben. Wer nur diesen Wunsch hat,
ohne auf die besonderen Bedingungen
der Geheimschulung eingehen zu wollen, von dem kann zunächst nichts erreicht
werden. Das sollen diejenigen bedenken, die sich darüber beklagen, daß die
Geheimschulung ihnen nicht leicht wird. Wer die strengen Bedingungen nicht
erfüllen kann oder will, der muß eben
vorläufig auf Geheimschulung
verzichten. Zwar sind die Bedingungen streng,
aber nicht hart, da ihre
Erfüllung nicht nur eine freie Tat sein soll, sondern sogar sein muß.
Wer das nicht bedenkt, für den
können die Forderungen der Geheimschulung leicht als Seelen- oder
Gewissenszwang erscheinen. Denn die Schulung beruht ja auf einer Ausbildung des
inneren Lebens; der Geheimlehrer muß
also Ratschläge erteilen, die sich auf dieses innere Leben beziehen. Aber
nichts kann als Zwang aufgefaßt werden, was als Ausfluß eines freien
Entschlusses gefordert wird. – Wenn jemand von dem Lehrer forderte: teile mir
deine Geheimnisse mit, aber lasse mich bei meinen gewohnten Empfindungen,
Gefühlen und Vorstellungen, so verlangt er eben etwas ganz Unmögliches. Er will
dann nichts weiter als die Neugierde, den Wissenstrieb befriedigen. Bei einer
solchen Gesinnung kann aber Geheimwissen nie erlangt werden.
Es sollen nun der Reihe nach die
Bedingungen für den Geheimschüler entwickelt werden. Es muß betont werden, daß
bei keiner dieser Bedingungen eine vollständige
Erfüllung verlangt wird, sondern lediglich das Streben nach einer solchen Erfüllung. Ganz erfüllen kann die Bedingungen niemand; aber sich auf den Weg
zu ihrer Erfüllung begeben kann jeder. Nur auf den Willen, auf die Gesinnung,
sich auf diesen Weg zu begeben, kommt es an.
Die erste Bedingung ist: man
richte sein Augenmerk darauf, die körperliche und geistige Gesundheit zu fördern. Wie gesund ein Mensch ist, das hängt
zunächst natürlich nicht von ihm ab. Danach trachten, sich nach dieser Richtung
zu fördern, das kann ein jeder. Nur aus einem gesunden Menschen kann gesunde
Erkenntnis kommen. Die Geheimschulung weist einen nicht gesunden Menschen nicht
zurück; aber sie muß verlangen, daß der Schüler den Willen habe, gesund zu
leben. – Darinnen muß der Mensch die möglichste Selbständigkeit erlangen. Die
guten Ratschläge anderer, die – zumeist ungefragt – jedem zukommen, sind in der
Regel ganz überflüssig. Ein jeder muß sich bestreben, selbst auf sich zu
achten. – Vielmehr wird es sich in physischer Beziehung darum handeln,
schädliche Einflüsse abzuhalten, als um anderes. Um unsere Pflichten zu
erfüllen, müssen wir uns ja oft Dinge auferlegen, die unserer Gesundheit nicht
förderlich sind. Der Mensch muß verstehen, im rechten Falle die Pflicht höher
zu stellen als die Sorge um die Gesundheit. Aber was kann nicht alles
unterlassen werden bei einigem guten Willen! Die Pflicht muß in vielen Fällen
höher stehen als die Gesundheit, ja oft höher als das Leben; der Genuß darf es bei dem Geheimschüler nie.
Bei ihm kann der Genuß nur ein Mittel für
Gesundheit und Leben sein. Und es ist in dieser Richtung durchaus notwendig,
daß man ganz ehrlich und wahrhaftig gegen sich selbst sei. Nichts nützt es, ein
asketisches Leben zu führen, wenn dieses aus ähnlichen Beweggründen entspringt
wie andere Genüsse. Es kann jemand an dem Asketismus ein Wohlgefallen haben wie
ein anderer am Weintrinken. Er kann aber nicht hoffen, daß ihm dieser
Asketismus etwas zu höherer Erkenntnis nütze. – Viele schieben alles, was sie
scheinbar hindert, sich nach dieser Richtung zu fördern, auf ihre Lebenslage.
Sie sagen: «Bei meinen Lebensverhältnissen kann ich mich nicht entwickeln.» Es
mag für viele in anderer Beziehung wünschenswert sein, ihre Lebenslage zu
ändern; zum Zwecke der Geheimschulung braucht dies kein Mensch zu tun. Zu
diesem Ziele braucht man nur gerade in der Lage, in der man ist, so viel für
seine leibliche und seelische Gesundheit zu tun, als möglich ist. Eine jegliche
Arbeit kann dem Ganzen der Menschheit dienen; und es ist viel größer von der
Menschenseele, sich klarzumachen, wie notwendig eine kleinliche, vielleicht
häßliche Arbeit für dieses Ganze ist, als zu glauben: «Diese Arbeit ist für
mich zu schlecht, ich bin zu anderem berufen.» – Besonders wichtig für den
Geheimschüler ist das Streben nach völliger geistiger Gesundheit. Ungesundes
Gemüts- und Denkleben bringt auf alle Fälle von den Wegen zu höheren
Erkenntnissen ab. Klares, ruhiges Denken, sicheres Empfinden und Fühlen sind
hier die Grundlage. Nichts soll ja dem Geheimschüler ferner liegen als die
Neigung zum Phantastischen, zum aufgeregten Wesen, zur Nervosität, zur
Exaltation, zum Fanatismus. Einen gesunden Blick für alle Verhältnisse des
Lebens soll er sich aneignen; sicher soll er sich im Leben zurechtfinden; ruhig
soll er die Dinge zu sich sprechen und auf sich wirken lassen. Er soll sich
bemühen, überall, wo es nötig ist, dem Leben gerecht zu werden. Alles
Überspannte, Einseitige soll in seinem Urteilen und Empfinden vermieden werden.
Würde diese Bedingung nicht erfüllt, so käme der Geheimschüler statt in höhere
Welten in diejenige seiner eigenen Einbildungskraft; statt der Wahrheit machten
sich Lieblingsmeinungen bei ihm geltend. Besser ist es für den Geheimschüler,
«nüchtern» zu sein als exaltiert und phantastisch.
Die zweite Bedingung ist, sich
als ein Glied des ganzen Lebens zu
fühlen. In der Erfüllung dieser Bedingung ist viel eingeschlossen. Aber ein
jeder kann sie nur auf seine eigene Art erfüllen. Bin ich Erzieher und mein
Zögling entspricht nicht dem, was ich wünsche, so soll ich mein Gefühl zunächst
nicht gegen den Zögling richten, sondern gegen mich selbst. Ich soll mich so
weit als eins mit meinem Zögling fühlen, daß ich mich frage: «Ist das, was beim
Zögling nicht genügt, nicht die Folge meiner eigenen Tat?» Statt mein Gefühl
gegen ihn zu richten, werde ich dann vielmehr darüber nachdenken, wie ich mich
selbst verhalten soll, damit in Zukunft der Zögling meinen Forderungen besser
entsprechen könne. Aus solcher Gesinnungsart heraus ändert sich allmählich die
ganze Denkungsart des Menschen. Das gilt für das Kleinste wie für das Größte.
Ich sehe aus solcher Gesinnung heraus zum Beispiel einen Verbrecher anders an
als ohne dieselbe. Ich halte zurück mit meinem Urteile und sage mir: «Ich bin
nur ein Mensch wie dieser. Die Erziehung, die durch die Verhältnisse mir
geworden ist, hat mich vielleicht allein
vor seinem Schicksale bewahrt.» Ich komme dann wohl auch zu dem Gedanken, daß
dieser Menschenbruder ein anderer geworden wäre, wenn die Lehrer, die ihre Mühe
auf mich verwendet haben, sie hätten ihm angedeihen lassen. Ich werde bedenken,
daß mir etwas zuteil geworden ist, was ihm entzogen war, daß ich mein Gutes
gerade dem Umstand verdanke, daß es ihm entzogen worden ist. Und dann wird mir
die Vorstellung auch nicht mehr ferne liegen, daß ich nur ein Glied in der
ganzen Menschheit bin und mitverantwortlich
für alles, was geschieht. Es soll hier nicht gesagt werden, daß ein solcher
Gedanke sich sofort in äußere agitatorische Taten umsetzen soll. Aber still in
der Seele soll er gepflegt werden. Dann wird er sich ganz allmählich in dem
äußeren Verhalten eines Menschen ausprägen. Und in solchen Dingen kann doch
jeder nur bei sich selbst zu reformieren anfangen. Nichts fruchtet es, im Sinne
solcher Gedanken allgemeine Forderungen an die Menschheit zu stellen. Wie die
Menschen sein sollen: darüber ist leicht ein Urteil gebildet; der Geheimschüler
aber arbeitet in der Tiefe, nicht an der Oberfläche. Es wäre daher ganz
unrichtig, wenn man die hier angedeutete Forderung der Geheimlehrer mit
irgendeiner äußerlichen, etwa gar einer politischen Forderung in Verbindung
brächte, mit der die Geistesschulung nichts zu tun haben kann. Politische
Agitatoren «wissen» in der Regel, was von anderen Menschen zu «fordern» ist;
von Forderungen an sich selbst ist bei ihnen weniger die Rede.
Und damit hängt die dritte
Bedingung für die Geheimschulung unmittelbar zusammen. Der Zögling muß sich zu
der Anschauung emporringen können, daß seine Gedanken und Gefühle ebenso
Bedeutung für die Welt haben wie seine Handlungen. Es muß erkannt werden, daß
es ebenso verderblich ist, wenn ich meinen Mitmenschen hasse, wie wenn ich ihn
schlage. Dann komme ich auch zu der Erkenntnis, daß ich nicht nur für mich
etwas tue, wenn ich mich selbst vervollkommene, sondern auch für die Welt. Aus
meinen reinen Gefühlen und Gedanken zieht die Welt ebensolchen Nutzen wie aus
meinem Wohlverhalten. Solange ich nicht glauben kann an diese Weltbedeutung
meines Innern, so lange tauge ich nicht zum Geheimschüler. Erst dann bin ich
von dem rechten Glauben an die Bedeutung meines Inneren, meiner Seele erfüllt,
wenn ich an diesem Seelischen in der Art arbeite, als wenn es zum mindesten
ebenso wirklich wäre wie alles Äußere. Ich muß zugeben, daß mein Gefühl ebenso
eine Wirkung hat wie eine Verrichtung meiner Hand.
Damit ist eigentlich schon die
vierte Bedingung ausgesprochen: die Aneignung der Ansicht, daß des Menschen
eigentliche Wesenheit nicht im Äußerlichen, sondern im Inneren liegt. Wer sich
nur als ein Produkt der Außenwelt ansieht, als ein Ergebnis der physischen
Welt, kann es in der Geheimschulung zu nichts bringen. Sich als
seelisch-geistiges Wesen fühlen ist eine Grundlage für solche Schulung. Wer zu
solchem Gefühle vordringt, der ist dann geeignet zu unterscheiden zwischen
innerer Verpflichtung und dem äußeren Erfolge. Er lernt erkennen, daß das eine
nicht unmittelbar an dem anderen gemessen werden kann. Der Geheimschüler muß
die rechte Mitte finden zwischen dem, was die äußeren Bedingungen vorschreiben,
und dem, was er als das Richtige für sein Verhalten erkennt. Er soll nicht
seiner Umgebung etwas aufdrängen, wofür diese kein Verständnis haben kann; aber
er soll auch ganz frei sein von der Sucht, nur das zu tun, was von dieser
Umgebung anerkannt werden kann. Die Anerkennung für seine Wahrheiten muß er
einzig und allein in der Stimme seiner ehrlichen, nach Erkenntnis ringenden
Seele suchen. Aber lernen soll er von
seiner Umgebung, soviel er nur irgend kann, um herauszufinden, was ihr frommt
und nützlich ist. So wird er in sich selbst das entwickeln, was man in der
Geheimwissenschaft die «geistige Waage» nennt. Auf einer ihrer Waageschalen
liegt ein «offenes Herz» für die Bedürfnisse der Außenwelt, auf der anderen
«innere Festigkeit und unerschütterliche Ausdauer».
Und damit ist auf die fünfte
Bedingung gedeutet: die Standhaftigkeit in der Befolgung eines einmal gefaßten
Entschlusses. Nichts darf den Geheimschüler dazu bringen, von einem gefaßten
Entschluß abzukommen, als lediglich die Einsicht, daß er im Irrtume befangen
ist. Jeder Entschluß ist eine Kraft, und wenn diese Kraft auch nicht einen
unmittelbaren Erfolg da hat, wohin sie zunächst gewandt ist, sie wirkt in ihrer
Weise. Der Erfolg ist nur entscheidend, wenn man eine Handlung aus Begierde
vollbringt. Aber alle Handlungen, die aus Begierde vollbracht werden, sind
wertlos gegenüber der höheren Welt. Hier entscheidet allein die Liebe zu einer Handlung. In dieser Liebe soll sich ausleben alles, was den Geheimschüler
zu einer Handlung treibt. Dann wird er auch nicht erlahmen, einen Entschluß
immer wieder in Tat umzusetzen, wie oft er ihm auch mißlungen sein mag. Und so
kommt er dazu, nicht erst die äußeren Wirkungen
seiner Taten abzuwarten, sondern sich an den Handlungen selbst zu befriedigen.
Er wird lernen, seine Taten, ja sein ganzes Wesen der Welt zu opfern, wie auch
immer diese sein Opfer aufnehmen mag. Zu solchem Opferdienst muß sich bereit
erklären, wer Geheimschüler werden will.
Eine sechste Bedingung ist die
Entwickelung des Gefühles der Dankbarkeit
gegenüber allem, was dem Menschen zukommt. Man muß wissen, daß das eigene
Dasein ein Geschenk des ganzen Weltalls ist. Was ist alles notwendig, damit
jeder von uns sein Dasein empfangen und fristen kann! Was verdanken wir der
Natur und anderen Menschen! Zu solchen Gedanken müssen diejenigen geneigt sein,
die Geheimschulung wollen. Wer sich ihnen nicht hingeben kann, der vermag nicht
in sich jene Alliebe zu entwickeln,
die notwendig ist, um zu höherer Erkenntnis zu kommen. Etwas, das ich nicht
liebe, kann sich mir nicht offenbaren. Und eine jede Offenbarung muß mich mit
Dank erfüllen, denn ich werde durch sie reicher.
Alle die genannten Bedingungen
müssen sich in einer siebenten vereinigen: das Leben unablässig in dem Sinne
aufzufassen, wie es die Bedingungen fordern. Dadurch schafft sich der Zögling
die Möglichkeit, seinem Leben ein einheitliches Gepräge zu geben. Seine
einzelnen Lebensäußerungen werden miteinander im Einklang, nicht im Widerspruche
stehen. Er wird zu der Ruhe vorbereitet sein, zu welcher er kommen muß während
der ersten Schritte in der Geheimschulung.
Hat jemand den ernsten und
ehrlichen Willen, die angegebenen Bedingungen zu erfüllen, dann mag er sich zur
Geistesschulung entschließen. Er wird sich dann bereitfinden, die angeführten
Ratschläge zu befolgen. Es mag gar manchem vieles an diesen Ratschlägen wie
etwas Äußerliches erscheinen. Ein solcher wird vielleicht sagen, er hätte
erwartet, daß die Schulung in weniger strengen Formen verlaufen sollte. Aber alles Innere muß sich in einem
Äußeren ausleben. Und ebensowenig, wie ein Bild schon da ist, wenn es bloß im
Kopf des Malers existiert, ebensowenig kann eine Geheimschulung ohne äußeren
Ausdruck sein. Nur diejenigen achten die strengen Formen gering, welche nicht
wissen, daß im Äußeren das Innere zum Ausdruck kommen muß. Es ist wahr, daß es
auf den Geist einer Sache ankommt und
nicht auf die Form. Aber so wie die Form ohne den Geist nichtig ist, so wäre
der Geist tatenlos, wenn er sich nicht eine Form erschüfe.
Die gestellten Bedingungen sind
geeignet, den Geheimschüler stark genug zu machen, um auch die weiteren
Forderungen zu erfüllen, welche die Geistesschulung an ihn stellen muß. Fehlen
ihm diese Bedingungen, dann wird er vor jeder neuen Anforderung mit Bedenken
stehen. Er wird ohne sie das Vertrauen nicht zu den Menschen haben können, das
für ihn notwendig ist. Und auf Vertrauen und wahre Menschenliebe muß alles
Wahrheitsstreben gebaut sein. Es muß darauf gebaut
sein, obgleich es nicht daraus
entspringen, sondern nur aus der eigenen Seelenkraft quellen kann. Und die
Menschenliebe muß sich allmählich erweitern zur Liebe zu allen Wesen, ja zu
allem Dasein. Wer die genannten Bedingungen nicht erfüllt, wird auch nicht die
volle Liebe zu allem Aufbauen, zu allem Schaffen haben, und die Neigung, alle
Zerstörung, alles Vernichten als solche zu unterlassen. Der Geheimschüler muß
so werden, daß er nie etwas vernichtet um des Vernichtens willen, nicht in
Handlungen, aber auch nicht in Worten, Gefühlen und Gedanken. Für ihn soll es
Freude am Entstehen, am Werden geben; und nur dann darf er die Hand bieten zu
einer Vernichtung, wenn er auch imstande ist, aus und durch die Vernichtung
neues Leben zu fördern. Damit ist nicht gemeint, daß der Geheimschüler zusehen
darf, wie das Schlechte überwuchert; aber er soll sogar am Schlechten
diejenigen Seiten suchen, durch die er es in ein Gutes wandeln kann. Er wird
sich immer klarer darüber, daß die richtigste Bekämpfung des Schlechten und Unvollkommenen
das Schaffen des Guten und Vollkommenen ist. Der Geheimschüler weiß, daß aus
dem Nichts nicht etwas geschaffen werden kann, daß aber das Unvollkommene in
ein Vollkommenes umgewandelt werden kann. Wer in sich die Neigung zum Schaffen
entwickelt, der findet auch bald die Fähigkeit, sich dem Schlechten gegenüber
richtig zu verhalten.
Wer in eine Geheimschulung sich
einläßt, muß sich klarmachen, daß durch sie gebaut und nicht zerstört werden
soll. Er soll daher den Willen zur ehrlichen, hingebungsvollen Arbeit, nicht
zur Kritik und zum Zerstören mitbringen. Er soll der Andacht fähig sein, denn man soll lernen, was man noch nicht weiß.
Man soll andächtig zu dem blicken, was sich erschließt. Arbeit und Andacht: das
sind Grundgefühle, die von dem Geheimschüler gefordert werden müssen. Mancher
wird erfahren müssen, daß er in der Schulung nicht vorwärtskommt, trotzdem er,
nach seiner Ansicht, rastlos tätig ist. Es kommt davon her, daß er die Arbeit
und Andacht nicht im rechten Sinne erfaßt hat. Diejenige Arbeit wird den
geringsten Erfolg haben, die um dieses Erfolges willen unternommen wird, und
dasjenige Lernen wird am wenigsten vorwärtsbringen, das ohne Andacht verläuft.
Die Liebe zur Arbeit, nicht zum
Erfolg, bringt allein vorwärts. Und wenn der Lernende gesundes Denken und
sicheres Urteilen sucht, so braucht er sich nicht durch Zweifel und Mißtrauen
die Andacht zu verkümmern.
Man braucht nicht zu sklavischer
Abhängigkeit im Urteilen zu kommen, wenn man einer Mitteilung, die man
empfängt, nicht zuerst die eigene Meinung, sondern eine ruhige Andacht und
Hingabe entgegenbringt. Diejenigen, welche in der Erkenntnis einiges erlangt
haben, wissen, daß sie nicht dem eigensinnigen persönlichen Urteile, sondern
dem ruhigen Hinhorchen und Verarbeiten alles verdanken. Man soll stets im Auge
behalten, daß man das nicht mehr zu lernen braucht, was man schon beurteilen
kann. Will man also nur urteilen, so
kann man überhaupt nicht mehr lernen. In der Geheimschulung kommt es aber auf
das Lernen an. Man soll da ganz und gar den Willen haben, ein Lernender zu
sein. Kann man etwas nicht verstehen, dann urteile man lieber gar nicht, als
daß man verurteile. Man lasse sich dann das Verständnis für eine spätere Zeit.
– Je höher man die Stufen der Erkenntnis hinansteigt, desto mehr hat man dieses
ruhige, andächtige Hinhorchen nötig. Alles Erkennen der Wahrheit, alles Leben
und Handeln in der Welt des Geistes wird auf höheren Gebieten subtil, zart im
Vergleich mit den Verrichtungen des gewöhnlichen Verstandes und des Lebens in
der physischen Welt. Je mehr sich die Kreise des Menschen erweitern, desto
feiner werden die Verrichtungen, die er vorzunehmen hat. Weil dies so ist,
deshalb kommen die Menschen in bezug auf höhere Gebiete zu so verschiedenen
«Ansichten» und «Standpunkten». Allein, es gibt auch über höhere Wahrheiten in
Wirklichkeit nur eine Meinung. Man
kann zu dieser einen Meinung kommen,
wenn man sich durch Arbeit und Andacht dazu erhoben hat, die Wahrheit wirklich
zu schauen. Nur derjenige kann zu einer Ansicht kommen, die von der einen
wahren abweicht, der, nicht genügend vorbereitet, nach seinen
Lieblingsvorstellungen, seinen gewohnten Gedanken und so weiter urteilt. Wie es
nur eine Ansicht über einen mathematischen Lehrsatz gibt, so auch über die
Dinge der höheren Welten. Aber man muß sich erst vorbereiten, um zu einer
solchen «Ansicht» kommen zu können. Wenn man das bedenken wollte, so würden für
niemand die Bedingungen der Geheimlehrer etwas Überraschendes haben. Es ist
durchaus richtig, daß die Wahrheit und das höhere Leben in jeder Menschenseele
wohnen und daß sie ein jeder selbst finden
kann und muß. Aber sie liegen tief und können nur nach Hinwegräumung von
Hindernissen aus ihren tiefen Schächten heraufgeholt werden. Wie man das
vollbringt, darüber kann nur raten, wer Erfahrung in der Geheimwissenschaft
hat. Solchen Rat gibt die Geisteswissenschaft. Sie drängt niemand eine Wahrheit
auf, sie verkündet kein Dogma; sie zeigt aber einen Weg. Zwar könnte jeder –
vielleicht aber erst nach vielen Verkörperungen – diesen Weg auch allein
finden; doch ist es eine Verkürzung des Weges, was in der Geheimschulung
erreicht wird. Der Mensch gelangt dadurch früher zu einem Punkte, auf dem er
mitwirken kann in den Welten, wo das Menschenheil und die Menschenentwickelung
durch geistige Arbeit gefördert werden.
Damit sind die Dinge angedeutet,
welche zunächst über die Erlangung höherer Welterfahrung mitgeteilt werden
sollen. Im nächsten Kapitel sollen diese Ausführungen dadurch fortgesetzt
werden, daß gezeigt wird, was in den höheren Gliedern der Menschennatur (im
Seelenorganismus oder Astralleib und im Geiste oder Gedankenleib) vorgeht
während dieser Entwickelung. Dadurch werden diese Mitteilungen in eine neue
Beleuchtung gerückt, und es wird in einem tieferen Sinne in sie eingedrungen
werden können.
Es gehört zu den Grundsätzen
wahrer Geheimwissenschaft, daß derjenige, welcher sich ihr widmet, dies mit
vollem Bewußtsein tue. Er soll nichts vornehmen, nicht üben, wovon er nicht
weiß, was es für eine Wirkung hat. Ein Geheimlehrer, der jemand einen Rat oder
eine Anweisung gibt, wird immer zugleich sagen, was durch die Befolgung in
Leib, Seele oder Geist desjenigen eintritt, der nach höherer Erkenntnis strebt.
Hier sollen nun einige Wirkungen
auf die Seele des Geheimschülers angegeben werden. Erst wer solche Dinge kennt,
wie sie hier mitgeteilt werden, kann in vollem Bewußtsein die Übungen
vornehmen, welche zur Erkenntnis übersinnlicher Welten führen. Und nur ein
solcher ist ein echter Geheimschüler. Alles Tappen im dunkeln ist bei
wirklicher Geheimschulung streng verpönt. Wer nicht mit offenen Augen seine
Schulung vollziehen will, mag Medium werden; zum Hellseher im Sinne der
Geheimwissenschaft kann er es nicht bringen.
Bei dem, welcher in diesem Sinne
die in den vorhergehenden Abschnitten (über Erwerbung übersinnlicher
Erkenntnisse) beschriebenen Übungen macht, gehen zunächst gewisse Veränderungen
im sogenannten Seelenorganismus vor sich. Dieser ist nur für den Hellseher
wahrnehmbar. Man kann ihn mit einer mehr oder weniger geistig-seelisch
leuchtenden Wolke vergleichen, in deren Mitte der physische Körper des Menschen
sich befindet. [Eine Beschreibung findet man in des Verfassers «Theosophie».]
In diesem Organismus werden die Triebe, Begierden, Leidenschaften,
Vorstellungen und so weiter geistig sichtbar. Sinnliche Begierde zum Beispiel
empfindet man darinnen wie dunkelrötliche Ausstrahlungen von bestimmter Form.
Ein reiner, edler Gedanke findet seinen Ausdruck wie in einer rötlichvioletten
Ausstrahlung. Der scharfe Begriff, den der logische Denker faßt, fühlt sich wie
eine gelbliche Figur mit ganz bestimmten Umrissen. Der verworrene Gedanke des
unklaren Kopfes tritt als Figur mit unbestimmten Umrissen auf. Die Gedanken der
Menschen mit einseitigen, verbohrten Ansichten erscheinen in ihren Umrissen
scharf, unbeweglich, diejenigen solcher Persönlichkeiten, welche zugänglich für
die Ansichten anderer sind, sieht man in beweglichen, sich wandelnden Umrissen
und so weiter, und so weiter. [Man muß bei allen folgenden Schilderungen darauf
achten, daß zum Beispiel beim «Sehen» einer Farbe geistiges Sehen (Schauen) gemeint ist. Wenn die hellsichtige
Erkenntnis davon spricht: «ich sehe rot», so bedeutet dies: «ich habe im
Seelisch-Geistigen ein Erlebnis, welches gleichkommt dem physischen Erlebnis
beim Eindruck der roten Farbe.» Nur weil es der hellsichtigen Erkenntnis in
einem solchen Falle ganz naturgemäß ist, zu sagen: «ich sehe rot», wird dieser
Ausdruck angewandt. Wer dies nicht bedenkt, kann leicht eine Farbenvision mit
einem wahrhaft hellsichtigen Erlebnis verwechseln.]
Je weiter nun der Mensch in
seiner Seelenentwickelung fortschreitet, desto regelmäßiger gegliedert wird
sein Seelenorganismus. Beim Menschen mit einem unentwickelten Seelenleben ist
er verworren, ungegliedert. Aber auch in einem solchen ungegliederten
Seelenorganismus kann der Hellseher ein Gebilde wahrnehmen, das sich deutlich
von der Umgebung abhebt. Es verläuft vom Innern des Kopfes bis zur Mitte des
physischen Körpers. Es nimmt sich aus wie eine Art selbständiger Leib, welcher
gewisse Organe hat. Diejenigen Organe, die hier zunächst besprochen werden
sollen, werden in der Nähe folgender physischer Körperteile geistig
wahrgenommen: das erste zwischen den Augen, das zweite in der Nähe des
Kehlkopfes, das dritte in der Gegend des Herzens, das vierte liegt in der
Nachbarschaft der sogenannten Magengrube, das fünfte und sechste haben ihren
Sitz im Unterleibe. Diese Gebilde werden von den Geheimkundigen «Räder»
(Chakrams) oder auch «Lotusblumen» genannt. Sie heißen so wegen der Ähnlichkeit
mit Rädern oder Blumen; doch muß man sich natürlich klar darüber sein, daß ein
solcher Ausdruck nicht viel zutreffender ist, als wenn man die beiden
Lungenteile «Lungenflügel» nennt. Wie man sich hier klar ist, daß man es nicht
mit «Flügeln» zu tun hat, so muß man auch dort nur an eine vergleichsweise
Bezeichnung denken. Diese «Lotusblumen» sind nun beim unentwickelten Menschen
von dunklen Farben und ruhig, unbewegt. Beim Hellseher aber sind sie in
Bewegung und von leuchtenden Farbenschattierungen. Auch beim Medium ist etwas
Ähnliches der Fall, doch in anderer Art. Darauf soll hier nicht näher
eingegangen werden. – Wenn nun ein Geheimschüler mit seinen Übungen beginnt, so
ist das erste, daß sich die Lotusblumen aufhellen; später beginnen sie sich zu
drehen. Wenn dies letztere eintritt, so beginnt die Fähigkeit des Hellsehens.
Denn diese «Blumen» sind die Sinnesorgane der Seele. [Auch in bezug auf diese
Wahrnehmungen des «Drehens», ja der «Lotusblumen» selbst, gilt, was in der
vorigen Anmerkung über das «Sehen der Farben» gesagt worden ist.] Und ihre
Drehung ist der Ausdruck dafür, daß im Übersinnlichen wahrgenommen wird.
Niemand kann etwas Übersinnliches schauen, bevor sich seine astralen Sinne in
dieser Art ausgebildet haben.
Das geistige Sinnesorgan, welches sich in der Nähe des
Kehlkopfes befindet, macht es möglich, hellseherisch die Gedankenart eines anderen Seelenwesens zu durchschauen, es
gestattet auch einen tieferen Einblick in die wahren Gesetze der
Naturerscheinungen. – Das Organ in der Nachbarschaft des Herzens eröffnet eine
hellseherische Erkenntnis der Gesinnungsart
anderer Seelen. Wer es ausgebildet hat, kann auch bestimmte tiefere Kräfte
bei Tieren und Pflanzen erkennen. Durch den Sinn in der Nähe der sogenannten
Magengrube erlangt man Kenntnis von den Fähigkeiten
und Talenten der Seelen; man kann
durchschauen, welche Rolle Tiere, Pflanzen, Steine, Metalle, atmosphärische
Erscheinungen und so weiter im Haushalte der Natur spielen.
Das Organ in der Nähe des
Kehlkopfes hat sechzehn «Blumenblätter» oder «Radspeichen», das in der Nähe des
Herzens deren zwölf, das in der Nachbarschaft der Magengrube liegende deren
zehn.
Nun hängen gewisse seelische
Verrichtungen mit der Ausbildung dieser Sinnesorgane zusammen. Und wer diese
Verrichtungen in einer ganz bestimmten Weise ausübt, der trägt etwas bei zur
Ausbildung der betreffenden geistigen Sinnesorgane. Von der
«sechzehnblätterigen Lotusblume» sind acht Blätter auf einer früheren
Entwickelungsstufe des Menschen in urferner Vergangenheit bereits ausgebildet
gewesen. Zu dieser Ausbildung hat der
Mensch selbst nichts beigetragen. Er hat sie als eine Naturgabe erhalten, als
er noch in einem Zustande traumhaften, dumpfen Bewußtseins war. Auf der
damaligen Stufe der Menschheitsentwickelung waren sie auch in Tätigkeit. Jedoch
vertrug sich diese Art von Tätigkeit eben nur mit jenem dumpfen
Bewußtseinszustande. Als dann das Bewußtsein sich aufhellte, verfinsterten sich
die Blätter und stellten ihre Tätigkeit ein. Die anderen acht kann der Mensch
selbst durch bewußte Übungen ausbilden. Dadurch wird die ganze Lotusblume
leuchtend und beweglich. Von der Entwickelung eines jeden der sechzehn Blätter
hängt die Erwerbung gewisser Fähigkeiten ab. Doch, wie bereits angedeutet, kann
der Mensch nur acht davon bewußt entwickeln; die anderen acht erscheinen dann
von selbst.
Die Entwickelung geht in
folgender Art vor sich. Der Mensch muß auf gewisse Seelenvorgänge
Aufmerksamkeit und Sorgfalt verwenden, die er gewöhnlich sorglos und
unaufmerksam ausführt. Es gibt acht solche Vorgänge. Der erste ist die Art und
Weise, wie man sich Vorstellungen aneignet. Gewöhnlich überläßt sich in dieser
Beziehung der Mensch ganz dem Zufall. Er hört dies und das, sieht das eine und
das andere und bildet sich danach seine Begriffe. Solange er so verfährt,
bleibt seine sechzehnblätterige Lotusblume ganz unwirksam. Erst wenn er seine
Selbsterziehung nach dieser Richtung in die Hand nimmt, beginnt sie wirksam zu
werden. Er muß zu diesem Zwecke auf seine Vorstellungen achten. Eine jede
Vorstellung soll für ihn Bedeutung gewinnen. Er soll in ihr eine bestimmte
Botschaft, eine Kunde über Dinge der Außenwelt sehen. Und er soll nicht
befriedigt sein von Vorstellungen, die nicht eine solche Bedeutung haben. Er
soll sein ganzes Begriffsleben so lenken, daß es ein treuer Spiegel der
Außenwelt wird. Sein Streben soll dahin gehen, unrichtige Vorstellungen aus
seiner Seele zu entfernen. – Der zweite Seelenvorgang betrifft in einer ähnlichen
Richtung die Entschlüsse des Menschen. Er soll nur aus gegründeter, voller
Überlegung selbst zu dem Unbedeutendsten sich entschließen. Alles gedankenlose
Handeln, alles bedeutungslose Tun soll er von seiner Seele fernhalten. Zu allem
soll er wohlerwogene Gründe haben. Und er soll unterlassen, wozu kein
bedeutsamer Grund drängt. – Der dritte Vorgang bezieht sich auf das Reden. Nur
was Sinn und Bedeutung hat, soll von den Lippen des Geheimschülers kommen.
Alles Reden um des Redens willen bringt ihn von seinem Wege ab. Die gewöhnliche
Art der Unterhaltung, wo wahllos und bunt alles durcheinander geredet wird,
soll der Geheimschüler meiden. Dabei aber soll er sich nicht etwa ausschließen
von dem Verkehr mit seinen Mitmenschen. Gerade im Verkehr soll sein Reden sich
zur Bedeutsamkeit entwickeln. Er steht jedem Rede und Antwort, aber er tut es
gedankenvoll, nach jeder Richtung überlegt. Niemals redet er unbegründet. Er
versucht nicht zuviel und nicht zuwenig Worte zu machen. Der vierte
Seelenvorgang ist die Regelung des äußeren
Handelns. Der Geheimschüler versucht sein Handeln so einzurichten, daß es
zu den Handlungen seiner Mitmenschen und zu den Vorgängen seiner Umgebung
stimmt. Er unterläßt Handlungen, welche für andere störend sind oder die im
Widerspruche stehen mit dem, was um ihn herum vorgeht. Er sucht sein Tun so
einzurichten, daß es sich harmonisch eingliedert in seine Umgebung; in seine
Lebenslage und so weiter. Wo er durch etwas anderes veranlaßt wird zu handeln,
da beobachtet er sorgfältig, wie er der Veranlassung am besten entsprechen
könne. Wo er aus sich heraus handelt, da erwägt er die Wirkungen seiner
Handlungsweise auf das deutlichste. – Das fünfte, was hier in Betracht kommt,
liegt in der Einrichtung des ganzen Lebens. Der Geheimschüler versucht
natur-und geistgemäß zu leben. Er überhastet nichts und ist nicht träge.
Übergeschäftigkeit und Lässigkeit liegen ihm gleich ferne. Er sieht das Leben
als ein Mittel der Arbeit an und richtet sich dementsprechend ein.
Gesundheitspflege, Gewohnheiten und so weiter richtet er für sich so ein, daß
ein harmonisches Leben die Folge ist. – Das sechste betrifft das menschliche
Streben. Der Geheimschüler prüft seine Fähigkeiten, sein Können und verhält
sich im Sinne solcher Selbsterkenntnis. Er versucht nichts zu tun, was
außerhalb seiner Kräfte liegt; aber auch nichts zu unterlassen, was innerhalb
derselben sich befindet. Anderseits stellt er sich Ziele, die mit den Idealen,
mit den großen Pflichten eines Menschen zusammenhängen. Er fügt sich nicht bloß
gedankenlos als ein Rad ein in das Menschentriebwerk, sondern er sucht seine
Aufgaben zu begreifen, über das Alltägliche hinauszublicken. Er strebt danach,
seine Obliegenheiten immer besser und vollkommener zu machen. – Das siebente
–in seinem Seelenleben betrifft das Streben, möglichst viel vom Leben zu
lernen. Nichts geht an dem Geheimschüler vorbei, was ihm nicht Anlaß gibt,
Erfahrung zu sammeln, die ihm nützlich ist für das Leben. Hat er etwas
unrichtig und unvollkommen verrichtet, so wird das ein Anlaß, ähnliches später
richtig oder vollkommen zu machen. Sieht er andere handeln, so beobachtet er
sie zu einem ähnlichen Ziele. Er versucht, sich einen reichen Schatz von
Erfahrungen zu sammeln und ihn stets sorgfältig zu Rate zu ziehen. Und er tut
nichts, ohne auf Erlebnisse zurückzublicken, die ihm eine Hilfe sein können bei
seinen Entschlüssen und Verrichtungen. – Das achte endlich ist: der
Geheimschüler muß von Zeit zu Zeit Blicke in sein Inneres tun; er muß sich in
sich selbst versenken, sorgsam mit sich zu Rate gehen, seine Lebensgrundsätze
bilden und prüfen, seine Kenntnisse in Gedanken durchlaufen, seine Pflichten
erwägen, über den Inhalt und Zweck des Lebens nachdenken und so weiter. Alle
diese Dinge sind ja in den vorhergehenden Abschnitten schon besprochen worden.
Hier werden sie nur aufgezählt im Hin6lick auf die Entwickelung der
sechzehnblätterigen Lotusblume. Durch ihre Übung wird diese immer vollkommener
und vollkommener. Denn von solchen Übungen hängt die Ausbildung der
Hellsehergabe ab. Je mehr zum Beispiel dasjenige, was ein Mensch denkt und
redet, mit den Vorgängen in der Außenwelt zusammenstimmt, desto schneller
entwickelt sich diese Gabe. Wer Unwahres denkt oder redet, tötet etwas in dem
Keime der sechzehnblätterigen Lotusblume. Wahrhaftigkeit, Aufrichtigkeit,
Ehrlichkeit sind in dieser Beziehung aufbauende, Lügenhaftigkeit, Falschheit,
Unredlichkeit sind zerstörende Kräfte. Und der Geheimschüler muß wissen, daß es
hierbei nicht allein auf die «gute Absicht», sondern auf die wirkliche Tat
ankommt. Denke und sage ich etwas, was mit der Wirklichkeit nicht
übereinstimmt, so zerstöre ich etwas in meinem geistigen Sinnesorgan, auch wenn
ich dabei eine noch so gute Absicht zu haben glaube. Es ist wie mit dem Kinde,
das sich verbrennt, wenn es ins Feuer greift, auch wenn dies aus Unwissenheit
geschieht. – Die Einrichtung der besprochenen Seelenvorgänge in der
charakterisierten Richtung läßt die sechzehnblätterige Lotusblume in herrlichen
Farben erstrahlen und gibt ihr eine gesetzmäßige Bewegung. – Doch ist dabei zu
beachten, daß die gekennzeichnete Hellsehergabe nicht früher auftreten kann,
als ein bestimmter Grad von Ausbildung der Seele erlangt ist. Solange es noch
Mühe macht, das Leben in dieser Richtung zu führen, so lange zeigt sich diese
Gabe nicht. Solange man auf die geschilderten Vorgänge noch besonders achten
muß, ist man nicht reif. Erst wenn man es so weit gebracht hat, daß man in der
angegebenen Art lebt, wie es der Mensch sonst gewohnheitsmäßig tut, dann zeigen
sich die ersten Spuren des Hellsehens. Die Dinge dürfen dann nicht mehr
mühevoll sein, sondern müssen selbstverständliche Lebensart geworden sein. Man
darf nicht nötig haben, sich fortwährend zu beobachten, sich anzutreiben, daß
man so lebe. Alles muß Gewohnheit geworden sein. – Es gibt gewisse Anweisungen,
welche die sechzehnblätterige Lotusblume auf andere Art zur Entfaltung bringen.
Alle solchen Anweisungen verwirft die wahre Geheimwissenschaft. Denn sie führen
zur Zerstörung der leiblichen Gesundheit und zum moralischen Verderben. Sie sind
leichter durchzuführen als das Geschilderte. Dieses ist langwierig und
mühevoll. Aber es führt zu sicherem Ziele und kann nur moralisch kräftigen.
Die verzerrte Ausbildung einer
Lotusblume hat nicht nur Illusionen und phantastische Vorstellungen im Fall des
Auftretens einer gewissen Hellsehergabe zur Folge, sondern auch Verirrungen und
Haltlosigkeit im gewöhnlichen Leben. Man kann durch eine solche Ausbildung
furchtsam, neidisch, eitel, hochfahrend, eigenwillig und so weiter werden,
während man vorher alle diese Eigenschaften nicht hatte. – Es ist gesagt
worden, daß acht von den Blättern der sechzehnblätterigen Lotusblume bereits in
urferner Vergangenheit entwickelt waren und daß diese bei der Geheimschulung
von selbst wieder auftreten. Es muß nun bei der Bestrebung des Geheimschülers
alle Sorgfalt auf die acht anderen Blätter verwendet werden. Bei verkehrter
Schulung treten leicht die früher entwickelten allein auf und die neu zu
bildenden bleiben verkümmert. Dies wird insbesondere der Fall sein, wenn bei
der Schulung zu wenig auf logisches, vernünftiges Denken gesehen wird. Es ist
von der allergrößten Wichtigkeit, daß der Geheimschüler ein verständiger, auf
klares Denken haltender Mensch ist. Und von weiterer Wichtigkeit ist, daß er
sich der größten Klarheit befleißigt im Sprechen. Menschen, die anfangen etwas
vom Übersinnlichen zu ahnen, werden gern über diese Dinge gesprächig. Dadurch
halten sie ihre richtige Entwickelung auf. Je weniger man über diese Dinge
redet, desto besser ist es. Erst wer bis zu einem gewissen Grade der Klarheit
gekommen ist, sollte reden.
Im Beginne des Unterrichts sind
Geheimschüler in der Regel erstaunt, wie wenig «neugierig» der schon geistig
Geschulte ist gegenüber den Mitteilungen ihrer Erlebnisse. Am heilsamsten für
sie wäre es eben, wenn sie sich über ihre Erlebnisse ganz ausschweigen und
weiter nichts besprechen wollten, als wie gut oder wie schlecht es ihnen
gelingt, ihre Übungen durchzuführen oder die Anweisungen zu befolgen. Denn der
schon geistig Geschulte hat ganz andere Quellen zur Beurteilung der
Fortschritte als ihre direkten Mitteilungen. Die acht in Frage kommenden
Blätter der sechzehnblätterigen Lotusblume werden durch solche Mitteilungen
immer etwas verhärtet, während sie weich und biegsam erhalten werden sollten.
Es soll ein Beispiel angeführt werden, um das zu erläutern. Dies möge nicht vom
übersinnlichen, sondern der Deutlichkeit halber vom gewöhnlichen Leben
hergenommen werden. Angenommen, ich höre eine Nachricht und bilde mir darüber
sogleich ein Urteil. In einer kurzen Zeit darauf bekomme ich über dieselbe
Sache eine weitere Nachricht, die mit der ersteren nicht stimmt. Ich bin
dadurch genötigt, das schon gebildete Urteil umzubilden. Die Folge davon ist
ein ungünstiger Einfluß auf meine sechzehnblätterige Lotusblume. Ganz anders
wäre die Sache, wenn ich zuerst mit meinem Urteil zurückhaltend gewesen wäre,
wenn ich zu der ganzen Angelegenheit innerlich in Gedanken und äußerlich in
Worten «geschwiegen» hätte, bis ich ganz sichere Anhaltspunkte für mein Urteil
gehabt hätte. Behutsamkeit im Bilden und Aussprechen von Urteilen wird
allmählich zum besonderen Kennzeichen des Geheimschülers. Dagegen wächst seine
Empfänglichkeit für Eindrücke und Erfahrungen, die er schweigsam an sich
vorüberziehen läßt, um möglichst viele Anhaltspunkte sich zu schaffen, wenn er
zu urteilen hat. Es sind bläulich-rötliche und rosenrote Nuancen in den
Lotusblumenblättern, die durch solche Behutsamkeit auftreten, während im
anderen Falle dunkelrote und orangefarbige Nuancen auftreten. In einer
ähnlichen Art wie die sechzehnblättrige [Der Kundige wird in den Bedingungen
für die Entwickelung der sechzehnblätterigen Lotusblume» wiedererkennen die
Anweisungen, welche der Buddha seinen Jüngern für den «Pfad» gegeben hat. Doch
handelt es sich hier nicht darum, «Buddhismus» zu lehren, sondern
Entwickelungsbedingungen zu schildern, die aus der Geheimwissenschaft selbst
sich ergeben. Daß sie mit gewissen Lehren des Buddha übereinstimmen, kann nicht
hindern, sie an sich für wahr zu
finden.] wird auch die zwölfblätterige Lotusblume, in der Nähe des Herzens,
gestaltet. Auch von ihr war die Hälfte der Blätter in einem vergangenen
Entwickelungszustande des Menschen bereits vorhanden und in Tätigkeit. Diese
sechs Blätter brauchen daher bei der Geheimschulung nicht besonders ausgebildet
zu werden; sie erscheinen von selbst und beginnen sich zu drehen, wenn an den
anderen sechs gearbeitet wird. – Wieder muß, um diese Entwickelung zu fördern,
der Mensch gewissen Seelentätigkeiten in bewußter Weise eine bestimmte Richtung
geben.
Man muß sich nun klarmachen, daß
die Wahrnehmungen der einzelnen geistigen oder Seelensinne einen verschiedenen
Charakter tragen. Die Lotusblume mit zwölf Blättern vermittelt eine andere
Wahrnehmung als die sechzehnblätterige. Diese letztere nimmt Gestalten wahr.
Die Gedankenart, die eine Seele hat, die Gesetze, nach denen eine
Naturerscheinung sich vollzieht, treten für die sechzehnblätterige Lotusblume
in Gestalten auf. Das sind aber nicht starre, ruhige Gestalten, sondern
bewegte, mit Leben erfüllte Formen. Der Hellseher, bei dem sich dieser Sinn
entwickelt hat, kann für jede Gedankenart, für jedes Naturgesetz eine Form
nennen, in denen sie sich ausprägen. Ein Rachegedanke zum Beispiel kleidet sich
in eine pfeilartige, zackige Figur, ein wohlwollender Gedanke hat oft die
Gestalt einer sich öffnenden Blume und so weiter. Bestimmte, bedeutungsvolle
Gedanken sind regelmäßig, symmetrisch gebildet, unklare Begriffe haben
gekräuselte Umrisse. – Ganz andere Wahrnehmungen treten durch die
zwölfblätterige Lotusblume zutage. Man kann die Art dieser Wahrnehmungen
annähernd charakterisieren, wenn man sie als Seelenwärme und Seelenkälte
bezeichnet. Ein mit diesem Sinn ausgestatteter Hellseher fühlt von den Figuren,
die er durch die sechzehnblätterige Lotusblume wahrnimmt, solche Seelenwärme
oder Seelenkälte ausströmen. Man stelle sich einmal vor, ein Hellseher hätte
nur die sechzehnblätterige, nicht aber die zwölfblätterige Lotusblume
entwickelt. Dann würde er bei einem wohlwollenden Gedanken nur die oben
beschriebene Figur sehen. Ein anderer, der beide Sinne ausgebildet hat, bemerkt
auch noch diejenige Ausströmung dieses Gedankens, die man eben nur mit
Seelenwärme bezeichnen kann. – Nur nebenbei soll bemerkt werden, daß in der
Geheimschulung nie der eine Sinn ohne den anderen ausgebildet wird, so daß das
obige nur als eine Annahme zur Verdeutlichung anzusehen ist. – Dem Hellseher
eröffnet sich durch die Ausbildung der zwölfblätterigen Lotusblume auch ein
tiefes Verständnis für Naturvorgänge. Alles, was auf ein Wachsen, Entwickeln
begründet ist, strömt Seelenwärme aus; alles, was in Vergehen, Zerstörung,
Untergang begriffen ist, tritt mit dem Charakter der Seelenkälte auf.
Die Ausbildung dieses Sinnes wird
auf folgende Art gefördert. Das erste, was in dieser Beziehung der
Geheimschüler beobachtet, ist die Regelung seines Gedankenlaufes (die
sogenannte Gedankenkontrolle). So wie die sechzehnblätterige Lotusblume durch
wahre bedeutungsvolle Gedanken zur Entwickelung kommt, so die zwölfblätterige
durch innere Beherrschung des Gedankenverlaufes. Irrlichtelierende Gedanken,
die nicht in sinngemäßer, logischer Weise, sondern rein zufällig
aneinandergefügt sind, verderben die Form dieser Lotusblume. Je mehr ein
Gedanke aus dem anderen folgt, je mehr allem Unlogischen aus dem Wege gegangen
wird, desto mehr erhält dieses Sinnesorgan die ihm entsprechende Form. Hört der
Geheimschüler unlogische Gedanken, so läßt er sich sogleich das Richtige durch
den Kopf gehen. Er soll nicht lieblos sich einer vielleicht unlogischen
Umgebung entziehen, um seine Entwickelung zu fördern. Er soll auch nicht den
Drang in sich fühlen, alles Unlogische in seiner Umgebung sofort zu
korrigieren. Er wird vielmehr ganz still in seinem Innern die von außen auf ihn
einstürmenden Gedanken in eine logische, sinngemäße Richtung bringen. Und er
bestrebt sich, in seinen eigenen Gedanken überall diese Richtung einzuhalten. –
Ein zweites ist, eine ebensolche Folgerichtigkeit in sein Handeln zu bringen
(Kontrolle der Handlungen). Alle Unbeständigkeit, Disharmonie im Handeln
gereichen der in Rede stehenden Lotusblume zum Verderben. Wenn der
Geheimschüler etwas getan hat, so richtet er sein folgendes Handeln danach ein,
daß es in logischer Art aus dem ersten folgt. Wer heute im anderen Sinn handelt
als gestern, wird nie den charakterisierten Sinn entwickeln. – Das dritte ist
die Erziehung zur Ausdauer. Der Geheimschüler läßt sich nicht durch diese oder
jene Einflüsse von einem Ziel abbringen, das er sich gesteckt hat, solange er
dieses Ziel als ein richtiges ansehen kann. Hindernisse sind für ihn eine
Aufforderung, sie zu überwinden, aber keine Abhaltungsgründe. – Das vierte ist
die Duldsamkeit (Toleranz) gegenüber Menschen, anderen Wesen und auch
Tatsachen. Der Geheimschüler unterdrückt alle überflüssige Kritik gegenüber dem
Unvollkommenen, Bösen und Schlechten und sucht vielmehr alles zu begreifen, was
an ihn herantritt. Wie die Sonne ihr Licht nicht dem Schlechten und Bösen
entzieht, so er nicht seine verständnisvolle Anteilnahme. Begegnet dem
Geheimschüler irgendein Ungemach, so ergeht er sich nicht in abfälligen
Urteilen, sondern er nimmt das Notwendige hin und sucht, soweit seine Kraft
reicht, die Sache zum Guten zu wenden. Andere Meinungen betrachtet er nicht nur
von seinem Standpunkte aus, sondern er sucht sich in die Lage des anderen zu
versetzen. – Das fünfte ist die Unbefangenheit gegenüber den Erscheinungen des
Lebens. Man spricht in dieser Beziehung auch von dem «Glauben» oder
«Vertrauen». Der Geheimschüler tritt jedem Menschen, jedem Wesen mit diesem
Vertrauen entgegen. Und er erfüllt sich bei seinen Handlungen mit solchem
Vertrauen. Er sagt sich nie, wenn ihm etwas mitgeteilt wird: das glaube ich
nicht, weil es meiner bisherigen Meinung widerspricht. Er ist vielmehr in jedem
Augenblicke bereit, seine Meinung und Ansicht an einer neuen zu prüfen und zu
berichtigen. Er bleibt immer empfänglich für alles, was an ihn herantritt. Und
er vertraut auf die Wirksamkeit dessen, was er unternimmt. Zaghaftigkeit und
Zweifelsucht verbannt er aus seinem Wesen. Hat er eine Absicht, so hat er auch
den Glauben an die Kraft dieser Absicht. Hundert Mißerfolge können ihm diesen
Glauben nicht nehmen. Es ist dies jener «Glaube, der Berge zu versetzen
vermag». – Das sechste ist die Erwerbung eines gewissen Lebensgleichgewichtes
(Gleichmutes). Der Geheimschüler strebt an, seine gleichmäßige Stimmung zu
erhalten, ob ihn Leid, ob ihn Erfreuliches trifft. Das Schwanken zwischen
«himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt» gewöhnt er sich ab. Das Unglück, die
Gefahr finden ihn ebenso gewappnet wie das Glück, die Förderung.
Die Leser von
geisteswissenschaftlichen Schriften finden das Geschilderte als die sogenannten
«sechs Eigenschaften» aufgezählt, welche der bei sich entwickeln muß, der die
Einweihung anstrebt. Hier sollte ihr Zusammenhang mit dem seelischen Sinne
dargelegt werden, welcher die zwölfblätterige Lotusblume genannt wird. – Die
Geheimschulung vermag wieder besondere Anweisungen zu geben, welche diese
Lotusblume zum Reifen bringen, aber auch hier hängt die Ausbildung der
regelmäßigen Form dieses Sinnesorganes an der Entwickelung der aufgezählten
Eigenschaften. Wird diese Entwickelung außer acht gelassen, dann gestaltet sich
dieses Organ zu einem Zerrbilde. Und es können dadurch bei Ausbildung einer gewissen
Hellsehergabe in dieser Richtung die genannten Eigenschaften sich statt zum
Guten zum Schlechten wenden. Der Mensch kann besonders unduldsam, zaghaft,
ablehnend gegen seine Umgebung werden. Er kann zum Beispiel eine Empfindung
erhalten für Gesinnungen anderer Seelen und diese deswegen fliehen oder hassen.
Es kann so weit kommen, daß er wegen der Seelenkälte, die ihn bei Ansichten
überströmt, welche ihm widerstreben, gar nicht zuhören kann oder in abstoßender
Art sich gebärdet.
Kommt zu allem Gesagten noch die
Beobachtung gewisser Vorschriften hinzu, welche Geheimschüler von Geheimlehrern
nur mündlich empfangen können, so tritt eine entsprechende Beschleunigung in
der Entwickelung der Lotusblume ein. Doch führen die hier gegebenen Anweisungen
durchaus in die wirkliche Geheimschulung ein. Nützlich aber ist auch für den,
der nicht eine Geheimschulung durchmachen will oder kann, die Einrichtung des
Lebens in der angegebenen Richtung. Denn die Wirkung auf den Seelenorganismus
tritt auf alle Fälle ein, wenn auch langsam. Und für den Geheimschüler ist die
Beobachtung dieser Grundsätze unerläßlich. – Würde er eine Geheimschulung
versuchen, ohne sie einzuhalten, so könnte er nur mit mangelhaftem Gedankenauge
in die höheren Welten eintreten; und statt die Wahrheit zu erkennen, würde er
dann nur Täuschungen und Illusionen unterworfen sein. Er würde in einer
gewissen Beziehung hellsehend werden; aber im Grunde nur größerer Blindheit
unterliegen als vorher. Denn ehedem stand er wenigstens innerhalb der Sinnenwelt
fest und hatte an ihr einen bestimmten Halt; jetzt aber sieht er hinter die
Sinnenwelt und wird an dieser irre, bevor er sicher in einer höheren Welt
steht. Er kann dann vielleicht überhaupt nicht mehr Wahrheit von Irrtum
unterscheiden und verliert alle Richtung im Leben. –Gerade aus diesem Grunde
ist Geduld so nötig in diesen Dingen.
Man muß immer bedenken, daß die Geisteswissenschaft nicht weiter mit ihren
Anweisungen gehen darf, als volle
Willigkeit zu einer geregelten Entwickelung der «Lotusblumen» vorliegt. Es
würden sich wahre Zerrbilder dieser Blumen entwickeln, wenn sie zur Reife gebracht würden, bevor sie in
ruhiger Weise die ihnen zukommende Form erlangt
haben. Denn die speziellen Anweisungen der Geisteswissenschaft bewirken das Reifwerden, die Form aber wird durch die
geschilderte Lebensart ihnen gegeben.
Von besonders feiner Art ist die
Seelenpflege, die zur Entwickelung der zehnblätterigen Lotusblume notwendig
ist. Denn hier handelt es sich darum, die Sinneseindrücke selbst in bewußter
Weise beherrschen zu lernen Für den angehenden Hellseher ist das ganz besonders
nötig. Nur dadurch vermag er einen Quell zahlloser Illusionen und geistiger
Willkürlichkeiten zu vermeiden. Der Mensch macht sich gewöhnlich gar nicht
klar, von welchen Dingen seine Einfälle, seine Erinnerungen beherrscht sind und
wodurch sie hervorgerufen werden. Man nehme folgenden Fall an. Jemand fährt in
der Eisenbahn. Er ist mit einem Gedanken beschäftigt. Plötzlich nimmt sein
Gedanke eine ganz andere Wendung. Er erinnert sich an ein Erlebnis, das er vor
Jahren gehabt hat, und verspinnt es mit seinen gegenwärtigen Gedanken. Er hat
nun aber gar nicht bemerkt, daß sein Auge zum Fenster hinausgerichtet und der
Blick auf eine Person gerichtet war, welche Ähnlichkeit hatte mit einer anderen,
die in das erinnerte Erlebnis hineinverwickelt war. Was er gesehen hat, kommt
ihm gar nicht zum Bewußtsein, sondern nur die Wirkung. So glaubt er, daß ihm
die Sache «von selbst eingefallen» sei. Wieviel im Leben kommt nicht auf solche
Art zustande. Wie spielen in unser Leben Dinge hinein, die wir erfahren und
gelesen haben, ohne daß man sich den Zusammenhang ins Bewußtsein bringt. Jemand
kann zum Beispiel eine bestimmte Farbe nicht leiden; er weiß aber gar nicht,
daß dies deshalb der Fall ist, weil der Lehrer, der ihn vor vielen Jahren
gequält hat, einen Rock in dieser Farbe gehabt hat. Unzählige Illusionen
beruhen auf solchen Zusammenhängen. Viele Dinge prägen sich der Seele ein, ohne
daß sie auch dem Bewußtsein einverleibt werden. Es kann folgender Fall
vorkommen. Jemand liest in der Zeitung von dem Tode einer bekannten
Persönlichkeit. Und nun behauptet er ganz fest, er habe diesen Todesfall schon
«gestern» vorausgeahnt, obgleich er nichts gehört und gesehen habe, was ihn auf
diesen Gedanken hätte bringen können. Und es ist wahr, wie «von selbst» ist ihm
«gestern» der Gedanke aufgetaucht: die betreffende Person werde sterben. Er hat
nur eines nicht beachtet. Er ist ein paar Stunden, bevor ihm «gestern» der
Gedanke aufgestoßen ist, bei einem Bekannten zu Besuch gewesen. Auf dem Tisch
lag ein Zeitungsblatt. Er hat darin nicht gelesen. Aber unbewußt fiel doch sein
Auge auf die Nachricht von der schweren Erkrankung der in Rede stehenden
Persönlichkeit. Des Eindruckes ist er sich nicht bewußt geworden. Aber die
Wirkung war die «Ahnung». – Wenn man sich solche Dinge überlegt, so kann man
ermessen, was für eine Quelle von Illusionen und Phantastereien in solchen
Verhältnissen liegt. Und diese Quelle muß derjenige verstopfen, der seine
zehnblätterige Lotusblume ausbilden will. Denn durch diese Lotusblume kann man
tief verborgene Eigenschaften an Seelen wahrnehmen. Aber Wahrheit ist diesen
Wahrnehmungen nur dann beizumessen, wenn man von den gekennzeichneten
Täuschungen ganz frei geworden ist. Es ist zu diesem Zwecke notwendig, daß man
sich zum Herrn über das macht, was von der Außenwelt auf einen einwirkt. Man
muß es dahin bringen, daß Eindrücke, die man nicht empfangen will, man auch wirklich nicht empfängt.
Solch eine Fähigkeit kann nur durch ein starkes Innenleben herangezogen werden.
Man muß es in den Willen bekommen, daß man nur die Dinge auf sich wirken läßt,
auf die man die Aufmerksamkeit wendet, und daß man sich Eindrücken wirklich
entzieht, an die man sich nicht willkürlich wendet. Was man sieht, muß man
sehen wollen, und worauf man keine
Aufmerksamkeit wendet, muß tatsächlich für einen nicht da sein. Je lebhafter,
energischer die innere Arbeit der Seele wird, desto mehr wird man das
erreichen. – Der Geheimschüler muß alles gedankenlose Herumschauen und Herumhören
vermeiden. Für ihn soll nur da sein, worauf er Ohr und Auge richtet. Er muß
sich darin üben, daß er im größten Trubel nichts zu hören braucht, wenn er
nicht hören will; er soll sein Auge unempfänglich machen für Dinge, auf die er
nicht besonders hinschaut. Wie mit einem seelischen Panzer muß er umgeben sein
für alle unbewußten Eindrücke. – Besonders auf das Gedankenleben selbst muß er
nach dieser Richtung hin Sorgfalt verwenden. Er setzt sich einen Gedanken vor,
und er versucht nur das weiterzudenken, was er ganz bewußt, in völliger
Freiheit, an diesen Gedanken angliedern kann. Beliebige Einfälle weist er ab.
Will er den Gedanken mit irgendeinem andern in Beziehung setzen, so besinnt er
sich sorgfältig, wo dieser andere an ihn herangetreten ist. – Er geht noch
weiter. Wenn er zum Beispiel eine bestimmte Antipathie gegen irgend etwas hat,
so bekämpft er sie und sucht eine bewußte
Beziehung zu dem betreffenden Dinge herzustellen. Auf diese Art mischen
sich immer weniger unbewußte Elemente in sein Seelenleben hinein. Nur durch
solche strenge Selbstzucht erlangt die zehnblätterige Lotusblume die Gestalt,
die sie haben sollte. Das Seelenleben des Geheimschülers muß ein Leben in
Aufmerksamkeit werden, und worauf man keine Aufmerksamkeit verwenden will oder
soll, das muß man sich wirklich fernzuhalten wissen. – Tritt zu einer solchen
Selbstzucht eine Meditation, welche den Anweisungen der Geisteswissenschaft
entspricht, dann kommt die in der Gegend der Magengrube befindliche Lotusblume
in der richtigen Weise zum Reifen, und das, was durch die vorher geschilderten
geistigen Sinnesorgane nur Form und Wärme hatte, erhält geistig Licht und
Farbe. Und dadurch enthüllen sich zum Beispiel Talente und Fähigkeiten von
Seelen, Kräfte und verborgene Eigenschaften in der Natur. Die Farbenaura der
belebten Wesen wird dadurch sichtbar; das, was um uns ist, kündigt dadurch
seine seelenhaften Eigenschaften an. – Man wird zugeben, daß gerade in der
Entwickelung auf diesem Gebiete die allergrößte Sorgfalt notwendig ist, denn das
Spiel unbewußter Erinnerungen ist hier ein unermeßlich reges. Wäre das nicht
der Fall, so würden viele Menschen gerade den hier in Frage kommenden Sinn
haben, denn er tritt fast sogleich auf, wenn der Mensch wirklich die Eindrücke
seiner Sinne ganz und gar so in seiner Gewalt hat, daß sie nur mehr seiner
Aufmerksamkeit oder Unaufmerksamkeit unterworfen sind. Nur solange die Macht
der äußeren Sinne diesen seelischen Sinn in Dämpfung und Dumpfheit erhält,
bleibt er unwirksam.
Schwieriger als die Ausbildung
der beschriebenen Lotusblume ist diejenige der sechsblätterigen, welche sich in
der Körpermitte befindet. Denn zu dieser Ausbildung muß die vollkommene
Beherrschung des ganzen Menschen durch das Selbstbewußtsein angestrebt werden,
so daß bei ihm Leib, Seele und Geist in einer vollkommenen Harmonie sind. Die
Verrichtungen des Leibes, die Neigungen und Leidenschaften der Seele, die
Gedanken und Ideen des Geistes müssen in einen vollkommenen Einklang
miteinander gebracht werden. Der Leib muß so veredelt und geläutert werden, daß
seine Organe zu nichts drängen, was nicht im Dienste der Seele und des Geistes
geschieht. Die Seele soll durch den Leib nicht zu Begierden und Leidenschaften
gedrängt werden, die einem reinen und edlen Denken widersprechen. Der Geist
aber soll nicht wie ein Sklavenhalter mit seinen Pflichtgeboten und Gesetzen
über die Seele herrschen müssen; sondern diese soll aus eigener freier Neigung
den Pflichten und Geboten folgen. Nicht wie etwas, dem er sich widerwillig
fügt, soll die Pflicht über dem Geheimschüler schweben, sondern wie etwas, das
er vollführt, weil er es liebt. Eine freie Seele, die im Gleichgewichte
zwischen Sinnlichkeit und Geistigkeit steht, muß der Geheimschüler entwickeln.
Er muß es dahin bringen, daß er sich seiner Sinnlichkeit überlassen darf, weil
diese so geläutert ist, daß sie die Macht verloren hat, ihn zu sich
herabzuziehen. Er soll es nicht mehr nötig haben, seine Leidenschaften zu
zügeln, weil diese von selbst dem Rechten folgen. Solange der Mensch es nötig
hat, sich zu kasteien, kann er nicht Geheimschüler auf einer gewissen Stufe
sein. Eine Tugend, zu der man sich erst zwingen muß, ist für die
Geheimschülerschaft noch wertlos. Solange man eine Begierde noch hat, stört
diese die Schülerschaft, auch wenn man sich bemüht, ihr nicht zu willfahren.
Und es ist einerlei, ob diese Begierde mehr dem Leibe oder mehr der Seele
angehört. Wenn jemand zum Beispiel ein bestimmtes Reizmittel vermeidet, um
durch die Entziehung des Genusses sich zu läutern, so hilft ihm dies nur dann,
wenn sein Leib durch diese Enthaltung keine Beschwerden erleidet. Ist letzteres
der Fall, so zeigt es, daß der Leib das Reizmittel begehrt, und die Enthaltung ist wertlos. In diesem Falle kann es
eben durchaus sein, daß der Mensch zunächst auf das angestrebte Ziel verzichten
muß und warten, bis günstigere sinnliche Verhältnisse – vielleicht erst in
einem anderen Leben – für ihn vorliegen. Ein vernünftiger Verzicht ist in einer
gewissen Lage eine viel größere Errungenschaft als das Erstreben einer Sache,
die unter gegebenen Verhältnissen eben nicht zu erreichen ist. Ja, es fördert
solch ein vernünftiger Verzicht die Entwickelung mehr als das Entgegengesetzte.
Wer die sechsblätterige
Lotusblume entwickelt hat, der gelangt zum Verkehr mit Wesen, die den höheren
Welten angehören, jedoch nur dann, wenn deren Dasein sich in der Seelenwelt
zeigt. Die Geheimschulung empfiehlt aber nicht eine Entwickelung dieser
Lotusblume, bevor der Schüler nicht auf dem Wege weit vorgeschritten ist, durch
den er seinen Geist in eine noch
höhere Welt erheben kann. Dieser Eintritt in die eigentliche Geisteswelt muß
nämlich immer die Ausbildung der Lotusblumen begleiten. Sonst gerät der Schüler
in Verwirrung und Unsicherheit. Er würde zwar sehen lernen, aber es fehlte ihm die Fähigkeit, das Gesehene in der
richtigen Weise zu beurteilen. – Nun liegt schon in dem, was zur Ausbildung der
sechsblätterigen Lotusblume verlangt wird, eine gewisse Bürgschaft gegen
Verwirrung und Haltlosigkeit. Denn nicht leicht wird jemand in diese Verwirrung
zu bringen sein, der das vollkommene Gleichgewicht zwischen Sinnlichkeit
(Leib), Leidenschaft (Seele) und Idee (Geist) erlangt hat. Dennoch ist noch
mehr notwendig als diese Bürgschaft, wenn durch Entwickelung der
sechsblätterigen Lotusblume dem Menschen Wesen mit Leben und Selbständigkeit
wahrnehmbar werden, welche einer Welt angehören, die von derjenigen seiner
physischen Sinne so durchaus verschieden ist. Um Sicherheit in diesen Welten zu
haben, genügt ihm nicht das Ausbilden der Lotusblumen, sondern er muß da noch
höhere Organe zu seiner Verfügung haben. Es soll nun über die Entwickelung
dieser noch höheren Organe gesprochen werden; dann kann auch von den anderen
Lotusblumen und der anderweitigen Organisation des Seelenleibes [Es ist
selbstverständlich, daß, dem Wortsinne nach, der Ausdruck «Seelenleib» (wie
mancher ähnliche der Geisteswissenschaft) einen Widerspruch enthält. Doch wird
dieser Ausdruck gebraucht, weil das hellseherische Erkennen etwas wahrnimmt,
was so im Geistigen erlebt wird, wie im Physischen der Leib wahrgenommen wird.]
die Rede sein.
*
Die Ausbildung des Seelenleibes,
wie sie eben geschildert worden ist, macht dem Menschen möglich, übersinnliche
Erscheinungen wahrzunehmen. Wer sich aber in dieser Welt wirklich zurechtfinden
will, der darf nicht auf dieser Stufe der Entwickelung stehenbleiben. Die bloße
Beweglichkeit der Lotusblumen genügt nicht. Der Mensch muß in der Lage sein,
die Bewegung seiner geistigen Organe selbständig, mit vollem Bewußtsein zu
regeln und zu beherrschen. Er würde sonst ein Spielball äußerlicher Kräfte und
Mächte werden. Soll er das nicht werden, so muß er sich die Fähigkeit erwerben,
das sogenannte «innere Wort» zu vernehmen. Um dazu zu kommen, muß nicht nur der
Seelenleib, sondern auch der Ätherleib entwickelt werden. Es ist dies jener
feine Leib, der sich für den Hellseher als eine Art Doppelgänger des physischen
Körpers zeigt. Er ist gewissermaßen eine Zwischenstufe zwischen diesem Körper
und dem Seelenleib. [Man vergleiche zu dieser Darstellung die Schilderung in
des Verfassers «Theosophie».] Ist man mit hellseherischen Fähigkeiten begabt,
so kann man sich mit vollem Bewußtsein den physischen Körper eines Menschen,
der vor einem steht, absuggerieren. Es ist das auf einer höheren Stufe nichts
anderes als eine Übung der Aufmerksamkeit auf einer niedrigeren. So wie der
Mensch seine Aufmerksamkeit von etwas, das vor ihm ist, ablenken kann, so daß
es für ihn nicht da ist, so vermag der Hellseher einen physischen Körper für
seine Wahrnehmung ganz auszulöschen, so daß er für ihn physisch ganz
durchsichtig wird. Vollführt er das mit einem Menschen, der vor ihm steht, dann
bleibt vor seinem seelischen Auge noch der sogenannte Ätherleib vorhanden,
außer dem Seelenleibe, der größer als beide ist und der auch beide durchdringt.
Der Ätherleib hat annähernd die Größe
und Form des physischen Leibes, so daß er ungefähr auch denselben Raum
ausfüllt, den auch der physische Körper einnimmt. Er ist ein äußerst zart und
fein organisiertes Gebilde. [Den Physiker bitte ich, sich an dem Ausdruck
«Ätherleib» nicht zu stoßen. Mit dem Worte «Äther» soll nur die Feinheit des in
Betracht kommenden Gebildes angedeutet werden. Mit dem «Äther» der
physikalischen Hypothesen braucht das hier Angeführte zunächst gar nicht
zusammengebracht werden.] Seine Grundfarbe ist eine andere als die im
Regenbogen enthaltenen sieben Farben. Wer ihn beobachten kann, lernt eine Farbe
kennen, die für die sinnliche Beobachtung eigentlich gar nicht vorhanden ist.
Sie läßt sich am ehesten mit der Farbe der jungen Pfirsichblüte vergleichen.
Will man den Ätherleib ganz allein für sich betrachten, so muß man auch die
Erscheinung des Seelenleibes für die Beobachtung auslöschen durch eine ähnlich
geartete Übung der Aufmerksamkeit wie die oben gekennzeichnete. Tut man dies
nicht, dann verändert sich der Anblick des Ätherleibes durch den ihn ganz
durchdringenden Seelenleib.
Nun sind beim Menschen die Teilchen des Ätherleibes in einer
fortwährenden Bewegung. Zahllose Strömungen durchziehen ihn nach allen Seiten.
Durch diese Strömungen wird das Leben unterhalten und geregelt. Jeder Körper,
der lebt, hat einen solchen
Ätherleib. Die Pflanzen und die Tiere haben ihn auch. Ja, selbst bei den
Mineralien sind Spuren für den aufmerksamen Beobachter wahrnehmbar. – Die genannten
Strömungen und Bewegungen sind zunächst von dem Willen und Bewußtsein des
Menschen ganz unabhängig, wie die Tätigkeit des Herzens oder Magens im
physischen Körper von der Willkür nicht abhängig ist. – Und solange der Mensch
seine Ausbildung im Sinne der Erwerbung übersinnlicher Fähigkeiten nicht in die
Hand nimmt, bleibt diese Unabhängigkeit auch bestehen. Denn gerade darin
besteht die höhere Entwickelung auf einer gewissen Stufe, daß zu den vom
Bewußtsein unabhängigen Strömungen und Bewegungen des Ätherleibes solche
hinzutreten, welche der Mensch in bewußter Weise selbst bewirkt.
Wenn die Geheimschulung so weit
gekommen ist, daß die in den vorhergehenden Abschnitten gekennzeichneten
Lotusblumen sich zu bewegen beginnen, dann hat der Schüler auch bereits manches
von dem vollzogen, was zur Hervorrufung ganz bestimmter Strömungen und
Bewegungen in seinem Ätherkörper führt. Der Zweck dieser Entwickelung ist, daß
sich in der Gegend des physischen Herzens eine Art Mittelpunkt bildet, von dem
Strömungen und Bewegungen in den mannigfaltigsten geistigen Farben und Formen
ausgehen. Dieser Mittelpunkt ist in Wirklichkeit kein bloßer Punkt, sondern ein
ganz kompliziertes Gebilde, ein wunderbares Organ. Es leuchtet und schillert
geistig in den allerverschiedensten Farben und zeigt Formen von großer
Regelmäßigkeit, die sich mit Schnelligkeit verändern können. Und weitere Formen
und Farbenströmungen laufen von diesem Organ nach den Teilen des übrigen
Körpers und auch noch über diesen hinaus, indem sie den ganzen Seelenleib
durchziehen und durchleuchten. Die wichtigsten dieser Strömungen aber gehen zu
den Lotusblumen. Sie durchziehen die einzelnen Blätter derselben und regeln
ihre Drehung; dann strömen sie an den Spitzen der Blätter nach außen, um sich
im äußeren Raum zu verlieren. Je entwickelter ein Mensch ist, desto größer wird
der Umkreis, in dem sich diese Strömungen verbreiten.
In einer besonders nahen
Beziehung steht die zwölfblätterige Lotusblume zu dem geschilderten
Mittelpunkte. In sie laufen unmittelbar die Strömungen ein. Und durch sie
hindurch gehen auf der einen Seite Strömungen zu der sechzehnblätterigen und
der zweiblätterigen, auf der anderen (unteren) Seite zu den acht-, sechs- und
vierblätterigen Lotusblumen. In dieser Anordnung liegt der Grund, warum auf die
Ausbildung der zwölfblätterigen Lotusblume bei der Geheimschulung eine ganz
besondere Sorgfalt verwendet werden muß. Würde hier etwas verfehlt, so müßte
die ganze Ausbildung des Apparates eine unordentliche sein. – Man kann aus dem
Gesagten ermessen, von wie zarter und intimer Art die Geheimschulung ist und
wie genau man vorgehen muß, wenn alles in gehöriger Weise sich entwickeln soll.
Ohne weiteres ist hieraus auch ersichtlich, daß nur derjenige über Anweisung
zur Ausbildung übersinnlicher Fähigkeiten reden kann, der alles, was er an
einem anderen ausbilden soll, selbst an sich erfahren hat und der vollkommen in
der Lage ist zu erkennen, ob seine Anweisungen auch zu dem ganz richtigen
Erfolge führen.
Wenn der Geheimschüler das
ausführt, was ihm durch die Anweisungen vorgeschrieben wird, dann bringt er
seinem Ätherleib solche Strömungen und Bewegungen bei, welche in Harmonie
stehen mit den Gesetzen und der Entwickelung der Welt, zu welcher der Mensch
gehört. Daher sind die Anweisungen stets ein Abbild der großen Gesetze der
Weltentwickelung. Sie bestehen in den erwähnten und ähnlichen Meditations- und
Konzentrationsübungen, welche, gehörig angewendet, die geschilderten Wirkungen
haben. Der Geistesschüler muß in gewissen Zeiten seine Seele ganz mit dem
Inhalte der Übungen durchdringen, sich innerlich gleichsam ganz damit
ausfüllen. Mit Einfachem beginnt es, was vor allem geeignet ist, das
verständige und vernünftige Denken des Kopfes zu vertiefen, zu verinnerlichen.
Dieses Denken wird dadurch frei und unabhängig gemacht von allen sinnlichen
Eindrücken und Erfahrungen. Es wird gewissermaßen in einen Punkt zusammengefaßt, welchen der Mensch ganz in seiner
Gewalt hat. Dadurch wird ein vorläufiger Mittelpunkt
geschaffen für die Strömungen des Ätherleibes. Dieser Mittelpunkt ist zunächst
noch nicht in der Herzgegend, sondern im Kopfe. Dem Hellseher zeigt er sich
dort als Ausgangspunkt von Bewegungen. – Nur eine solche Geheimschulung hat den
vollen Erfolg, welche zuerst diesen Mittelpunkt schafft. Würde gleich vom
Anfang an der Mittelpunkt in die Herzgegend verlegt, so könnte der angehende
Hellseher zwar gewisse Einblicke in die höheren Welten tun; er könnte aber
keine richtige Einsicht in den Zusammenhang dieser höheren Welten mit unserer
sinnlichen gewinnen. Und dies ist für den Menschen auf der gegenwärtigen Stufe
der Weltentwickelung eine unbedingte Notwendigkeit.
Der Hellseher darf nicht zum Schwärmer werden; er muß den festen Boden unter den Füßen behalten.
Der Mittelpunkt im Kopfe wird dann,
wenn er gehörig befestigt ist, weiter nach unten verlegt, und zwar in die
Gegend des Kehlkopfes. Das wird im weiteren Anwenden der Konzentrationsübungen
bewirkt. Dann strahlen die charakterisierten Bewegungen des Ätherleibes von
dieser Gegend aus. Sie erleuchten den Seelenraum in der Umgebung des Menschen.
Ein weiteres Üben befähigt den
Geheimschüler, die Lage seines Ätherleibes selbst zu bestimmen. Vorher ist
diese Lage von den Kräften abhängig, die von außen kommen und vom physischen
Körper ausgehen. Durch die weitere Entwickelung wird der Mensch imstande, den
Ätherleib nach allen Seiten zu drehen. Diese Fähigkeit wird durch Strömungen
bewirkt, welche ungefähr längs der beiden Hände verlaufen und die ihren
Mittelpunkt in der zweiblätterigen Lotusblume in der Augengegend haben. Alles
dies kommt dadurch zustande, daß sich die Strahlungen, die vom Kehlkopf
ausgehen, zu runden Formen gestalten, von denen eine Anzahl zu der
zweiblätterigen Lotusblume hingehen, um von da aus als wellige Strömungen den Weg
längs der Hände zu nehmen. – Eine weitere Folge besteht darin, daß sich diese
Ströme in der feinsten Art verästeln und verzweigen und zu einer Art Geflecht
werden, das wie ein Netzwerk (Netzhaut) zur Grenze des ganzen Ätherleibes sich
umbildet. Während dieser vorher nach außen keinen Abschluß hatte, so daß die
Lebensströme aus dem allgemeinen Lebensmeer unmittelbar aus- und einströmten,
müssen jetzt die Einwirkungen von außen dieses Häutchen durchlaufen. Dadurch
wird der Mensch für diese äußeren Strömungen
empfindlich. Sie werden ihm wahrnehmbar. – Nunmehr ist auch der Zeitpunkt
gekommen, um dem ganzen Strom- und Bewegungssystem den Mittelpunkt in der
Herzgegend zu geben. Das geschieht wieder durch die Fortsetzung der
Konzentrations- und Meditationsübung. Und damit ist auch die Stufe erreicht,
auf welcher der Mensch mit dem «inneren
Wort» begabt wird. Alle Dinge erhalten nunmehr für den Menschen eine neue
Bedeutung. Sie werden gewissermaßen in ihrem innersten Wesen geistig hörbar;
sie sprechen von ihrem eigentlichen Wesen zu dem Menschen. Die gekennzeichneten
Strömungen setzen ihn mit dem Innern der Welt in Verbindung, zu welcher er
gehört. Er beginnt das Leben seiner Umgebung mitzuerleben und kann es in der
Bewegung seiner Lotusblumen nachklingen lassen.
Damit betritt der Mensch die
geistige Welt. Ist er so weit, so gewinnt er ein neues Verständnis für
dasjenige, was die großen Lehrer der Menschheit gesprochen haben. Buddhas Reden
und die Evangelien zum Beispiel wirken jetzt in einer neuen Art auf ihn ein.
Sie durchströmen ihn mit einer Seligkeit, die er vorher nicht geahnt hat. Denn
der Ton ihrer Worte folgt den Bewegungen und Rhythmen, die er nun selbst in
sich ausgebildet hat. Er kann es jetzt unmittelbar wissen, daß ein solcher Mensch wie Buddha oder die
Evangelienschreiber nicht ihre Offenbarungen,
sondern diejenigen aussprechen, welche ihnen zugeflossen sind vom innersten
Wesen der Dinge. – Es soll hier auf eine Tatsache aufmerksam gemacht werden,
die wohl nur aus dem Vorhergehenden verständlich wird. Den Menschen unserer
gegenwärtigen Bildungsstufe sind die vielen Wiederholungen in Buddhas Reden
nicht recht begreiflich. Dem Geheimschüler werden sie zu etwas, worauf er gern
mit seinem inneren Sinne ruht. Denn sie entsprechen gewissen Bewegungen rhythmischer
Art im Ätherleib. Die Hingabe an sie in vollkommener innerer Ruhe bewirkt auch
ein Zusammenklingen mit solchen Bewegungen. Und weil diese Bewegungen ein
Abbild sind bestimmter Weltrhythmen, die auch in gewissen Punkten Wiederholung
und regelmäßige Rückkehr zu früheren darstellen, so lebt sich im Hinhören auf
die Weise Buddhas der Mensch in den Zusammenhang mit den Weltgeheimnissen
hinein.
In der Geisteswissenschaft wird
von vier Eigenschaften gesprochen,
welche sich der Mensch auf dem sogenannten Prüfungspfade erwerben muß, um zu
höherer Erkenntnis aufzusteigen. Es ist die erste
davon die Fähigkeit, in den Gedanken das Wahre von der Erscheinung zu
scheiden, die Wahrheit von der bloßen Meinung. Die zweite Eigenschaft ist die richtige Schätzung des Wahren und
Wirklichen gegenüber der Erscheinung. Die dritte
Fähigkeit besteht in der – schon im vorigen Kapitel erwähnten – Ausübung
der sechs Eigenschaften: Gedankenkontrolle, Kontrolle der Handlungen,
Beharrlichkeit, Duldsamkeit, Glaube und Gleichmut. Die vierte ist die Liebe zur inneren Freiheit.
Ein bloßes verstandesmäßiges
Begreifen dessen, was in diesen Eigenschaften liegt, nützt gar nichts. Sie
müssen der Seele so einverleibt werden, daß sie innere Gewohnheiten begründen. Man nehme zum Beispiel die erste
Eigenschaft: Die Unterscheidung des Wahren von der Erscheinung. Der Mensch muß
sich so schulen, daß er bei jeglichem Dinge, das ihm gegenübertritt, ganz wie
selbstverständlich unterscheidet zwischen dem, was unwesentlich ist, und dem,
was Bedeutung hat. Man kann sich so nur schulen, wenn man in aller Ruhe und
Geduld bei seinen Beobachtungen der Außenwelt immer wieder die dahin gehenden
Versuche macht. Zuletzt haftet in natürlicher Weise der Blick ebenso an dem
Wahren, wie er vorher an dem Unwesentlichen sich befriedigt hat. «Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis»: diese Wahrheit wird zu einer
selbstverständlichen Überzeugung der Seele. Und so wird es mit den anderen der
genannten vier Eigenschaften zu halten sein.
Nun verwandelt sich tatsächlich
der feine Ätherleib des Menschen unter dem Einfluß dieser vier
Seelengewohnheiten. Durch die erste «Unterscheidung des Wahren von der
Erscheinung» wird der gekennzeichnete Mittelpunkt im Kopfe erzeugt und der im
Kehlkopf vorbereitet. Zur wirklichen Ausbildung
sind dann allerdings die Konzentrationsübungen notwendig, von denen oben
gesprochen worden ist. Sie bilden aus, und die vier Gewohnheiten bringen zur
Reife. – Ist der Mittelpunkt in der Gegend des Kehlkopfes vorbereitet, dann
wird jene angedeutete freie Beherrschung des Ätherleibes und sein Überziehen
und Begrenzen mit dem Netzhautgeflecht bewirkt durch die richtige Schätzung des Wahren gegenüber der
unwesentlichen Erscheinung. Bringt es der Mensch zu solcher Schätzung, dann
werden ihm allmählich die geistigen Tatsachen wahrnehmbar. Er soll aber nicht
glauben, daß er bloß Handlungen zu vollziehen hat, welche vor einer
verstandesmäßigen Schätzung als bedeutungsvoll erscheinen. Die geringste
Handlung, jeder kleine Handgriff hat etwas Bedeutungsvolles im großen Haushalte
des Weltganzen, und es kommt nur darauf an, ein Bewußtsein von dieser Bedeutung zu haben. Nicht auf Unterschätzung,
sondern auf richtige Einschätzung der
alltäglichen Verrichtungen des Lebens kommt es an. – Von den sechs Tugenden, aus
denen sich die dritte Eigenschaft zusammensetzt, ist bereits gesprochen worden.
Sie hängen zusammen mit der Ausbildung der zwölfblätterigen Lotusblume in der
Herzgegend. Dahin muß ja, wie gezeigt worden ist, in der Tat der Lebensstrom
des Ätherleibes geleitet werden. Die vierte Eigenschaft: das Verlangen nach Befreiung, dient dann
dazu, das Ätherorgan in der Nähe des Herzens zur Reifung zu bringen. Wird diese
Eigenschaft zur Seelengewohnheit, dann befreit
sich der Mensch von allem, was nur mit
den Fähigkeiten seiner persönlichen Natur zusammenhängt. Er hört auf, die Dinge
von seinem Sonderstandpunkte aus zu
betrachten. Die Grenzen seines engen Selbst, die ihn an diesen Standpunkt
fesseln, verschwinden. Die Geheimnisse der geistigen Welt erhalten Zugang zu seinem
Inneren. Dies ist die Befreiung. Denn jene Fesseln zwingen den Menschen, die
Dinge und Wesen so anzusehen, wie es seiner persönlichen Art entspricht. Von
dieser persönlichen Art, die Dinge zu betrachten, muß der Geheimschüler
unabhängig, frei werden.
Man sieht hieraus, daß die
Vorschriften, welche von der Geisteswissenschaft ausgehen, tief in die innerste
Menschennatur hinein bestimmend wirken. Und die Vorschriften über die vier
genannten Eigenschaften sind solche Vorschriften. Sie finden sich in der einen
oder der anderen Form in allen mit der Geisteswelt rechnenden Weltanschauungen.
Nicht aus einem dunklen Gefühl heraus haben die Begründer solcher
Weltanschauungen solche Vorschriften den Menschen gegeben. Sie haben das
vielmehr aus dem Grunde getan, weil sie große Eingeweihte waren. Aus der
Erkenntnis heraus haben sie ihre sittlichen Vorschriften geformt. Sie wußten,
wie diese auf die feinere Natur des Menschen wirken, und wollten, daß die
Bekenner diese feinere Natur allmählich zur Ausbildung bringen. Im Sinne
solcher Weltanschauungen leben, heißt an seiner eigenen geistigen
Vervollkommnung arbeiten. Und nur wenn der Mensch das tut, dient er dem
Weltganzen. Sich vervollkommnen ist keineswegs Selbstsucht. Denn der
unvollkommene Mensch ist auch ein unvollkommener Diener der Menschheit und der
Welt. Man dient dem Ganzen um so besser, je vollkommener man selbst ist. Hier
gilt es: «Wenn die Rose selbst sich schmückt, schmückt sie auch den Garten.»
Die Begründer der
bedeutungsvollen Weltanschauungen sind dadurch die großen Eingeweihten. Das,
was von ihnen kommt, fließt in die Menschenseelen hinein. Und dadurch kommt mit
der Menschheit die ganze Welt vorwärts. Ganz bewußt haben die Eingeweihten an
diesem Entwickelungsprozeß der Menschheit gearbeitet. Nur dann versteht man den
Inhalt ihrer Anweisungen, wenn man beachtet, daß diese aus der Erkenntnis der
tiefinnersten Menschennatur heraus geschöpft sind. Große Erkenner waren die Eingeweihten, und aus ihrer Erkenntnis heraus
haben sie die Ideale der Menschheit geprägt. Der Mensch aber kommt diesen
Führern nahe, wenn er sich in seiner eigenen Entwickelung zu ihren Höhen
erhebt.
Wenn bei einem Menschen die
Ausbildung des Ätherleibes in der Art begonnen hat, wie das im Vorangegangenen
beschrieben ist, dann erschließt sich ihm ein völlig neues Leben. Und er muß
durch die Geheimschulung zur richtigen Zeit die Aufklärungen erhalten, welche
ihn befähigen, sich in diesem neuen Leben zurechtzufinden. Er sieht zum
Beispiel durch die sechzehnblätterige Lotusblume geistig Gestalten einer
höheren Welt. Nun muß er sich klarmachen, wie verschieden diese Gestalten sind,
je nachdem sie von diesen oder jenen Gegenständen oder Wesen verursacht sind.
Das erste, worauf er die Aufmerksamkeit wenden kann, ist, daß er auf eine
gewisse Art dieser Gestalten durch seine eigenen Gedanken und Empfindungen
einen starken Einfluß ausüben kann, auf andere gar nicht oder doch nur in
geringem Maße. Eine Art der Figuren ändert sich sofort, wenn der Betrachter bei
ihrem Auftreten den Gedanken hat: «das ist schön», und dann im Laufe der
Anschauung diesen Gedanken ändert in diesen: «das ist nützlich». – Besonders
haben die Gestalten, welche von Mineralien oder künstlich gemachten
Gegenständen herrühren, die Eigentümlichkeit, daß sie sich durch jeden Gedanken
oder jedes Gefühl, das ihnen der Beschauer entgegenbringt, ändern. In
geringerem Maße ist das schon der Fall bei den Gestalten, welche Pflanzen
zukommen; und noch weniger findet es statt bei denen, welche Tieren
entsprechen. Auch diese Gestalten sind beweglich und voll Leben. Aber diese
Beweglichkeit rührt nur zum Teil von dem Einfluß der menschlichen Gedanken und
Empfindungen her, zum anderen Teile wird sie durch Ursachen bewirkt, auf welche
der Mensch keinen Einfluß hat. Nun tritt aber innerhalb dieser ganzen
Gestaltenwelt eine Sorte von Formen auf, welche der Einwirkung von seiten des
Menschen selbst zunächst fast ganz entzogen sind. Der Geheimschüler kann sich
davon überzeugen, daß diese Gestalten weder von Mineralien noch von künstlichen
Gegenständen, auch nicht von Pflanzen oder Tieren herrühren. Er muß nun, um
völlig ins klare zu kommen, die Gestalten betrachten, von denen er wissen kann,
daß sie durch die Gefühle, Triebe, Leidenschaften und so weiter von anderen
Menschen verursacht werden. Aber auch diesen Gestalten gegenüber kann er
finden, daß seine eigenen Gedanken und Empfindungen noch einigen, wenn auch
verhältnismäßig geringen Einfluß haben. Es bleibt innerhalb der Gestaltenwelt
immer ein Rest, auf den dieser Einfluß verschwindend gering ist.
Ja, dieser Rest bildet im Anfange
der Laufbahn des Geheimschülers sogar einen sehr großen Teil dessen, was er
überhaupt sieht. Über die Natur dieses Teiles kann er sich nun nur aufklären,
wenn er sich selbst beobachtet. Da
findet er, welche Gestalten durch ihn selbst bewirkt worden sind. Das, was er
selbst tut, will, wünscht und so weiter, kommt in diesen Gestalten zum
Ausdruck. Ein Trieb, der in ihm wohnt, eine Begierde, die er hat, eine Absicht,
die er hegt, und so weiter: alles das zeigt sich in solchen Gestalten. Ja, sein
ganzer Charakter prägt sich in einer solchen Gestaltenwelt aus. Der Mensch kann
somit durch seine bewußten Gedanken und Gefühle einen Einfluß auf alle
Gestalten ausüben, welche nicht von ihm selbst ausgehen; auf diejenigen Figuren
aber, die er durch sein eigenes Wesen in der höheren Welt bewirkt, hat er
keinen Einfluß mehr, sobald sie durch ihn geschaffen worden sind. Es geht nun
aus dem Gesagten auch hervor, daß in der höheren Anschauung das menschliche
Innere, die eigene Trieb-, Begierden- und Vorstellungswelt sich genauso in äußeren Figuren zeigt wie andere
Gegenstände und Wesenheiten. Die Innenwelt wird für die höhere Erkenntnis zu
einem Teile der Außenwelt. Wie wenn man in der physischen Welt von allen Seiten
mit Spiegeln umgeben wäre und so seine leibliche Gestalt beschauen könnte, so
tritt in einer höheren Welt die seelische Wesenheit des Menschen diesem als
Spiegelbild entgegen.
Auf dieser Entwickelungsstufe ist
für den Geheimschüler der Zeitpunkt eingetreten, in dem er die Illusion, welche
aus der persönlichen Begrenztheit stammt, überwindet. Er kann jetzt das, was
innerhalb seiner Persönlichkeit ist, beobachten als Außenwelt, wie er früher
als Außenwelt betrachtete, was auf seine Sinne einwirkte. So lernt er
allmählich durch die Erfahrung sich so behandeln, wie er früher die Wesen um
sich her behandelte.
Würde des Menschen Blick in diese
Geisteswelten geöffnet, ehe er in genügender Art auf deren Wesen vorbereitet
worden ist, so stünde er zunächst vor dem charakterisierten Gemälde seiner
eigenen Seele wie vor einem Rätsel. Die Gestalten seiner eigenen Triebe und
Leidenschaften treten ihm da entgegen in Formen, welche er als tierische oder –
seltener – auch als menschliche empfindet. Zwar sind die Tiergestalten dieser
Welt niemals ganz gleich denen der physischen Welt, aber sie haben doch eine
entfernte Ähnlichkeit. Von ungeübten Beobachtern werden sie wohl auch für
gleich gehalten. – Man muß sich nun, wenn man diese Welt betritt, eine ganz
neue Art des Urteilens aneignen. Denn abgesehen davon, daß die Dinge, die
eigentlich dem menschlichen Innern angehören, als Außenwelt erscheinen, treten
sie auch noch als das Spiegelbild dessen auf, was sie wirklich sind. Wenn man
zum Beispiel eine Zahl da erblickt, so muß man sie umgekehrt als Spiegelbild
lesen. 265 zum Beispiel bedeutet in
Wahrheit hier 562. Eine Kugel sieht
man so, wie wenn man in ihrem Mittelpunkt wäre. Man hat sich dann diese
Innenansicht erst in der richtigen Art zu übersetzen. Aber auch seelische Eigenschaften
erscheinen als Spiegelbild. Ein Wunsch, der sich auf etwas Äußeres bezieht,
tritt als eine Gestalt auf, die zu dem Wünschenden selbst sich hinbewegt.
Leidenschaften, welche in der niederen Natur des Menschen ihren Sitz haben,
können die Form von Tieren oder ähnliche Gestaltungen annehmen, die sich auf
den Menschen losstürzen. In Wirklichkeit streben ja diese Leidenschaften nach
außen; sie suchen den Gegenstand ihrer Befriedigung in der Außenwelt. Aber
dieses Suchen nach außen stellt sich im Spiegelbild
als Angriff auf den Träger der Leidenschaft dar.
Wenn der Geheimschüler, bevor er
zu höherem Schauen aufsteigt, durch ruhige, sachliche Selbstbeobachtung seine
eigenen Eigenschaften selber kennengelernt hat, dann wird er auch in dem
Augenblicke, da ihm sein Inneres im äußeren Spiegelbilde entgegentritt, Mut und
Kraft finden, um sich in der richtigen Art zu verhalten. Menschen, welche sich
durch solche Selbstprüfung nicht genügend mit dem eigenen Inneren bekannt
gemacht haben, werden sich in ihrem
Spiegelbilde nicht erkennen und dieses dann für fremde Wirklichkeit halten.
Auch werden sie durch den Anblick ängstlich und reden sich, weil sie die Sache
nicht ertragen können, ein, das Ganze sei nur phantastisches Erzeugnis, das zu
nichts führen könne. In beiden Fällen stünde der Mensch durch sein unreifes
Ankommen auf einer gewissen Entwickelungsstufe der eigenen höheren Ausbildung
verhängnisvoll im Wege.
Es ist durchaus notwendig, daß der
Geheimschüler durch den geistigen Anblick seiner eigenen Seele hindurchgehe, um
zu Höherem vorzudringen. Denn im eigenen Selbst hat er ja doch dasjenige
Geistig-Seelische, das er am besten beurteilen kann. Hat er sich von seiner
Persönlichkeit in der physischen Welt zunächst eine tüchtige Erkenntnis
erworben und tritt ihm zuerst das Bild dieser Persönlichkeit in der
höheren Welt entgegen, dann kann er beides vergleichen. Er kann das Höhere auf
ein ihm Bekanntes beziehen und vermag so von einem festen Boden auszugehen.
Wenn ihm dagegen noch so viele andere geistige Wesenheiten entgegenträten, so
vermöchte er sich doch über ihre Eigenart und Wesenheit zunächst keinen
Aufschluß zu geben. Er würde bald den Boden unter den Füßen schwinden fühlen.
Es kann daher gar nicht oft genug betont werden, daß der sichere Zugang zur
höheren Welt derjenige ist, der über die gediegene Erkenntnis und Beurteilung
der eigenen Wesenheit führt.
Geistige Bilder sind es also, welchen der Mensch zunächst auf seiner Bahn
zur höheren Welt begegnet. Denn die Wirklichkeit, welche diesen Bildern
entspricht, ist ja in ihm selbst. Reif
muß demnach der Geheimschüler sein, um auf dieser ersten Stufe nicht derbe
Realitäten zu verlangen, sondern die Bilder als das Richtige zu betrachten.
Aber innerhalb dieser Bilderwelt
lernt er bald etwas Neues kennen. Sein niederes
Selbst ist nur als Spiegelgemälde vor ihm vorhanden; aber mitten in diesem
Spiegelgemälde erscheint die wahre Wirklichkeit des höheren Selbst. Aus dem Bilde der niederen Persönlichkeit heraus
wird die Gestalt des geistigen Ich sichtbar. Und erst von dem letzteren aus
spinnen sich die Fäden zu anderen höheren geistigen Wirklichkeiten.
Und nun ist die Zeit gekommen, um
die zweiblätterige Lotusblume in der Augengegend zu gebrauchen. Fängt sie an
sich zu bewegen, so findet der Mensch die Möglichkeit, sein höheres Ich mit
übergeordneten geistigen Wesenheiten in Verbindung zu setzen. Die Ströme,
welche von dieser Lotusblume ausgehen, bewegen sich so zu höheren
Wirklichkeiten hin, daß die entsprechenden Bewegungen dem Menschen völlig bewußt
sind. Wie das Licht dem Auge die physischen Gegenstände sichtbar macht, so
diese Strömungen die geistigen Wesen höherer Welten.
Durch Versenkung in der
Geisteswissenschaft entstammendc Vorstellungen, welche Grundwahrheiten
enthalten, lernt der Schüler die Strömungen der Augenlotusblume in Bewegung
setzen und dirigieren.
Was gesunde Urteilskraft, klare,
logische Schulung ist, das erweist sich ganz besonders auf dieser Stufe der
Entwickelung. Man muß nur bedenken, daß da das höhere Selbst, das bisher
keimhaft, unbewußt im Menschen geschlummert hat, zu bewußtem Dasein geboren
wird. Nicht etwa bloß im bildlichen, sondern in ganz wirklichem Sinne hat man
es mit einer Geburt in der geistigen
Welt zu tun. Und das geborene Wesen, das höhere Selbst, muß mit allen
notwendigen Organen und Anlagen zur Welt kommen, wenn es lebensfähig sein soll.
Wie die Natur vorsorgen muß, daß ein Kind mit wohlgebildeten Ohren und Augen
zur Welt komme, so müssen die Gesetze der Eigenentwickelung eines Menschen
Sorge tragen, daß sein höheres Selbst mit den notwendigen Fähigkeiten ins
Dasein trete. Und diese Gesetze, welche die Ausbildung der höheren Organe des
Geistes selbst besQrgen, sind keine anderen als die gesunden Vernunft- und
Moralgesetze der physischen Welt. Wie im Mutterschoße das Kind reift, so im
physischen Selbst der geistige Mensch. Die Gesundheit des Kindes hängt von
normaler Wirksamkeit der Naturgesetze im Mutterschoße ab. Die Gesundheit des
geistigen Menschen ist in gleicher Art von den Gesetzen des gewöhnlichen Verstandes
und der im physischen Leben wirksamen Vernunft bedingt. Niemand kann ein
gesundes höheres Selbst gebären, der nicht in der physischen Welt gesund lebt
und denkt. Natur- und vernunftgemäßes Leben sind die Grundlage aller wahren
Geistesentwickelung. – Wie das Kind im Schoße der Mutter schon nach den
Naturkräften lebt, die es nach seiner Geburt mit seinen Sinnesorganen
wahrnimmt, so lebt das höhere Selbst des Menschen nach den Gesetzen der
geistigen Welt schon während des physischen Daseins. Und wie das Kind aus einem
dunklen Lebensgefühl heraus sich die entsprechenden Kräfte aneignet, so kann es
der Mensch mit den Kräften der geistigen Welt, bevor sein höheres Selbst
geboren wird. Ja, er muß dies tun,
wenn dies letztere als vollentwickeltes Wesen zur Welt kommen soll. Es wäre
nicht richtig, wenn jemand sagte: ich kann die Lehren der Geisteswissenschaft
nicht annehmen, bevor ich nicht selbst sehe. Denn ohne die Vertiefung in die
Geistesforschung kann er überhaupt nicht zu wahrer höherer Erkenntnis kommen.
Er wäre dann in derselben Lage wie ein Kind im Mutterschoße, das verweigerte,
die Kräfte zu gebrauchen, die ihm durch die Mutter zukommen, und warten wollte,
bis es sich dieselben selbst verschaffen kann. So wie der Kindeskeim im
Lebensgefühl die Richtigkeit des Dargereichten erfährt, so der noch nicht
sehende Mensch die Wahrheit der Lehren der Geisteswissenschaft. Es gibt eine
Einsicht, die auf Wahrheitsgefühl und klare, gesunde, allseitig urteilende
Vernunft gebaut ist, in diese Lehren, auch wenn man die geistigen Dinge noch
nicht schaut. Man muß die mystischen Erkenntnisse zuerst lernen und sich eben
gerade durch dieses Lernen zum Schauen vorbereiten. Ein Mensch, der zum Schauen
käme, bevor er in dieser Art gelernt hat, gliche einem Kinde, das wohl mit
Augen und Ohren, aber ohne Gehirn geboren wäre. Es breitete sich die ganze
Farben- und Tonwelt vor ihm aus; aber es könnte nichts damit anfangen.
Was also dem Menschen vorher
durch sein Wahrheitsgefühl, durch Verstand und Vernunft einleuchtend war, das
wird auf der geschilderten Stufe der Geheimschülerschaft eigenes Erlebnis. Er
hat jetzt ein unmittelbares Wissen von seinem höheren Selbst. Und er lernt
erkennen, daß dieses höhere Selbst mit geistigen Wesenheiten höherer Art
zusammenhängt und mit ihnen eine Einheit bildet. Er sieht also, wie das niedere
Selbst aus einer höheren Welt herstammt. Und es zeigt sich ihm, daß seine
höhere Natur die niedere überdauert. Er kann nunmehr selbst sein Vergängliches
von seinem Bleibenden unterscheiden. Das heißt nichts anderes, als er lernt die
Lehre von der Einkörperung (Inkarnation) des höheren Selbst in ein niederes aus
eigener Anschauung verstehen. Es wird ihm jetzt klar, daß er in einem höheren
geistigen Zusammenhange darinnen steht, daß seine Eigenschaften, seine
Schicksale durch diesen Zusammenhang verursacht sind. Er lernt das Gesetz seines Lebens, Karma, erkennen.
Er sieht ein, daß sein niederes Selbst, wie es gegenwärtig sein Dasein
ausmacht, nur eine der Gestalten ist, die sein höheres Wesen annehmen kann. Und
er erblickt die Möglichkeit vor sich, von seinem höheren Selbst aus an sich zu
arbeiten, auf daß er vollkommener und immer vollkommener werde. Er kann nunmehr
auch die großen Unterschiede der Menschen hinsichtlich ihrer
Vollkommenheitsgrade einsehen. Er wird gewahr, daß es über ihm stehende
Menschen gibt, welche die noch vor ihm liegenden Stufen schon erreicht haben.
Er sieht ein, daß die Lehren und Taten solcher Menschen von den Eingebungen aus
einer höheren Welt herrühren. Dies verdankt er seinem ersten eigenen Blick in
diese höhere Welt. Was man «große Eingeweihte der Menschheit» nennt, wird jetzt
beginnen, für ihn Tatsache zu werden.
Das sind die Gaben, die der
Geheimschüler dieser Stufe seiner Entwickelung verdankt: Einsicht in das höhere
Selbst, in die Lehre von der Einkörperung oder Inkarnation dieses höheren
Selbst in ein niederes, in das Gesetz, wonach das Leben in der physischen Welt
geregelt wird nach geistigen Zusammenhängen – Karmagesetz –, und endlich in das
Dasein großer Eingeweihter.
Man sagt deshalb auch von einem
Schüler, der diese Stufe erreicht hat, daß ihm der Zweifel völlig geschwunden sei. Konnte er sich vorher einen auf
Vernunftgründe und gesundes Denken gebauten Glauben aneignen, so tritt jetzt an
die Stelle dieses Glaubens das volle Wissen und die durch nichts zu
erschütternde Einsicht.
Die Religionen haben in ihren
Zeremonien, Sakramenten und Riten äußerlich sichtbare Abbilder höherer
geistiger Vorgänge und Wesen gegeben. Nur wer die Tiefen der großen Religionen
noch nicht durchschaut hat, kann diese verkennen. Wer aber in die geistige
Wirklichkeit selbst hineinschaut, der wird auch die große Bedeutung jener
äußerlich sichtbaren Handlungen verstehen. Und für ihn wird dann der religiöse
Dienst selbst ein Abbild seines Verkehrs mit der geistig übergeordneten Welt.
Man sieht, in welcher Art der
Geheimschüler durch Erreichung dieser Stufe wirklich ein neuer Mensch geworden
ist. Er kann nun allmählich dazu heranreifen, durch die Strömungen seines
Ätherkörpers das eigentliche höhere Lebenselement zu dirigieren und damit eine
hohe Freiheit von seinem physischen Körper zu erlangen.
Eine Ankündigung, daß der
Geheimschüler die im vorigen Kapitel beschriebene Stufe der Entwickelung
erreicht hat oder doch bald erreichen werde, ist die Veränderung, die mit
seinem Traumleben vorgeht. Vorher waren die Träume verworren und willkürlich.
Nun fangen sie an, einen regelmäßigen Charakter anzunehmen. Ihre Bilder werden
sinnvoll zusammenhängend wie die Vorstellungen des Alltagslebens. Man kann in
ihnen Gesetz, Ursache und Wirkung erkennen. Und auch der Inhalt der Träume
ändert sich. Während man vorher nur Nachklänge des täglichen Lebens, umgeformte
Eindrücke der Umgebung oder der eigenen Körperzustände wahrnimmt, treten jetzt
Bilder aus einer Welt auf, mit der man vorher unbekannt war. Zunächst bleibt
allerdings der allgemeine Charakter des
Traumlebens bestehen, insofern sich der Traum vom wachen Vorstellen dadurch
unterscheidet, daß er sinnbildlich dasjenige
gibt, was er ausdrücken will. Einem aufmerksamen Beurteiler des Traumlebens
kann ja diese Sinnbildlichkeit nicht entgehen. Man träumt zum Beispiel davon,
daß man ein häßliches Tier gefangen und ein unangenehmes Gefühl in der Hand hat.
Man wacht auf und merkt, daß man einen Zipfel der Bettdecke mit der Hand
umschlossen hält. Die Wahrnehmung drückt sich also nicht ungeschminkt aus,
sondern durch das gekennzeichnete Sinnbild. –Oder man träumt, daß man vor einem
Verfolger flieht; man empfindet dabei Angst. Beim Aufwachen zeigt sich, daß man
von Herzklopfen während des Schlafes befallen war. Der Magen, welcher mit
schwerverdaulichen Speisen erfüllt ist, verursacht beängstigende Traumbilder.
Auch Vorgänge in der Umgebung des schlafenden Menschen spiegeln sich im Traume
als Sinnbilder. Das Schlagen einer Uhr kann das Bild eines Soldatentrupps
hervorrufen, der bei Trommelschlag vorbeimarschiert. Ein umfallender Stuhl kann
die Veranlassung zu einem ganzen Traumdrama sein, in dem der Schlag sich als
Schuß widerspiegelt und so weiter. – Diese sinnbildliche Art des Ausdruckes hat
nun auch der geregelte Traum des Menschen, dessen Ätherkörper sich zu
entwickeln beginnt. Aber er hört auf, bloße Tatsachen der physischen Umgebung
oder des eigenen sinnlichen Leibes widerzuspiegeln. So wie diejenigen Träume
regelmäßig werden, welche diesen Dingen ihren Ursprung verdanken, so mischen
sich auch solche Traumbilder ein, die Ausdruck von Dingen und Verhältnissen
einer anderen Welt sind. Hier werden zuerst Erfahrungen gemacht, welche dem
gewöhnlichen Tagesbewußtsein unzugänglich sind. – Nun darf man keineswegs
glauben, daß irgendein wahrer Mystiker die Dinge, die er in solcher Art
traumhaft erlebt, zur Grundlage irgendwelcher maßgebenden Mitteilungen einer
höheren Welt schon macht. Nur als die ersten Anzeichen einer höheren Entwickelung hat man solche Traumerlebnisse
zu betrachten. – Bald tritt auch als weitere Folge die Tatsache ein, daß die
Bilder des träumenden Geheimschülers nicht mehr wie früher der Leitung des
besonnenen Verstandes entzogen sind, sondern von diesem geregelt und
ordnungsgemäß überschaut werden wie die Vorstellungen und Empfindungen des
Wachbewußtseins. Es verschwindet eben immer mehr und mehr der Unterschied
zwischen dem Traumbewußtsein und diesem Wachzustand. Der Träumende ist im
vollen Sinne des Wortes während des Traumlebens wach; das heißt, er fühlt sich
als Herr und Führer seiner bildhaften Vorstellungen.
Während des Träumens befindet
sich der Mensch tatsächlich in einer Welt, welche von derjenigen seiner
physischen Sinne verschieden ist. Nur vermag der Mensch mit unentwickelten
geistigen Organen sich von dieser Welt keine anderen als die gekennzeichneten
verworrenen Vorstellungen zu bilden. Sie ist für ihn nur so vorhanden, wie die
sinnliche Welt für ein Wesen da wäre, das höchstens die allerersten Anlagen von
Augen hat. Deshalb kann der Mensch auch nichts sehen in dieser Welt als die
Nachbilder und Widerspiegelungen des gewöhnlichen Lebens. Diese kann er aber
aus dem Grunde im Traume sehen, weil seine Seele ihre Tageswahmehmungen selbst
als Bilder in den Stoff hineinmalt, aus dem jene andere Welt besteht. Man muß
sich nämlich klar darüber sein, daß der Mensch neben seinem gewöhnlichen
bewußten Tagesleben noch ein zweites, unbewußtes, in der angedeuteten anderen
Welt führt. Alles, was er wahrnimmt und denkt, gräbt er in Abdrücken in diese
Welt ein. Man kann diese Abdrucke eben nur sehen, wenn die Lotusblumen
entwickelt sind. Nun sind bei jedem Menschen gewisse spärliche Anlagen der Lotusblumen
immer vorhanden. Während des Tagesbewußtseins kann er damit nichts wahrnehmen,
weil die Eindrücke auf ihn ganz schwach sind. Es ist dies aus einem ähnlichen
Grunde, warum man während des Tages die Sterne nicht sieht. Sie kommen für die
Wahrnehmungen gegenüber dem mächtig wirkenden Sonnenlicht nicht auf. So kommen
die schwachen geistigen Eindrücke gegenüber den machtvollen Eindrücken der
physischen Sinne nicht zur Geltung. Wenn nun im Schlaf die Tore der äußeren
Sinne geschlossen sind, so leuchten diese Eindrücke verworren auf. Und der
Träumende wird dann der in einer anderen Welt gemachten Erfahrungen gewahr.
Aber, wie gesagt, zunächst sind diese Erfahrungen nichts weiter als dasjenige,
was das an die physischen Sinne gebundene Vorstellen selbst in die geistige
Welt eingegraben hat. – Erst die entwickelten Lotusblumen machen es möglich,
daß Kundgebungen, welche nicht der physischen Welt angehören, dort verzeichnet
werden. Und durch den entwickelten Ätherleib entsteht dann ein volles Wissen
von diesen aus anderen Welten herrührenden Einzeichnungen. – Damit hat der
Verkehr des Menschen in einer neuen Welt begonnen. Und der Mensch muß jetzt –
durch die Anleitungen der Geheimschulung – ein Doppeltes zunächst erreichen.
Zuerst muß es ihm möglich werden, ganz vollständig wie im Wachen die im Traume
gemachten Beobachtungen zu gewahren. Hat er dies erreicht, so wird er dazu
geführt, dieselben Beobachtungen auch während des gewöhnlichen Wachzustandes zu
machen. Seine Aufmerksamkeit auf geistige Eindrücke wird da einfach so
geregelt, daß diese Eindrücke gegenüber den physischen nicht mehr zu
verschwinden brauchen, sondern daß er sie neben
und mit diesen immerfort haben kann.
Hat der Geheimschüler diese
Fähigkeit erlangt, dann tritt eben vor seinen geistigen Augen etwas von dem
Gemälde auf, das im vorigen Kapitel beschrieben worden ist. Er kann nunmehr
wahrnehmen, was in der geistigen Welt vorhanden ist als die Ursache für die
physische. Und er kann vor allem sein höheres Selbst innerhalb dieser Welt
erkennen. – Seine nächste Aufgabe ist nun, in dieses höhere Selbst
gewissermaßen hineinzuwachsen, das heißt, es wirklich als seine wahre Wesenheit
anzusehen und auch sich dementsprechend zu verhalten. Immer mehr erhält er nun
die Vorstellung und das lebendige Gefühl davon, daß sein physischer Leib und
was er vorher sein «Ich» genannt hat, nur mehr ein Werkzeug des höheren Ich
ist. Er bekommt eine Empfindung gegenüber dem niederen Selbst, wie es der auf
die Sinnenwelt beschränkte Mensch gegenüber einem Werkzeug oder Fahrzeug hat,
deren er sich bedient. So wie dieser den Wagen, in dem er fährt, nicht zu
seinem «Ich» rechnet, auch wenn er sagt: «Ich fahre» wie «Ich gehe», so hat der
entwickelte Mensch, wenn er sagt: «Ich gehe zur Tür hinein», eigentlich die
Vorstellung: «Ich trage meinen Leib zur Tür hinein.» Nur muß das für ihn ein so
selbstverständlicher Begriff sein, daß er nicht einen Augenblick den festen
Boden der physischen Welt verliert, daß niemals ein Gefühl von Entfremdung
deshalb gegenüber der Sinnenwelt auftritt. Soll der Geheimschüler nicht zum
Schwärmer oder Phantasten werden, so muß er durch das höhere Bewußtsein sein
Leben in der physischen Welt nicht verarmen, sondern bereichern, so wie es
derjenige bereichert, der sich statt seiner Beine eines Eisenbahnzuges bedient,
um einen Weg zu machen.
Hat es der Geheimschüler zu einem
solchen Leben in seinem höheren Ich gebracht, dann – oder vielmehr schon
während der Aneignung des höheren Bewußtseins – wird ihm klar, wie er die
geistige Wahrnehmungskraft in dem in der Herzgegend erzeugten Organ zum Dasein
erwecken und durch die in den vorigen Kapiteln charakterisierten Strömungen
leiten kann. Diese Wahrnehmungskraft ist ein Element von höherer Stofflichkeit,
das von dem genannten Organ ausgeht und in leuchtender Schönheit durch die sich
bewegenden Lotusblumen und auch durch die anderen Kanäle des ausgebildeten
Ätherleibes strömt. Es strahlt von da nach außen in die umgebende geistige Welt
und macht sie geistig sichtbar, wie das von außen auf die Gegenstände fallende
Sonnenlicht diese physisch sichtbar macht.
Wie diese Wahrnehmungskraft im
Herzorgane erzeugt wird, das kann nur allmählich im Ausbilden selbst verstanden
werden.
Deutlich als Gegenstände und
Wesen wahrnehmbar wird die geistige Welt eigentlich erst für einen Menschen,
der in solcher Art das charakterisierte Wahmehmungsorgan durch seinen Ätherleib
und nach der Außenwelt senden kann, um damit die Gegenstände zu beleuchten. –
Man sieht daraus, daß ein vollkommenes Bewußtsein von einem Gegenstande der
geistigen Welt nur unter der Bedingung entstehen kann, daß der Mensch selbst
das Geisteslicht auf ihn wirft. In Wahrheit wohnt nun das «Ich», welches dieses
Wahmehmungsorgan erzeugt, gar nicht im physischen Menschenkörper, sondern, wie
gezeigt worden ist, außerhalb desselben. Das Herzorgan ist nur der Ort, wo der
Mensch von außen her dieses geistige Lichtorgan entfacht. Würde er es nicht
hier, sondern an einem anderen Orte entzünden, so hätten die durch dasselbe
zustande gebrachten geistigen Wahrnehmungen keinen Zusammenhang mit der
physischen Welt. Aber der Mensch soll ja alles höhere Geistige eben auf die
physische Welt beziehen und durch sich in die letztere hereinwirken lassen. Das
Herzorgan ist gerade dasjenige, durch welches das höhere Ich das sinnliche
Selbst zu seinem Werkzeug macht und von dem aus dies letztere gehandhabt wird.
Nun ist die Empfindung, welche der entwickelte Mensch
gegenüber den Dingen der geistigen Welt hat, eine andere als die, welche dem
Sinnenmenschen gegenüber der physischen Welt eigen ist. Der letztere fühlt sich
an einem gewissen Orte der Sinnenwelt, und die wahrgenommenen Gegenstände sind
für ihn «außerhalb». Der geistig entwickelte Mensch dagegen fühlt sich mit dem
geistigen Gegenstande seiner Wahrnehmung wie vereinigt, wie «im Innern»
desselben. Er wandelt in der Tat im Geistesraume von Ort zu Ort. Man nennt ihn
deshalb in der Sprache der Geheimwissenschaft auch den «Wanderer». Er ist
zunächst nirgends zu Hause. – Bliebe er bei dieser bloßen Wanderschaft, dann
könnte er keinen Gegenstand im geistigen Raume wirklich bestimmen. Wie man
einen Gegenstand oder Ort im physischen Raume dadurch bestimmt, daß man von
einem gewissen Punkte ausgeht, so muß das auch in der erreichten anderen Welt
der Fall sein. Man muß sich auch da irgendwo einen Ort suchen, den man zunächst
ganz genau erforscht und geistig für sich in Besitz nimmt. In diesem Orte muß
man sich eine geistige Heimat gründen und dann alles andere zu dieser Heimat in
ein Verhältnis setzen. Auch der in der physischen Welt lebende Mensch sieht ja
alles so, wie es die Vorstellungen seiner physischen Heimat mit sich bringen.
Ein Berliner beschreibt unwillkürlich London anders als ein Pariser. Nur ist es
mit der geistigen Heimat doch anders als mit der physischen. In die letztere
ist man ohne sein Zutun hineingeboren, in ihr hat man während der Jugendzeit
eine Reihe von Vorstellungen instinktiv aufgenommen, von denen fortan alles
unwillkürlich beleuchtet wird. Die geistige Heimat hat man sich aber mit vollem
Bewußtsein selbst gebildet. Man urteilt von ihr ausgehend deshalb auch in
voller lichter Freiheit. Dieses Bilden einer geistigen Heimat nennt man in der
Sprache der Geheimwissenschaft «eine Hütte bauen».
Das geistige Schauen auf dieser Stufe erstreckt sich
zunächst auf die geistigen Gegenbilder der physischen Welt, soweit diese
Gegenbilder in der sogenannten astralen Welt liegen. In dieser Welt befindet
sich alles dasjenige, was seinem Wesen nach gleich den menschlichen Trieben,
Gefühlen, Begierden und Leidenschaften ist. Denn zu allen den Menschen
umgebenden Sinnesdingen gehören auch Kräfte, die mit diesen menschlichen
verwandt sind. Ein Kristall zum Beispiel wird in seine Form gegossen durch
Kräfte, die sich der höheren Anschauung gegenüber ausnehmen wie ein Trieb, der
im Menschen wirkt. Durch ähnliche Kräfte wird der Saft durch die Gefäße der
Pflanze geleitet, werden die Blüten zur Entfaltung, die Samenkapseln zum
Aufspringen gebracht. Alle diese Kräfte gewinnen Form und Farbe für die
entwickelten geistigen Wahmehmungsorgane, wie die Gegenstände der physischen
Welt Form und Farbe für das physische Auge haben. Der Geheimschüler sieht auf
der geschilderten Stufe seiner Entwickelung nicht nur den Kristall, die
Pflanze, sondern auch die gekennzeichneten geistigen Kräfte. Und er sieht die
tierischen und menschlichen Triebe nicht nur durch die physischen
Lebensäußerungen ihrer Träger, sondern auch unmittelbar als Gegenstände, wie er
in der physischen Welt Tische und Stühle sieht. Die ganze Instinkt-, Trieb-,
Wunsch-, Leidenschaftswelt eines Tieres oder Menschen wird zu der astralen
Wolke, in welche das Wesen eingehüllt wird, zur Aura.
Weiter nimmt der Hellseher auf
dieser Stufe seiner Entwickelung auch Dinge wahr, die sich der sinnlichen
Auffassung fast oder vollständig entziehen. Er kann zum Beispiel den astralen
Unterschied merken zwischen einem Raume, der zum großen Teile mit niedrig
gesinnten Menschen erfüllt ist, und einem solchen, in dem hochgesinnte Personen
anwesend sind. In einem Krankenhause ist nicht nur die physische, sondern auch
die geistige Atmosphäre eine andere als in einem Tanzsaale. Eine Handelsstadt
hat eine andere astrale Luft als ein Universitätsort. Zunächst wird das
Wahmehmungsvermögen des hellsehend gewordenen Menschen für solche Dinge nur
schwach entwickelt sein. Es wird sich zu den zuerst genannten Gegenständen so
verhalten wie das Traumbewußtsein des Sinnenmenschen zu seinem Wachbewußtsein.
Aber allmählich wird er auch auf dieser Stufe voll erwachen.
Die höchste Errungenschaft des
Hellsehers, der den charakterisierten Grad des Schauens erreicht hat, ist
diejenige, auf welcher sich ihm die astralen Gegenwirkungen der tierischen und
menschlichen Triebe und Leidenschaften zeigen. Eine liebevolle Handlung hat
eine andere astrale Begleiterscheinung als eine solche, die vom Hasse ausgeht.
Die sinnlose Begierde stellt außer sich selbst noch ein häßliches astrales
Gegenbild dar, die auf Hohes gerichtete Empfindung dagegen ein schönes. Diese
Gegenbilder sind während des physischen Menschenlebens nur schwach zu sehen.
Denn ihre Stärke wird durch das Leben in der physischen Welt beeinträchtigt.
Ein Wunsch nach einem Gegenstande erzeugt zum Beispiel ein solches Spiegelbild
außer dem, als welches dieser Wunsch selbst in der astralen Welt erscheint.
Wird aber der Wunsch durch das Erlangen des physischen Gegenstandes befriedigt
oder ist wenigstens die Möglichkeit zu solcher Befriedigung vorhanden, so wird
das Gegenbild nur ein sehr schwacher Schein sein. Zu seiner vollen Geltung
gelangt es erst nach dem Tode des Menschen, wenn die Seele noch immer, ihrer
Natur nach, solchen Wunsch hegen muß, ihn aber nicht mehr befriedigen kann,
weil der Gegenstand und auch das physische Organ dazu fehlen. Der sinnlich
veranlagte Mensch wird auch nach seinem Tode zum Beispiel die Gier nach
Gaumengenuß haben. Ihm fehlt jetzt aber die Möglichkeit der Befriedigung, da er
doch keinen Gaumen mehr hat. Das hat zur Folge, daß der Wunsch ein besonders
heftiges Gegenbild erzeugt, von dem die Seele dann gequält wird. Man nennt
diese Erfahrungen durch die Gegenbilder der niederen Seelennatur nach dem Tode
die Erlebnisse im Seelenreich, besonders in dem Orte der Begierden. Sie
schwinden erst, wenn die Seele sich geläutert hat von allen nach der physischen
Welt hinzielenden Begierden. Dann steigt diese Seele erst in das höhere Gebiet
(Geisteswelt) auf. – Wenn auch diese Gegenbilder beim noch physisch lebenden
Menschen schwach sind: sie sind doch vorhanden und begleiten ihn als seine
Begierden-Anlage, wie den Kometen sein Schweif begleitet. Und der Hellseher
kann sie sehen, wenn er die entsprechende Entwickelungsstufe erreicht hat.
In solchen Erfahrungen und in
allen denen, welche damit verwandt sind, lebt der Geheimschüler in dem Stadium,
das beschrieben worden ist. Bis zu noch höheren geistigen Erlebnissen kann er
es auf dieser Entwickelungsstufe noch nicht bringen. Er muß von da an noch
höher aufwärts steigen.
Das Leben des Menschen verläuft
im Wechsel von drei Zuständen. Diese sind: Wachsein, traumerfüllter Schlaf und
traumloser tiefer Schlaf. Man kann verstehen, wie man zu den höheren
Erkenntnissen der geistigen Welten gelangt, wenn man sich eine Vorstellung
davon bildet, was für Veränderungen in bezug auf diese drei Zustände bei demjenigen
Menschen vorgehen müssen, der solche Erkenntnis suchen will. Bevor der Mensch
eine Schulung für diese Erkenntnis durchgemacht hat, wird sein Bewußtsein
fortwährend unterbrochen von den Ruhepausen des Schlafes. In diesen Pausen weiß
die Seele nichts von der Außenwelt und auch nichts von sich selbst. Nur für
gewisse Zeiten tauchen aus dem allgemeinen Meere der Bewußtlosigkeit die Träume
auf, welche anknüpfen an Vorgänge der Außenwelt oder an Zustände des eigenen
Leibes. Zunächst sieht man in den Träumen nur eine besondere Äußerung des
Schlaflebens, und man spricht daher wohl überhaupt nur von zwei Zuständen:
Schlafen und Wachen. Für die Geheimwissenschaft aber hat der Traum eine
selbständige Bedeutung neben den beiden anderen Zuständen. Es ist im vorigen Kapitel
beschrieben worden, welche Veränderung in dem Traumleben des Menschen vorgeht,
der den Aufstieg zu höherer Erkenntnis unternimmt. Seine Träume verlieren den
bedeutungslosen, unregelmäßigen und zusammenhanglosen Charakter und werden
immer mehr und mehr zu einer regelerfüllten, zusammenhängenden Welt. Bei
weiterer Entwickelung gibt dann diese aus der Traumwelt geborene neue Welt der
äußeren sinnlichen Wirklichkeit nicht nur an innerer Wahrheit nichts nach,
sondern in ihr offenbaren sich Tatsachen, die im vollen Sinne des Wortes eine
höhere Wirklichkeit darstellen. In der sinnlichen Welt sind nämlich überall
Geheimnisse und Rätsel verborgen. Diese Welt zeigt wohl die Wirkungen gewisser
höherer Tatsachen; allein der Mensch, der seine Wahrnehmung bloß auf seine
Sinne beschränkt, kann nicht zu den Ursachen
dringen. Dem Geheimsehüler offenbaren sich in dem geschilderten, aus dem
Traumleben herausgebildeten, aber keineswegs etwa bei ihm stehenbleibenden
Zustande diese Ursachen teilweise. – Er darf ja allerdings diese Offenbarungen
so lange nicht als wirkliche Erkenntnisse ansehen, als sich ihm noch nicht
während des gewöhnlichen wachen Lebens dieselben Dinge zeigen. Aber auch dazu
gelangt er. Er entwickelt sich dazu, den Zustand, den er erst aus dem Traumleben
sich geschaffen hat, in das wache Bewußtsein herüberzunehmen. Dann ist für ihn
die Sinnenwelt um etwas ganz Neues bereichert. Wie ein Mensch, der, blind
geboren und operiert, nach seinem Sehendwerden die Dinge der Umgebung um all
die Wahrnehmungen des Auges bereichert erkennt, so schaut der auf obige Art
hellsehend gewordene Mensch die ganze ihn umgebende Welt mit neuen
Eigenschaften, Dingen, Wesen und so weiter. Er braucht nunmehr nicht auf den
Traum zu warten, um in einer anderen Welt zu leben, sondern er kann sich zu
höherer Wahrnehmung immer, wenn es angemessen ist, in den geschilderten Zustand
versetzen. Bei ihm hat dann dieser Zustand eine ähnliche Bedeutung, wie im
gewöhnlichen Leben eine solche das Wahrnehmen der Dinge bei tätigen Sinnen
gegenüber dem bei nicht tätigen Sinnen hat. Man kann eben in wahrem Sinne
sagen: der Geheimschüler öffnet die Sinne seiner Seele, und er schaut die
Dinge, welche den leiblichen Sinnen verborgen bleiben müssen.
Dieser Zustand bildet nun nur
einen Übergang zu noch höheren Stufen der Erkenntnis des Geheimschülers. Setzt
dieser die ihm bei seiner Geheimschulung dienenden Übungen fort, so wird er
nach angemessener Zeit finden, daß nicht nur mit seinem Traumleben die
beschriebene durchgreifende Veränderung vorgeht, sondern daß sich die
Verwandlung auch auf den vorher traumlosen tiefen Schlaf ausdehnt. Er merkt,
daß die völlige Bewußtlosigkeit, in welcher er sich früher während dieses
Schlafes befunden hat, unterbrochen wird von vereinzelten bewußten Erlebnissen.
Aus der allgemeinen Finsternis des Schlafes tauchen Wahrnehmungen von einer Art
auf, die er vorher nicht gekannt hat. Es ist natürlich nicht leicht, diese
Wahrnehmungen zu beschreiben, denn unsere Sprache ist ja nur für die Sinneswelt
geschaffen, und man kann daher nur annähernd Worte für das finden, was gar
nicht dieser Sinneswelt angehört. Doch muß man die Worte zur Beschreibung der
höheren Welten zunächst verwenden. Das kann nur dadurch geschehen, daß vieles
in Gleichnissen gesagt wird. Aber da alles in der Welt mit anderem verwandt
ist, so kann dies auch geschehen. Die Dinge und Wesen der höheren Welten sind
mit denen der Sinneswelt wenigstens so weit verwandt, daß bei gutem Willen
immerhin eine Vorstellung von diesen höheren Welten auch durch die für die Sinneswelt
gebräuchlichen Worte erzielt werden kann. Man muß sich nur immer dessen bewußt
bleiben, daß vieles bei solchen Beschreibungen übersinnlicher Welten Gleichnis
und Sinnbild sein muß. – Die Geheimschulung selbst vollzieht sich daher nur zum
Teil in den Worten der gewöhnlichen Sprache; im übrigen lernt der Schüler zu
seinem Aufstieg noch eine sich wie selbstverständlich ergebende sinnbildliche
Ausdrucksart. Man muß sie sich während der Geheimschulung selbst aneignen. Dies
hindert aber nicht, daß man auch durch gewöhnliche Beschreibungen, wie sie hier
gegeben werden, etwas über die Natur der höheren Welten erfährt.
Will man eine Vorstellung geben
von den oben erwähnten Erlebnissen, die zunächst aus dem Meere der
Bewußtlosigkeit während des tiefen Schlafes auftauchen, so kann man sie am
besten mit einer Art von Hören vergleichen.
Von wahrgenommenen Tönen und Worten kann man sprechen. Wie man die Erlebnisse
des Traumschlafes zutreffend als eine Art des Schauens im Vergleiche mit den Wahrnehmungen der Sinne bezeichnen
kann, so lassen sich die Tatsachen des tiefen Schlafes mit den Eindrücken des
Ohres vergleichen. (Als Zwischenbemerkung soll nur gesagt werden, daß das Schauen auch für die geistigen Welten
das Höhere ist. Farben sind auch in dieser
Welt etwas Höheres als Töne und Worte. Aber das, was der Geheimschüler von
dieser Welt bei seiner Schulung zuerst wahrnimmt,
sind eben noch nicht die höheren
Farben, sondern die niederen Töne. Nur weil der Mensch nach seiner allgemeinen
Entwickelung für die Welt schon geeigneter ist, die sich im Traumschlaf
offenbart, nimmt er da sogleich die Farben wahr. Für die höhere Welt, die sich
im Tiefschlaf enthüllt, ist er noch weniger geeignet. Deshalb offenbart sich
diese ihm zunächst in Tönen und Worten; später kann er auch hier zu Farben und
Formen aufsteigen.)
Wenn nun der Geheimschüler merkt,
daß er solche Erlebnisse im tiefen Schlafe hat, dann ist es zunächst seine
Aufgabe, sich dieselben so deutlich und klar wie möglich zu machen. Anfangs
fällt das sehr schwer; denn die Wahrnehmung des in diesem Zustande Erlebten ist
zunächst eine außerordentlich geringe. Man weiß nach dem Erwachen wohl, daß man
etwas erlebt hat; was es aber gewesen ist, darüber bleibt man völlig im
unklaren. Das Wichtigste während dieses Anfangszustandes ist, daß man ruhig und
gelassen bleibt und nicht einen Augenblick in irgendwelche Unruhe und Ungeduld
verfällt. Diese müßten unter allen Umständen nur schädlich wirken. Vor allem
können sie die weitere Entwickelung nie beschleunigen, sondern müssen sie
verzögern. Man muß sich ruhig sozusagen dem überlassen, was einem gegeben oder
geschenkt wird; alles Gewaltsame muß unterbleiben. Kann man in einem Zeitpunkte
Schlaferlebnisse nicht gewahrwerden, so warte man geduldig, bis dieses möglich
sein wird. Denn dieser Augenblick kommt gewiß einmal. Und war man vorher
geduldig und gelassen, so bleibt dann die Wahrnehmungsfähigkeit ein sicherer
Besitz, während sie bei einem gewaltsamen Vorgehen zwar einmal auftreten, aber
sich dann wieder für längere Zeit vollständig verlieren kann.
Ist die Wahrnehmungsfähigkeit
einmal eingetreten und stehen einem die Schlaferlebnisse vollkommen klar und
deutlich vor dem Bewußtsein, dann hat man auf folgendes die Aufmerksamkeit zu
richten. Unter diesen Erlebnissen sind ganz genau zweierlei Arten zu
unterscheiden. Die eine Art wird ganz fremd sein gegenüber all dem, was man
vorher jemals kennengelernt hat. An diesen Erlebnissen mag man zunächst seine
Freude haben; man mag sich an ihnen erbauen; aber man lasse sie im übrigen vorläufig
auf sich beruhen. Sie sind die ersten Vorboten der höheren geistigen Welt, in
welcher man sich erst später zurechtfinden wird. Die andere Art von Erlebnissen
aber wird dem aufmerksamen Betrachter eine gewisse Verwandtschaft mit der
gewöhnlichen Welt zeigen, in welcher er lebt. Worüber er während des Lebens
nachdenkt, was er begreifen möchte an den Dingen seiner Umgebung, aber mit dem
gewöhnlichen Verstande nicht begreifen kann, darüber geben ihm diese
Schlaferlebnisse Aufschluß. Der Mensch denkt während des Alltagslebens über das
nach, was ihn umgibt. Er macht sich Vorstellungen, um den Zusammenhang der
Dinge zu begreifen. Er sucht das durch Begriffe zu verstehen, was seine Sinne
wahrnehmen. Auf solche Vorstellungen und Begriffe beziehen sich die Schlaferlebnisse.
Was früher dunkler, schattenhafter Begriff war, gewinnt etwas Klangvolles,
Lebendiges, das man eben nur mit den Tönen und Worten der Sinneswelt
vergleichen kann. Es wird dem Menschen immer mehr so, wie wenn ihm die Lösung
der Rätsel, über die er nachdenken muß, aus einer höheren Welt in Tönen und
Worten zugeraunt würde. Und er vermag dann dasjenige, was ihm aus einer anderen
Welt zukommt, mit dem gewöhnlichen Leben zu verbinden. Was vorher nur sein
Gedanke erreichen konnte, ist jetzt für ihn Erlebnis, so lebendig und
inhaltvoll wie nur irgendein Erlebnis der Sinneswelt sein kann. Die Dinge und
Wesen dieser Sinneswelt sind eben durchaus nicht bloß das, als was sie der
Sinneswahmehmung erscheinen. Sie sind der Ausdruck und Ausfluß einer geistigen
Welt. Diese vorher verborgene Geisteswelt tönt jetzt für den Geheimschüler aus
seiner ganzen Umgebung heraus.
Es ist leicht einzusehen, daß ein
Segen in dieser höheren Wahrnehmungsfähigkeit für den Menschen nur dann liegen
kann, wenn in den seelischen Sinnen, die sich ihm eröffnet haben, alles in
Ordnung ist, wie ja der Mensch auch seine gewöhnlichen Sinneswerkzeuge zur
wahren Beobachtung der Welt nur gebrauchen kann, wenn sie gesetzmäßig
eingerichtet sind. Nun bildet sich der Mensch selbst diese höheren Sinne durch
die Übungen, die ihm die Geheimschulung anweist. – Zu diesen Übungen gehört die
Konzentration, das ist das Richten der Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte mit
den Weltgeheimnissen zusammenhängende Vorstellungen und Begriffe. Und es gehört
ferner dazu das Meditieren, das ist das Leben in solchen Ideen, das vollkommene
Versenken in dieselben in vorgeschriebener Art. Durch Konzentrieren und
Meditieren arbeitet der Mensch an seiner Seele. Er entwickelt dadurch in ihr
die seelischen Wahrnehmungsorgane. Während er den Aufgaben der Konzentration
und Meditation obliegt, wächst innerhalb seines Leibes seine Seele, wie der
Kindeskeim im Leibe der Mutter wächst. Und wenn dann während des Schlafes die
geschilderten einzelnen Erlebnisse eintreten, dann rückt der Moment der Geburt
heran für die freigewordene Seele, die dadurch buchstäblich ein anderes Wesen
geworden ist, das der Mensch in sich zur Keimung und Reifung bringt. – Die
Anstrengungen für das Konzentrieren und das Meditieren müssen deshalb sorgfältige
sein, und sie müssen genau eingehalten werden, weil sie ja die Gesetze für die
Keimung und das Reifwerden des gekennzeichneten höheren Menschen-Seelenwesens
sind. Und dieses muß bei seiner Geburt ein in sich harmonischer, richtig
gegliederter Organismus sein. Wird aber in den Vorschriften etwas verfehlt, so
kommt nicht ein solches gesetzmäßiges Lebewesen, sondern eine Fehlgeburt auf
geistigem Gebiet zustande, die nicht lebensfähig ist.
Daß die Geburt dieses höheren
Seelenwesens zunächst im tiefen Schlafe erfolgt, wird begreiflich erscheinen,
wenn man bedenkt, daß der zarte, noch wenig widerstandsfähige Organismus bei
einem etwaigen Erscheinen während des sinnlichen Alltagslebens durch die
starken, harten Vorgänge dieses Lebens ja gar nicht zur Geltung kommen könnte.
Seine Tätigkeit käme nicht in Betracht gegenüber der Tätigkeit des Leibes. Im
Schlafe, wenn der Körper ruht, soweit seine Tätigkeit von der sinnlichen Wahrnehmung abhängt, kann die im Anfang
so zarte, unscheinbare Tätigkeit der höheren Seele zum Vorschein kommen.
–Wieder aber muß beachtet werden, daß der Geheimschüler die Schlaferlebnisse so
lange nicht als vollgültige Erkenntnisse ansehen darf, solange er nicht
imstande ist, die erwachte höhere Seele auch in das Tagesbewußtsein herüberzunehmen.
Ist er das imstande, so vermag er auch zwischen und innerhalb der
Tageserlebnisse die geistige Welt nach ihrem Charakter wahrzunehmen, das heißt,
er kann die Geheimnisse seiner Umgebung seelisch als Töne und Worte erfassen.
Nun muß man sich auf dieser Stufe
der Entwickelung klarwerden, daß man es ja zunächst mit einzelnen mehr oder
weniger unzusammenhängenden geistigen Erlebnissen zu tun hat. Man muß sich
daher hüten, sich aus ihnen irgendein abgeschlossenes oder auch nur
zusammenhängendes Erkenntnisgebäude aufbauen zu wollen. Da müßten sich allerlei
phantastische Vorstellungen und Ideen in die Seelenwelt einmischen; und man
könnte sich so sehr leicht eine Welt zusammenbauen, die mit der wirklichen
geistigen gar nichts zu tun hat. Strengste Selbstkontrolle muß ja von dem
Geheimschüler fortwährend geübt werden. Das richtigste ist, über die einzelnen
wirklichen Erlebnisse, die man hat, immer mehr und mehr zur Klarheit zu kommen
und abzuwarten, bis sich neue ergeben in völlig ungezwungener Art, die sich wie
von selbst mit den schon vorhandenen verbinden. – Es tritt da nämlich bei dem
Geheimschüler durch die Kraft der geistigen Welt, in die er nun einmal gekommen
ist, und bei Anwendung der entsprechenden Übungen eine immer mehr um sich
greifende Erweiterung des Bewußtseins im tiefen Schlafe ein. Immer mehr
Erlebnisse treten hervor aus der Bewußtlosigkeit und immer kleinere Strecken
des Schlaflebens werden bewußtlos sein. So schließen sich dann die einzelnen
Schlaferfahrungen eben immer mehr von selbst zusammen, ohne daß dieser wahre
Zusammenschluß durch allerlei Kombinationen und Schlußfolgerungen gestört
würde, die doch nur von dem an die Sinneswelt gewöhnten Verstande herrühren
würden. Je weniger aber von den Denkgewohnheiten dieser sinnlichen Welt in
unberechtigter Weise hlneingemischt wird in die höheren Erlebnisse, desto
besser ist es. Verhält man sich so, dann nähert man sich immer mehr und mehr
derjenigen Stufe auf dem Wege zu höherer Erkenntnis, auf welcher Zustände, die
vorher nur unbewußt im Schlafleben vorhanden waren, in vollständig bewußte
umgewandelt werden. Man lebt dann, wenn der Körper ruht, ebenso in einer
Wirklichkeit, wie dies beim Wachen der Fall ist. Es wird überflüssig sein, zu
bemerken, daß während des Schlafes selbst zunächst man es mit einer anderen
Wirklichkeit zu tun hat, als die sinnliche Umgebung ist, in welcher sich der
Körper befindet. Man lernt ja und muß – um fest auf dem Boden der Sinneswelt
stehenzubleiben und nicht Phantast zu werden – lernen, die höheren Schlaferlebnisse
an die sinnliche Umgebung anzuknüpfen. Aber zunächst ist eben die im Schlaf
erlebte Welt eine vollkommen neue Offenbarung. – Man nennt in der
Geheimwissenschaft die wichtige Stufe, die in der Bewußtheit des Schlaflebens
besteht, die Kontinuität (Ununterbrochenheit) des Bewußtseins. [Was hier
angedeutet wird, ist für eine gewisse Stufe der Entwickelung eine Art «Ideal»,
das am Ende eines langen Weges liegt. Was der Geheimschüler zunächst
kennenlernt, sind die zwei Zustände: Bewußtsein bei einer seelischen
Verfassung, in welcher ihm vorher nur regellose Träume, und in einer solchen,
in der nur bewußtloser, traumloser Schlaf möglich war.]
Bei einem Menschen, der diese
Stufe erreicht hat, hört das Erleben und Erfahren in solchen Zeiten nicht auf,
in denen der physische Leib ruht und der Seele keine Eindrücke durch die
Sinneswerkzeuge zugeführt werden.
Während des Schlafes empfängt die
menschliche Seele nicht die Mitteilungen von seiten der physischen
Sinneswerkzeuge. Die Wahrnehmungen der gewöhnlichen Außenwelt fließen ihr in
diesem Zustande nicht zu. Sie ist in Wahrheit in gewisser Beziehung außerhalb des Teiles der menschlichen
Wesenheit, des sogenannten physischen Leibes, welcher im Wachen die
Sinneswahrnehmungen und das Denken vermittelt. Sie ist dann nur in Verbindung
mit den feineren Leibern (dem Ätherleib und dem Astralleib), welche sich der
Beobachtung der physischen Sinne entziehen. Aber die Tätigkeit dieser feineren
Leiber hört im Schlafe nicht etwa auf. So wie der physische Leib mit den Dingen
und Wesen der physischen Welt in Verbindung steht, wie er von ihnen Wirkungen
empfängt und auf sie wirkt, so lebt die Seele in einer höheren Welt. Und dieses
Leben dauert während des Schlafes fort. Tatsächlich ist die Seele während des
Schlafes in voller Regsamkeit. Nur kann der Mensch von dieser seiner eigenen
Tätigkeit so lange nichts wissen, als er nicht geistige Wahmehmungsorgane hat,
durch welche er während des Schlafes ebensogut beobachten kann, was um ihn
herum vorgeht und was er selber treibt, wie er das mit seinen gewöhnlichen
Sinnen im Tagesleben für seine physische Umgebung kann. Die Geheimschulung
besteht (wie in den vorhergehenden Kapiteln gezeigt worden ist) in der
Ausbildung solcher geistigen Sinneswerkzeuge.
Verwandelt sich nun durch die
Geheimschulung das Schlafleben des Menschen in dem Sinne, wie es im vorigen
Kapitel beschrieben worden ist, so kann er alles, was in diesem Zustande um ihn
herum vorgeht, bewußt verfolgen; er kann sich willkürlich in seiner Umgebung
zurechtfinden, wie das mit seinen Erlebnissen während des wachen Alltagslebens
durch die gewöhnlichen Sinne der Fall ist. Dabei ist allerdings zu beachten,
daß die Wahrnehmung der gewöhnlichen sinnlichen Umgebung schon einen höheren
Grad des Hellsehens voraussetzt. (Es ist darauf schon im vorigen Kapitel
hingedeutet worden.) Im Beginn der Entwickelung nimmt der Geheimschüler nur
Dinge wahr, die einer anderen Welt angehören, ohne deren Zusammenhang mit den
Gegenständen seiner alltäglichen sinnlichen Umgebung bemerken zu können.
Was an so charakteristischen
Beispielen des Traum- und Schlaflebens anschaulich wird, findet fortwährend
beim Menschen statt. Die Seele lebt ohne Unterbrechung in höheren Welten und
ist innerhalb der letzteren tätig. Sie schöpft aus diesen höheren Welten heraus
die Anregungen, durch welche sie immerwährend auf den physischen Leib wirkt.
Nur bleibt für den Menschen dieses sein höheres Leben unbewußt. Der Geheimschüler aber bringt es zum Bewußtsein. Dadurch
wird sein Leben überhaupt ein anderes. Solange die Seele nicht im höheren Sinne
sehend ist, wird sie von
übergeordneten Weltwesen geführt. Und wie das Leben eines Blinden, der durch
Operation sehend geworden ist, ein anderes wird, als es vorher war, da er sich
auf seine Führerschaft verlassen mußte, so ändert sich das Leben des Menschen
durch die Geheimschulung. Er wird der Führerschaft entwachsen und muß fortan
seine Leitung selbst übernehmen. Sobald dies eintritt, ist er, wie begreiflich,
Irrtümern unterworfen, von denen das gewöhnliche Bewußtsein nichts ahnt. Er
handelt jetzt aus einer Welt heraus, aus der ihn früher höhere Gewalten, ihm
selbst unbewußt, beeinflußten. Diese höheren Gewalten sind durch die allgemeine
Weltharmonie geordnet. Aus dieser Weltharmonie tritt der Geheimschüler heraus.
Er hat nunmehr selbst Dinge zu tun, die vorher für ihn ohne sein Zutun
vollzogen worden sind.
Weil dies letztere der Fall ist,
deshalb wird in den Schriften, die von solchen Dingen handeln, viel von den
Gefahren gesprochen, welche mit dem Aufstieg in die höheren Welten verbunden
sind. Die Schilderungen, die da zuweilen von solchen Gefahren gemacht werden,
sind wohl geeignet, ängstliche Gemüter nur mit Schaudern auf dieses höhere
Leben blicken zu lassen. Doch muß gesagt werden, daß diese Gefahren nur dann
vorhanden sind, wenn die notwendigen Vorsichtsmaßregeln außer acht gelassen
werden. Wenn dagegen wirklich alles beachtet wird, was wahre Geheimschulung als
Ratschläge an die Hand gibt, dann erfolgt der Aufstieg zwar durch Erlebnisse
hindurch, die an Gewalt und Größe alles überragen, was die kühnste Phantasie
des Sinnesmenschen sich ausmalen kann; aber von einer Beeinträchtigung der
Gesundheit oder des Lebens kann nicht die Rede sein. Der Mensch lernt grausige,
das Leben an allen Ecken und Enden bedrohende Gewalten kennen. Es wird ihm
möglich, sich selbst gewisser Kräfte und Wesen zu bedienen, welche der
sinnlichen Wahrnehmung entzogen sind. Und die Versuchung ist groß, sich dieser
Kräfte im Dienste eines eigenen unerlaubten Interesses zu bemächtigen oder aus
mangelnder Erkenntnis der höheren Welten in irrtümlicher Weise solche Kräfte zu
verwenden. Einige von solchen besonders bedeutsamen Erlebnissen (zum Beispiel
die Begegnung mit dem «Hüter der Schwelle») sollen noch in diesen Aufsätzen
geschildert werden. – Aber man muß doch bedenken, daß die leben-feindlichen
Mächte auch dann vorhanden sind, wenn man sie nicht kennt. Wahr ist allerdings,
daß dann deren Verhältnis zum Menschen von höheren Kräften bestimmt wird und
daß dieses Verhältnis sich auch ändert, wenn der Mensch mit Bewußtsein in diese
ihm vorher verborgene Welt eintritt. Aber es wird dafür auch sein eigenes
Dasein gesteigert, sein Lebenskreis um ein ungeheures Feld bereichert. Eine
wirkliche Gefahr liegt nur dann vor, wenn der Geheimschüler durch Ungeduld oder
Unbescheidenheit sich gegenüber den Erfahrungen der höheren Welt zu früh eine
gewisse Selbständigkeit beimißt, wenn er nicht abwarten kann, bis ihm die
zureichende Einsicht in die übersinnlichen Gesetze wirklich zuteil wird. Auf
diesem Gebiete sind eben Demut und Bescheidenheit noch viel weniger leere Worte
als im gewöhnlichen Leben. Sind diese aber dem Schüler im allerbesten Sinne
eigen, so kann er sicher sein, daß sich sein Aufstieg ins höhere Leben
gefahrlos für alles das vollzieht, was man gewöhnlich Gesundheit und Leben
nennt. – Vor allen Dingen darf keine Disharmonie aufkommen zwischen den höheren
Erlebnissen und den Vorgängen und Anforderungen des alltäglichen Lebens. Des
Menschen Aufgabe ist durchaus auf dieser Erde zu suchen. Und wer den Aufgaben
auf dieser Erde sich entziehen und in eine andere Welt flüchten will, der mag
sicher sein, daß er sein Ziel nicht erreicht. – Aber was die Sinne wahrnehmen,
ist nur ein Teil der Welt. Und im Geistigen liegen die Wesenheiten, welche sich
in den Tatsachen der sinnlichen Welt ausdrücken. Man soll teilhaftig werden des
Geistes, damit man seine Offenbarungen in die Sinneswelt hineintragen kann. Der
Mensch gestaltet die Erde um, indem er ihr einpflanzt, was er von dem
Geisterlande her erkundet. Darinnen liegt seine Aufgabe. Nur weil die sinnliche
Erde von der geistigen Welt abhängt, weil man wahrhaftig auf der Erde nur
wirken kann, wenn man Teilhaber an jenen Welten ist, in denen die schaffenden
Kräfte verborgen sind, deshalb soll man zu diesen letzteren aufsteigen wollen.
Tritt man mit dieser Gesinnung an die Geheimschulung heran und weicht man
keinen Augenblick von der dadurch vorgezeichneten Richtung ab, dann hat man
nicht die allergeringsten Gefahren zu befürchten. Niemand sollte sich von den
in Aussicht stehenden Gefahren von der Geheimschulung abhalten lassen; für
einen jeden aber sollte diese Aussicht eine strenge Aufforderung sein, sich
durchaus jene Eigenschaften anzueignen, welche der wahre Geheimschü1er haben
soll.
Nach diesen Voraussetzungen, die
wohl alles Schreckhafte beseitigen, soll nun hier an die Schilderung einiger
sogenannter «Gefahren» geschritten werden. Große Veränderungen gehen allerdings
mit den obengenannten feineren Leibern beim Geheimschüler vor sich. Solche
Veränderungen hängen mit gewissen Entwickelungsvorgängen der drei Grundkräfte
der Seele, mit Wollen, Fühlen und Denken zusammen. Diese drei Kräfte
stehen vor der Geheimschulung des Menschen in einer ganz bestimmten, durch
höhere Weltgesetze geregelten Verbindung. Nicht in beliebiger Weise will, fühlt oder denkt der Mensch. Wenn zum Beispiel eine bestimmte Vorstellung im
Bewußtsein auftaucht, so schließt sich an sie nach natürlichen Gesetzen ein
gewisses Gefühl oder es folgt auf sie ein gesetzmäßig mit ihr zusammenhängender
Willensentschluß. Man betritt ein Zimmer, findet es dumpfig und öffnet die
Fenster. Man hört seinen Namen rufen und folgt dem Rufe. Man wird gefragt und
gibt Antwort. Man sieht ein übelriechendes Ding und bekommt ein Gefühl von
Unlust. Das sind einfache Zusammenhänge zwischen Denken, Fühlen und Wollen.
Wenn man aber das menschliche Leben überschaut, so wird man finden, daß sich
alles in diesem Leben auf solche Zusammenhänge aufbaut. Ja, man bezeichnet das
Leben eines Menschen nur dann als ein «normales», wenn man in demselben eine
solche Verbindung von Denken, Fühlen und Wollen bemerkt, die in den Gesetzen
der menschlichen Natur begründet liegt. Man fände es diesen Gesetzen
widersprechend, wenn ein Mensch zum Beispiel beim Anblick eines übelriechenden
Gegenstandes ein Lustgefühl empfände oder wenn er auf Fragen nicht antwortete.
Die Erfolge, die man sich von einer richtigen Erziehung oder einem angemessenen
Unterricht verspricht, beruhen darauf, daß man voraussetzt, man könne eine der
menschlichen Natur entsprechende Verbindung zwischen Denken, Fühlen und Wollen
beim Zögling herstellen. Wenn man diesem gewisse Vorstellungen beibringt, so
tut man es in der Annahme, daß sie später mit seinen Gefühlen und Willensentschlüssen
in gesetzmäßige Verbindungen eingehen. – Alles das rührt davon her, daß in den
feineren Seelenleibern des Menschen die Mittelpunkte der drei Kräfte, des
Denkens, Fühlens und Wollens, in einer gesetzmäßigen Art miteinander verbunden
sind. Und diese Verbindung in dem feineren Seelenorganismus hat auch ihr Abbild
in dem groben physischen Körper. Auch in diesem stehen die Organe des Wollens
in einer gewissen gesetzmäßigen Verbindung mit denen des Denkens und Fühlens.
Ein bestimmter Gedanke ruft regelmäßig daher ein Gefühl oder eine
Willenstätigkeit hervor. – Bei der höheren Entwickelung des Menschen werden nun
die Fäden, welche die drei Grundkräfte miteinander verbinden, unterbrochen.
Zuerst geschieht diese Unterbrechung nur in dem charakterisierten feineren
Seelenorganismus; bei noch höherem Aufstieg aber erstreckt sich die Trennung
auch auf den physischen Körper. (Es zerfällt bei der höheren geistigen
Entwickelung des Menschen tatsächlich zum Beispiel sein Gehirn in drei
voneinander getrennte Glieder. Die Trennung ist allerdings eine solche, daß sie
für die gewöhnliche sinnliche Anschauung nicht wahrnehmbar und auch durch die
schärfsten sinnlichen Instrumente nicht nachweisbar ist. Aber sie tritt ein,
und der Hellseher hat Mittel, sie zu beobachten. Das Gehirn des höheren
Hellsehers zerfällt in drei selbständig wirkende Wesenheiten: das Denk-, Fühl-
und Willensgehirn.)
Die Organe des Denkens, Fühlens
und Wollens stehen sodann ganz frei für sich da. Und ihre Verbindung wird
nunmehr durch keine ihnen selbst eingepflanzten Gesetze hergestellt, sondern
muß durch das erwachte höhere Bewußtsein des Menschen selbst besorgt werden. –
Das ist nämlich die Veränderung, welche der Geheimschüler an sich bemerkt, daß
kein Zusammenhang zwischen einer Vorstellung und einem Gefühl oder einem Gefühl
und einem Willensentschluß und so weiter sich einstellt, wenn er nicht selbst
einen solchen schafft. Kein Antrieb führt ihn von einem Gedanken zu einer
Handlung, wenn er diesen Antrieb nicht frei in sich bewirkt. Er kann nunmehr
völlig gefühllos vor einer Tatsache stehen, die ihm vor seiner Schulung
glühende Liebe oder ärgsten Haß eingeflößt hat; er kann untätig bleiben bei
einem Gedanken, der ihn vorher zu einer Handlung wie von selbst begeistert hat.
Und er kann Taten verrichten aus Willensentschlüssen heraus, für welche bei
einem nicht durch die Geheimschulung hindurchgegangenen Menschen auch nicht die
geringste Veranlassung vorliegt. Die große Errungenschaft, welche dem
Geheimschüler zuteil wird, ist, daß er die vollkommene Herrschaft erlangt über
das Zusammenwirken der drei Seelenkräfte; aber dieses Zusammenwirken wird dafür
auch vollständig in seine eigene Verantwortlichkeit gestellt.
Erst durch diese Umwandlung
seines Wesens kann der Mensch in bewußte Verbindung treten mit gewissen
übersinnlichen Kräften und Wesenheiten. Denn es haben seine eigenen
Seelenkräfte zu gewissen Grundkräften der Welt entsprechende Verwandtschaft.
Die Kraft zum Beispiel, die im Willen liegt, kann auf bestimmte Dinge und
Wesenheiten der höheren Welt wirken und diese auch wahrnehmen. Aber sie kann
das erst dann, wenn sie frei geworden ist von ihrer Verbindung mit dem Fühlen
und Denken innerhalb der Seele. Sobald diese Verbindung gelöst ist, tritt die
Wirkung des Willens nach außen hervor. Und so ist es auch mit den Kräften des
Denkens und Fühlens. Wenn mir ein Mensch ein Haßgefühl zusendet, so ist dieses
für den Hellseher sichtbar als eine feine Lichtwolke von bestimmter Färbung.
Und ein solcher Hellseher kann dieses Haßgefühl abwehren, wie der Sinnesmensch
einen physischen Schlag abwehrt, der gegen ihn geführt wird. Der Haß wird in
der übersinnlichen Welt eine anschaubare Erscheinung. Aber nur dadurch kann ihn
der Hellseher wahrnehmen, daß er die Kraft, die in seinem Gefühle liegt, nach
außen zu senden vermag, wie der Sinnesmensch die Empfänglichkeit seines Auges
nach außen richtet. Und so wie mit dem Haß ist es mit weit bedeutungsvolleren
Tatsachen der sinnlichen Welt. Der Mensch kann mit ihnen in bewußten Verkehr
treten durch die Freilegung der Grundkräfte seiner Seele.
Durch die geschilderte Trennung
der Kräfte des Denkens, Fühlens und Wollens ist nun, bei Außerachtlassung der
geheimwissenschaftlichen Vorschriften, eine dreifache Verirrung auf dem
Entwickelungsgange des Menschen möglich. Eine solche kann eintreten, wenn die
Verbindungsbahnen zerstört werden, bevor das höhere Bewußtsein mit seiner
Erkenntnis so weit ist, daß es die Zügel, die ein freies harmonisches
Zusammenwirken der getrennten Kräfte herstellen, ordentlich zu führen vermag. –
Denn in der Regel sind nicht alle drei Grundkräfte des Menschen in einem
bestimmten Lebensabschnitt gleich weit in ihrer Entwickelung vorgeschritten.
Bei dem einen Menschen ist das Denken dem Fühlen und Wollen vorangeschritten,
bei einem zweiten hat eine andere Kraft die Oberhand über ihre Genossen.
Solange nun der durch die höheren Weltgesetze hergestellte Zusammenhang der
Kräfte aufrechterhalten bleibt, kann durch das Hervorstechen der einen oder der
anderen keine im höheren Sinne störende Unregelmäßigkeit eintreten. Beim
Willensmenschen zum Beispiel wirken Denken und Gefühl durch jene Gesetze doch
ausgleichend, und sie verhindern, daß der überwiegende Wille in besondere
Ausartungen verfällt. Tritt ein solcher Willensmensch aber in die Geheimschulung
ein, so hört der gesetzmäßige Einfluß von Gefühl und Gedanke auf den zu
ungeheuren Kraftleistungen unausgesetzt drängenden Willen vollständig auf. Ist
dann der Mensch in der vollkommenen Beherrschung des höheren Bewußtseins nicht
so weit, daß er selbst die Harmonie hervorrufen kann, so geht der Wille seine
eigenen zügellosen Wege. Er überwältigt fortwährend seinen Träger. Gefühl und
Denken fallen einer vollkommenen Machtlosigkeit anheim; der Mensch wird durch
die ihn sklavisch beherrschende Willensmacht gepeitscht. Eine Gewaltnatur, die von einer zügellosen
Handlung zur anderen schreitet, ist entstanden. – Ein zweiter Abweg entsteht,
wenn das Gefühl in einer maßlosen Art sich von den gesetzmäßigen Zügeln
befreit. Eine zur Verehrung anderer Menschen neigende Person kann sich dann in
grenzenlose Abhängigkeit bis zum Verluste jedes eigenen Willens und Gedankens
begeben. Statt höherer Erkenntnis ist dann die erbarmungswürdigste Aushöhlung
und Kraftlosigkeit das Los einer solchen Persönlichkeit. – Oder es kann bei
solch überwiegendem Gefühlsleben eine zu Frömmigkeit und religiöser Erhebung
neigende Natur in eine sie ganz hinreißende Religionsschwelgerei verfallen. –
Das dritte Übel bildet sich, wenn das Denken überwiegt. Dann tritt eine
lebensfeindliche, in sich verschlossene Beschaulichkeit auf. Für solche
Menschen scheint dann die Welt nur mehr insoweit Bedeutung zu haben, als sie
ihnen Gegenstände liefert zur Befriedigung ihrer ins Grenzenlose gesteigerten
Weisheitsgier. Sie werden durch keinen Gedanken zu einer Handlung oder einem
Gefühl angeregt. Sie treten überall als teilnahmslose, kalte Naturen auf. Jede
Berührung mit Dingen der alltäglichen Wirklichkeit fliehen sie wie etwas, das
ihnen Ekel erregt oder das wenigstens für sie alle Bedeutung verloren hat.
Das sind die drei Irrpfade, auf
welche der Geheimschüler geraten kann: das Gewaltmenschentum, die
Gefühlsschwelgerei, das kalte lieblose Weisheitsstreben. Für eine äußerliche
Betrachtungsweise – auch für die materialistische der Schulmedizin – unterscheidet
sich das Bild eines solchen auf Abwegen befindlichen Menschen, vor allen Dingen
dem Grade nach, nicht viel von demjenigen eines Irrsinnigen oder wenigstens
einer schwer «nervenkranken Person». Ihnen darf natürlich der Geheimschüler
nicht gleichen. Es kommt bei ihm darauf an, daß Denken, Fühlen, Wollen, die
drei Grundkräfte der Seele, eine harmonische Entwickelung durchgemacht haben,
bevor sie aus der ihnen eingepflanzten Verbindung gelöst und dem erwachten
höheren Bewußtsein unterstellt werden können. – Denn ist einmal der Fehler
geschehen, ist eine Grundkraft der Zügellosigkeit anheimgefallen, so tritt die
höhere Seele zunächst als eine Fehlgeburt zutage. Die ungebändigte Kraft füllt
dann die ganze Persönlichkeit des Menschen aus; und für lange ist nicht daran
zu denken, daß alles wieder ins Gleichgewicht kommt. Was als eine harmlose
Charakterveranlagung erscheint, solange der Mensch ohne Geheimschulung ist,
nämlich ob er eine Willens-, Gefühls- oder Denkernatur ist, das steigert sich
beim Geheimschüler so, daß sich das zum Leben notwendige Allgemeinmenschliche
demgegenüber ganz verliert. – Zu einer wirklich ernsten Gefahr wird das
allerdings erst in dem Augenblicke, in welchem der Schüler die Fähigkeit
erlangt, Erlebnisse wie im Schlafbewußtsein so auch im wachen Zustande vor sich
zu haben. Solange es bei der bloßen Erhellung der Schlafpausen verbleibt, wirkt
während des Wachzustandes das von den allgemeinen Weltgesetzen geregelte
Sinnesleben immer wieder ausgleichend auf das gestörte Gleichgewicht der Seele
zurück. Deshalb ist es so notwendig, daß das Wachleben des Geheimschülers in
jeder Richtung ein regelmäßiges, gesundes sei. Je mehr er den Anforderungen
entspricht, welche die äußere Welt an eine gesunde, kräftige Gestaltung von
Leib, Seele und Geist stellt, desto besser ist es für ihn. Schlimm dagegen kann
es für ihn werden, wenn das alltägliche Wachleben aufregend oder aufreibend auf
ihn wirkt, wenn also zu den größeren Veränderungen, die in seinem Inneren
vorgehen, irgendwelche zerstörende oder hemmende Einflüsse des äußeren Lebens
hinzutreten. Er soll alles aufsuchen, was seinen Kräften entsprechend ist und
was ihn in ein ungestörtes, harmonisches Zusammenleben mit seiner Umgebung
hineinbringt. Und er soll alles vermeiden, was dieser Harmonie Eintrag tut, was
Unruhe und Hast in sein Leben bringt. Dabei kommt es weniger darauf an, diese
Unruhe und Hast sich in einem äußerlichen Sinne abzuwälzen, als vielmehr
darauf, zu sorgen, daß die Stimmung, die Absichten und Gedanken und die
Gesundheit des Leibes darunter nicht fortwährenden Schwankungen ausgesetzt
werden. – All das fällt dem Menschen während seiner Geheimschulung nicht so
leicht wie vorher. Denn die höheren Erlebnisse, die nunmehr in sein Leben
hineinspielen, wirken ununterbrochen auf sein ganzes Dasein. Ist innerhalb
dieser höheren Erlebnisse etwas nicht in Ordnung, so lauert die
Unregelmäßigkeit unausgesetzt und kann ihn bei jeder Gelegenheit aus den
geordneten Bahnen herauswerfen. Deshalb darf der Geheimschüler nichts
unterlassen, was ihm stets die Herrschaft über sein ganzes Wesen sichert. Nie
sollte ihm Geistesgegenwart oder ein ruhiges Überblicken aller in Betracht
kommenden Situationen des Lebens mangeln. Aber eine echte Geheimschulung
erzeugt im Grunde alle diese Eigenschaften durch sich selbst. Und man lernt
während einer solchen die Gefahren nur kennen, indem man zugleich in den
richtigen Augenblicken die volle Macht erlangt, sie aus dem Felde zu schlagen.
Wichtige Erlebnisse beim Erheben
in die höheren Welten sind die Begegnungen mit dem «Hüter der Schwelle». Es
gibt nicht nur einen, sondern im wesentlichen zwei, einen «kleineren» und einen
«größeren» «Hüter der Schwelle». Dem ersteren begegnet der Mensch dann, wenn
sich die Verbindungsfäden zwischen Willen, Denken und Fühlen innerhalb der
feineren Leiber (des Astral- und Ätherleibes) so zu lösen beginnen, wie das im
vorigen Kapitel gekennzeichnet worden ist. Dem «größeren Hüter der Schwelle»
tritt der Mensch gegenüber, wenn sich die Auflösung der Verbindungen auch auf
die physischen Teile des Leibes (namentlich zunächst das Gehirn) erstreckt.
Der «kleinere Hüter der Schwelle»
ist ein selbständiges Wesen. Dieses ist für den Menschen nicht vorhanden, bevor
die entsprechende Entwickelungsstufe von ihm erreicht ist. Nur einige der
wesentlichsten Eigentümlichkeiten desselben können hier verzeichnet werden.
Es soll zunächst versucht werden,
in erzählender Form die Begegnung des Geheimschülers mit dem Hüter der Schwelle
darzustellen. Erst durch diese Begegnung wird der Schüler gewahr, daß Denken,
Fühlen und Wollen bei ihm sich aus ihrer ihnen eingepflanzten Verbindung gelöst
haben.
Ein allerdings schreckliches,
gespenstisches Wesen steht vor dem Schüler. Dieser hat alle Geistesgegenwart
und alles Vertrauen in die Sicherheit seines Erkenntnisweges notwendig, die er
sich während seiner bisherigen Geheimschülerschaft aber hinlänglich aneignen
konnte.
Der «Hüter» gibt seine Bedeutung
etwa in folgenden Worten kund: «Über dir walteten bisher Mächte, welche dir
unsichtbar waren. Sie bewirkten, daß während deiner bisherigen Lebensläufe jede
deiner guten Taten ihren Lohn und jede deiner üblen Handlungen ihre schlimmen
Folgen hatten. Durch ihren Einfluß baute sich dein Charakter aus deinen
Lebenserfahrungen und aus deinen Gedanken auf. Sie verursachten dein Schicksal.
Sie bestimmten das Maß von Lust und Schmerz, das dir in einer deiner
Verkörperungen zugemessen war, nach deinem Verhalten in früheren
Verkörperungen. Sie herrschten über dir in Form des allumfassenden
Karmagesetzes. Diese Mächte werden nun einen Teil ihrer Zügel von dir loslösen.
Und etwas von der Arbeit, die sie an dir getan haben, mußt du nun selbst tun.
Dich traf bisher mancher schwere Schicksalsschlag. Du wußtest nicht warum? Es
war die Folge einer schädlichen Tat in einem deiner vorhergehenden Lebensläufe.
Du fandest Glück und Freude und nahmest sie hin. Auch sie waren die Wirkung
früherer Taten. Du hast in deinem Charakter manche schöne Seiten, manche
häßliche Flecken. Du hast beides selbst verursacht durch vorhergehende
Erlebnisse und Gedanken. Du hast bisher die letzteren nicht gekannt; nur die
Wirkungen waren dir offenbar. Sie aber, die karmischen Mächte, sahen alle deine
vormaligen Lebenstaten, deine verborgensten Gedanken und Gefühle. Und sie haben
danach bestimmt, wie du jetzt bist und wie du jetzt lebst.
Nun aber sollen dir selbst
offenbar werden alle die guten und alle die schlimmen Seiten deiner vergangenen
Lebensläufe. Sie waren bis jetzt in deine eigene Wesenheit hineinverwoben, sie
waren in dir, und du konntest sie nicht sehen, wie du physisch dein eigenes
Gehirn nicht sehen kannst. Jetzt aber lösen sie sich von dir los, sie treten
aus deiner Persönlichkeit heraus. Sie nehmen eine selbständige Gestalt an, die
du sehen kannst, wie du die Steine und Pflanzen der Außenwelt siehst. Und – ich
bin es selbst, die Wesenheit, die sich einen Leib gebildet hat aus deinen edlen
und deinen üblen Verrichtungen. Meine gespenstige Gestalt ist aus dem
Kontobuche deines eigenen Lebens gewoben. Unsichtbar hast du mich bisher in dir
selbst getragen. Aber es war wohltätig für dich, daß es so war. Denn die
Weisheit deines dir verborgenen Geschickes hat deshalb auch bisher an der
Auslöschung der häßlichen Flecken in meiner Gestalt in dir gearbeitet. Jetzt,
da ich aus dir herausgetreten bin, ist auch diese verborgene Weisheit von dir
gewichen. Sie wird sich fernerhin nicht mehr um dich kümmern. Sie wird die
Arbeit dann nur in deine eigenen Hände legen. Ich muß zu einer in sich
vollkommenen, herrlichen Wesenheit werden, wenn ich nicht dem Verderben
anheimfallen soll. Und geschähe das letztere, so würde ich auch dich selbst mit
mir hinabziehen in eine dunkle, verderbte Welt. – Deine eigene Weisheit muß
nun, wenn das letztere verhindert werden soll, so groß sein, daß sie die
Aufgabe jener von dir gewichenen verborgenen Weisheit übernehmen kann. – Ich
werde, wenn du meine Schwelle überschritten hast, keinen Augenblick mehr als
dir sichtbare Gestalt von deiner Seite weichen. Und wenn du fortan Unrichtiges tust
oder denkst, so wirst du sogleich deine Schuld als eine häßliche, dämonische
Verzerrung an dieser meiner Gestalt wahrnehmen. Erst wenn du all dein
vergangenes Unrichtiges gutgemacht und dich so geläutert hast, daß dir weiter
Übles ganz unmöglich ist, dann wird sich mein Wesen in leuchtende Schönheit
verwandelt haben. Und dann werde ich mich zum Heile deiner ferneren Wirksamkeit
wieder mit dir zu einem Wesen vereinigen können.
Meine Schwelle aber ist gezimmert aus einem jeglichen
Furchtgefühl, das noch in dir ist, und aus einer jeglichen Scheu vor der Kraft,
die volle Verantwortung für all dein Tun und Denken selbst zu übernehmen.
Solange du noch irgendeine Furcht vor der selbsteigenen Lenkung deines
Geschickes hast, so lange ist in diese Schwelle nicht alles hineingebaut, was
sie erhalten muß. Und solange ihr ein einziger Baustein noch fehlt, so lange
müßtest du wie gebannt an dieser Schwelle stehenbleiben oder stolpern. Versuche
nicht früher diese Schwelle zu überschreiten, bis du ganz frei von Furcht und
bereit zu höchster Verantwortlichkeit dich fühlst.
Bisher trat ich nur aus deiner
eigenen Persönlichkeit heraus, wenn der Tod dich von einem irdischen Lebenslauf
abberief. Aber auch da war meine Gestalt dir verschleiert. Nur die
Schicksalsmächte, welche über dir walteten, sahen mich und konnten, nach meinem
Aussehen, in den Zwischenpausen zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, dir
Kraft und Fähigkeit ausbilden, damit du in einem neuen Erdenleben an der
Verschönerung meiner Gestalt zum Heile deines Fortkommens arbeiten konntest.
Ich selbst war es auch, dessen Unvollkommenheit die Schicksalsmächte immer
wieder dazu zwang, dich in eine neue Verkörperung auf die Erde zurückzuführen.
Starbest du, so war ich da; und meinetwegen bestimmten die Lenker des Karma
deine Wiedergeburt. Erst wenn du durch immer wieder erneuerte Leben in dieser
Art mich unbewußt ganz zur Vollkommenheit umgeschaffen gehabt hättest, wärest
du nicht den Todesmächten verfallen, sondern du hättest dich ganz mit mir
vereint und wärest in Einheit mit mir in die Unsterblichkeit hinübergegangen.
So stehe ich heute sichtbar vor
dir, wie ich stets unsichtbar neben dir in der Sterbestunde gestanden habe.
Wenn du meine Schwelle überschritten haben wirst, so betrittst du die Reiche,
die du sonst nach dem physischen Tode betreten hast. Du betrittst sie mit
vollem Wissen und wirst fortan, indem du äußerlich sichtbar auf Erden wandelst,
zugleich im Reiche des Todes, das ist aber im Reiche des ewigen Lebens,
wandeln. Ich bin wirklich auch der Todesengel; aber ich, ich bin zugleich der
Bringer eines nie versiegenden höheren Lebens. Beim lebendigen Leibe wirst du
durch mich sterben, um die Wiedergeburt zum unzerstörbaren Dasein zu erleben.
Das Reich, das du nunmehr
betrittst, wird dich bekannt machen mit Wesen übersinnlicher Art. Die Seligkeit
wird dein Anteil in diesem Reiche sein. Aber die erste Bekanntschaft mit dieser
Welt muß ich selbst sein, ich, der ich dein eigenes Geschöpf bin. Früher lebte
ich von deinem eigenen Leben; aber jetzt bin itlh durch dich zu einem eigenen
Dasein erwacht und stehe vor dir als sichtbares Richtmaß deiner künftigen
Taten, vielleicht auch als dein immerwährender Vorwurf. Du konntest mich
schaffen; aber du hast damit auch zugleich die Pflicht übernommen, mich umzuschaffen.»
Was hier, in eine Erzählung
gekleidet, angedeutet ist, hat man sich nicht etwa als etwas Sinnbildliches
vorzustellen, sondern als ein im höchsten Grade wirkliches Erlebnis des
Geheimschülers. [Es ist aus obigem klar, daß der geschilderte «Hüter der
Schwelle» eine solche (astrale) Gestalt ist, welche dem erwachenden höheren
Schauen des Geheimschülers sich offenbart. Und zu dieser übersinnlichen
Begegnung führt die Geheimwissenschaft. Es ist eine Verrichtung niederer Magie,
den «Hüter der Schwelle» auch sinnlich sichtbar zu machen. Dabei handelte es
sich um die Herstellung einer Wolke feinen Stoffes, eines Räucherwerkes, das
aus einer Reihe von Stoffen in bestimmter Mischung hergestellt wird. Die
entwickelte Kraft des Magiers ist dann imstande, gestaltend auf das Räucherwerk
zu wirken und dessen Substanz mit dem noch unausgeglichenen Karma des Menschen
zu beleben. – Wer genügend vorbereitet für das höhere Schauen ist, braucht
dergleichen sinnliche Anschauung nicht mehr; und wem sein noch unausgeglichenes
Karma ohne genügende Vorbereitung als sinnlich lebendiges Wesen vor Augen
träte, der liefe Gefahr, in schlimme Abwege zu geraten. Er sollte nicht danach
streben. In Bulwers «Zanoni» wird romanhaft eine Darstellung dieses «Hüters der
Schwelle» gegeben.]
Der Hüter soll ihn warnen, ja
nicht weiter zu gehen, wenn er nicht die Kraft in sich fühlt, den Forderungen
zu entsprechen, die in der obigen Anrede enthalten sind. So schrecklich die
Gestalt dieses Hüters auch ist, sie ist doch nur die Wirkung des eigenen
vergangenen Lebens des Schülers, ist nur sein eigener Charakter, zu
selbständigem Leben außer ihm erweckt. Und diese Erweckung geschieht durch die
Auseinanderlösung von Wille, Denken und Gefühl. – Schon das ist ein Erlebnis
von tief bedeutungsvoller Art, daß man zum ersten Male fühlt, man habe einem
geistigen Wesen selbst den Ursprung gegeben. – Es muß nun die Vorbereitung des
Geheimschülers dahin zielen, daß er ohne eine jegliche Scheu den schrecklichen
Anblick aushält und daß er im Augenblicke der Begegnung seine Kraft wirklich so
gewachsen fühlt, daß er es auf sich nehmen kann, die Verschönung des «Hüters»
mit vollem Wissen auf sich zu laden.
Eine Folge der glücklich überstandenen Begegnung mit dem
«Hüter der Schwelle» ist, daß der nächste physische Tod dann für den
Geheimschüler ein ganz anderes Ereignis ist, als vorher die Tode waren. Er
erlebt bewußt das Sterben, indem er den physischen Körper ablegt, wie man ein
Kleid ablegt, das abgenutzt oder vielleicht auch durch einen plötzlichen Riß
unbrauchbar geworden ist. Dieser sein physischer Tod ist dann sozusagen eine
erhebliche Tatsache nur für die anderen, welche mit ihm leben und die mit ihren
Wahrnehmungen noch ganz auf die Sinnenwelt beschränkt sind. Für sie «stirbt»
der Geheimschüler. Für ihn ändert sich nichts von Bedeutung in seiner ganzen
Umgebung. Die ganze übersinnliche Welt, in die er eingetreten ist, stand vor
dem Tode schon in entsprechender Art vor ihm, und dieselbe Welt wird auch nach
dem Tode vor ihm stehen. Nun hängt der «Hüter der Schwelle» aber noch mit
anderem zusammen. Der Mensch gehört einer Familie, einem Volke, einer Rasse an;
sein Wirken in dieser Welt hängt von seiner Zugehörigkeit zu einer solchen
Gesamtheit ab. Auch sein besonderer Charakter steht damit im Zusammenhange. Und
das bewußte Wirken der einzelnen Menschen ist keineswegs alles, womit man bei
einer Familie, einem Stamme, Volke, einer Rasse zu rechnen hat. Es gibt ein
Familien-, Volks- (und so weiter) Schicksal, wie es einen Familien-, Rassen-
(und so weiter) Charakter gibt. Für den Menschen, der auf seine Sinne
beschränkt ist, bleiben diese Dinge allgemeine
Begriffe, und der materialistische Denker in seinem Vorurteil wird
verächtlich auf den Geheimwissenschafter herabsehen, wenn er hört, daß für
diesen letzteren der Familien- oder der Volkscharakter, das Stammes- oder
Rassenschicksal ebenso wirklichen Wesen zukommen, wie der Charakter und das
Schicksal des einzelnen Menschen einer wirklichen Persönlichkeit zukommen. Der
Geheimwissenschafter lernt eben höhere Welten kennen, von denen die einzelnen
Persönlichkeiten ebenso Glieder sind, wie Arme, Beine und Kopf Glieder des
Menschen sind. Und in dem Leben einer Familie, eines Volkes, einer Rasse wirken
außer den einzelnen Menschen auch die ganz wirklichen Familienseelen,
Volksseelen, Rassengeister. Ja, in einem gewissen Sinne sind die einzelnen
Menschen nur die ausführenden Organe dieser Familienseelen, Rassengeister und
so weiter. In voller Wahrheit kann man davon sprechen, daß sich zum Beispiel
eine Volksseele des einzelnen zu ihrem Volke gehörigen Menschen bedient, um
gewisse Arbeiten auszuführen. Die Volksseele steigt nicht bis zur sinnlichen
Wirklichkeit herab. Sie wandelt in höheren Welten. Und um in der
physisch-sinnlichen Welt zu wirken, bedient sie sich der physischen Organe des
einzelnen Menschen. Es ist in einem höheren Sinne gerade so, wie wenn sich ein
Bautechniker zur Ausführung der Einzelheiten des Baues der Arbeiter bedient. –
Jeder Mensch erhält im wahrsten Sinne des Wortes seine Arbeit von der
Familien-, Volks- oder Rassenseele zugeteilt. Nun wird der Sinnesmensch jedoch
keineswegs in den höheren Plan seiner Arbeit eingeweiht. Er arbeitet unbewußt an den Zielen der Volks-,
Rassenseelen und so weiter mit. Von dem Zeitpunkte an, wo der Geheimschüler dem
Hüter der Schwelle begegnet, hat er nicht bloß seine eigenen Aufgaben als
Persönlichkeit zu kennen, sondern er muß wissentlich
mitarbeiten an denen seines Volkes, seiner Rasse. Jede Erweiterung seines
Gesichtskreises legt ihm unbedingt auch erweiterte Pflichten auf. Der wirkliche
Vorgang dabei ist der, daß der Geheimschüler seinem feineren Seelenkörper einen
neuen hinzufügt. Er zieht ein Kleid mehr an. Bisher schritt er durch die Welt
mit den Hüllen, welche seine Persönlichkeit einkleiden. Und was er für seine
Gemeinsamkeit, für sein Volk, seine Rasse und so weiter zu tun hatte, dafür
sorgten die höheren Geister, die sich seiner Persönlichkeit bedienten. – Eine
weitere Enthüllung, die ihm nun der «Hüter der Schwelle» macht, ist die, daß
fernerhin diese Geister ihre Hand von ihm abziehen werden. Er muß aus der
Gemeinsamkeit ganz heraustreten. Und er würde sich als Einzelner vollständig in
sich verhärten, er würde dem Verderben entgegengehen, wenn er nun nicht selbst
sich die Kräfte erwürbe, welche den Volks- und Rassengeistem eigen sind. – Zwar
werden viele Menschen sagen: «Oh, ich habe mich ganz frei gemacht von allen
Stammes- und Rassenzusammenhängen; ich will nur "Mensch" und
"nichts als Mensch" sein.» Ihnen muß man aber sagen: Wer hat dich zu
dieser Freiheit gebracht? Hat dich nicht deine Familie so hineingestellt in die
Welt, wie du jetzt darinnen stehst? Hat dich nicht dein Stamm, dein Volk, deine
Rasse zu dem gemacht, was du bist? Sie haben dich erzogen; und wenn du über
alle Vorurteile erhaben, einer der Lichtbringer und Wohltäter deines Stammes
oder selbst deiner Rasse bist, du verdankst das ihrer Erziehung. Ja, auch wenn du von dir sagst, du seiest «nichts
als Mensch»: selbst daß du so geworden bist, verdankst du den Geistern deiner
Gemeinschaften. – Erst der Geheimschüler lernt erkennen, was es heißt, ganz
verlassen sein von Volks-, Stammes-, Rassengeistern. Erst er erfährt an sich
selbst die Bedeutungslosigkeit aller solcher Erziehung für das Leben, das ihm
nun bevorsteht. Denn alles, was an ihm herangezogen ist, löst sich v6llständig
auf durch das Zerreißen der Fäden zwischen Wille, Denken und Gefühl. Er blickt
auf die Ergebnisse aller bisherigen Erziehung zurück, wie man auf ein Haus
blicken müßte, das in seinen einzelnen Ziegelsteinen auseinanderbröckelt und
das man nun in neuer Form wieder aufbauen muß. Es ist wieder mehr als ein
bloßes Sinnbild, wenn man sagt: Nachdem der «Hüter der Schwelle» über seine
ersten Forderungen sich ausgesprochen hat, dann erhebt sich von dem Orte aus,
an dem er steht, ein Wirbelwind, der all die geistigen Leuchten zum Verlöschen
bringt, die bisher den Lebensweg erhellt haben. Und eine völlige Finsternis
breitet sich vor dem Geheimschüler aus. Sie wird nur unterbrochen von dem
Schein, den der «Hüter der Schwelle» selbst ausstrahlt. Und aus der Dunkelheit
heraus ertönen seine weiteren Ermahnungen: «Überschreite meine Schwelle nicht,
bevor du dir klar bist, daß du die Finsternis vor dir selbst durchleuchten
wirst; tue auch nicht einen einzigen Schritt vorwärts, wenn es dir nicht zur
Gewißheit geworden ist, daß du Brennstoff genug in deiner eigenen Lampe hast.
Die Lampen von Führern, welche du bisher hattest, werden dir in der Zukunft
fehlen.» Nach diesen Worten hat der Schüler sich umzuwenden und den Blick nach
hinten zu wenden. Der «Hüter der Schwelle» zieht nunmehr einen Vorhang hinweg,
der bisher tiefe Lebensgeheimnisse verhüllt hat. Die Stammes-, Volks- und
Rassengeister werden in ihrer vollen Wirksamkeit offenbar; und der Schüler
sieht ebenso genau, wie er bisher geführt worden ist, als ihm anderseits klar
wird, daß er nunmehr diese Führerschaft nicht mehr haben wird. Dies ist eine
zweite Warnung, welche der Mensch an der Schwelle durch ihren Hüter erlebt.
Unvorbereitet könnte den hier
angedeuteten Anblick allerdings niemand ertragen; aber die höhere Schulung,
welche dem Menschen überhaupt möglich macht, bis zur Schwelle vorzudringen,
setzt ihn zugleich in die Lage, im entsprechenden Augenblicke die notwendige
Kraft zu finden. Ja, diese Schulung kann eine so harmonische sein, daß dem
Eintritt in das neue Leben jeder erregende oder tumultuarische Charakter
genommen wird. Dann wird für den Geheimschüler das Erlebnis an der Schwelle von
einem Vorgefühl jener Seligkeit begleitet sein, welche den Grundton seines neu
erwachten Lebens bilden wird. Die Empfindung der neuen Freiheit wird alle
anderen Gefühle überwiegen; und mit dieser Empfindung werden ihm die neuen
Pflichten und die neue Verantwortung wie etwas erscheinen, das der Mensch auf
einer Stufe des Lebens übernehmen muß.
Es ist geschildert worden, wie
bedeutsam für den Menschen die Begegnung mit dem sogenannten kleineren Hüter
der «Schwelle» dadurch ist, daß er in diesem ein übersinnliches Wesen gewahr
wird, das er gewissermaßen selbst hervorgebracht hat. Der Leib dieses Wesens
ist zusammengesetzt aus den ihm vorher unsichtbaren Folgen seiner eigenen
Handlungen, Gefühle und Gedanken. Aber diese unsichtbaren Kräfte sind die
Ursachen geworden seines Schicksals und seines Charakters. Es wird nunmehr dem
Menschen klar, wie er in der Vergangenheit selbst die Grundlagen für seine
Gegenwart gelegt hat. Sein Wesen steht dadurch bis zu einem gewissen Grade
offenbar vor ihm. Es sind zum Beispiel bestimmte Neigungen und Gewohnheiten in
ihm. Jetzt kann er sich klarmachen, warum er diese hat. Gewisse
Schicksalsschläge haben ihn getroffen; nun erkennt er, woher diese kommen. Er
wird gewahr, weshalb er das eine liebt, das andere haßt, warum er durch dies
oder jenes glücklich oder unglücklich ist. Das sichtbare Leben wird ihm durch
die unsichtbaren Ursachen verständlich. Auch die wesentlichen Lebenstatsachen,
Krankheit und Gesundheit, Tod und Geburt, entschleiern sich vor seinen Blicken.
Er merkt, daß er vor seiner Geburt
die Ursachen gewoben hat, die ihn notwendig wieder ins Leben hereinführen
mußten. Er kennt nunmehr die Wesenheit in sich, welche in dieser sichtbaren
Welt aufgebaut ist auf eine unvollkommene Art und die auch nur in derselben sichtbaren Welt ihrer Vollkommenheit zugeführt
werden kann. Denn in keiner anderen Welt gibt es eine Gelegenheit, an dem
Ausbau dieser Wesenheit zu arbeiten. Und ferner sieht er ein, daß der Tod ihn
zunächst nicht für immer von dieser Welt trennen kann. Denn er muß sich sagen:
«Ich bin dereinst zum ersten Male in diese Welt gekommen, weil ich damals ein
solches Wesen war, welches das Leben in dieser Welt brauchte, um sich
Eigenschaften zu erwerben, die es sich in keiner anderen Welt hätte erwerben
können. Und ich muß so lange mit dieser Welt verbunden sein, bis ich alles in
mir entwickelt habe, was in ihr gewonnen werden kann. Ich werde dereinst nur
dadurch ein tauglicher Mitarbeiter in einer anderen Welt werden, daß ich mir in
der sinnlich sichtbaren alle die Fähigkeiten dazu erwerbe.» – Es gehört nämlich
zu den wichtigsten Erlebnissen des Eingeweihten, daß er die sinnlich sichtbare
Natur in ihrem wahren Werte besser kennen und schätzen lernt, als er dies vor
seiner Geistesschulung konnte. Diese Erkenntnis wird ihm gerade durch seinen
Einblick in die übersinnliche Welt. Wer einen solchen Einblick nicht getan hat
und sich deshalb vielleicht nur der Ahnung hingibt, daß die übersinnlichen
Gebiete die unendlich wertvolleren sind, der kann die sinnliche Welt
unterschätzen. Wer aber diesen Einblick getan hat, der weiß, daß er ohne die
Erlebnisse in der sichtbaren Wirklichkeit ganz ohnmächtig in der unsichtbaren
wäre. Soll er in der letzteren leben, so
muß er Fähigkeiten und Werkzeuge zu diesem Leben haben. Die kann er sich aber
nur in der sichtbaren erwerben. Er wird geistig sehen müssen, wenn die unsichtbare Welt für ihn bewußt werden soll.
Aber diese Sehkraft für eine «höhere» Welt wird durch die Erlebnisse in der
«niederen» allmählich ausgebildet. Man kann ebensowenig in einer geistigen Welt
mit geistigen Augen geboren werden, wenn man diese nicht in der sinnlichen sich
gebildet hat, wie das Kind nicht mit physischen Augen geboren werden könnte,
wenn diese sich nicht im Mutterleibe gebildet hätten.
Von diesem Gesichtspunkte aus
wird man auch einsehen, warum die «Schwelle» zur übersinnlichen Welt von einem
«Hüter» bewacht wird. Es darf nämlich auf keinen Fall dem Menschen ein
wirklicher Einblick in jene Gebiete gestattet werden, bevor er dazu die
notwendigen Fähigkeiten erworben hat. Deshalb wird jedesmal beim Tode, wenn der
Mensch, noch unfähig zur Arbeit in einer anderen Welt, diese betritt, der
Schleier vorgezogen vor ihren Erlebnissen. Er soll sie erst erblicken, wenn er
ganz dazu reif geworden ist.
Betritt der Geheimschüler die
übersinnliche Welt, dann erhält das Leben für ihn einen ganz neuen Sinn, er
sieht in der sinnlichen Welt den Keimboden für eine höhere. Und in einem
gewissen Sinne wird ihm diese «höhere» ohne die «niedere» als eine mangelhafte
erscheinen. Zwei Ausblicke eröffnen sich ihm. Der eine in die Vergangenheit,
der andere in die Zukunft. In eine Vergangenheit schaut er, in welcher diese
sinnliche Welt noch nicht war. Denn über das Vorurteil, daß die übersinnliche
Welt sich aus der sinnlichen entwickelt habe, ist er längst hinweg. Er weiß,
daß das Übersinnliche zuerst war und daß sich alles Sinnliche aus diesem
entwickelt habe. Er sieht, daß er selbst, bevor
er zum ersten Male in diese sinnliche Welt gekommen ist, einer
übersinnlichen angehört hat. Aber diese einstige übersinnliche Welt brauchte den Durchgang durch die
sinnliche. Ihre Weiterentwickelung wäre ohne diesen Durchgang nicht möglich
gewesen. Erst wenn sich innerhalb des sinnlichen Reiches Wesen entwickelt haben
werden mit entsprechenden Fähigkeiten, kann die übersinnliche wieder ihren
Fortgang nehmen. Und diese Wesenheiten sind die Menschen. Diese sind somit, so
wie sie jetzt leben, einer unvollkommenen Stufe des geistigen Daseins
entsprungen und werden selbst innerhalb derselben zu derjenigen Vollkommenheit
geführt, durch die sie dann tauglich sein werden zur Weiterarbeit an der
höheren Welt. –Und hier knüpft der Ausblick in die Zukunft an. Er weist auf
eine höhere Stufe der übersinnlichen Welt. In dieser werden die Früchte sein,
die in der sinnlichen ausgebildet werden. Die letztere als solche wird
überwunden; ihre Ergebnisse aber einer höheren einverleibt sein.
Damit ist das Verständnis gegeben
für Krankheit und Tod in der sinnlichen Welt. Der Tod ist nämlich nichts
anderes als der Ausdruck dafür, daß die einstige übersinnliche Welt an einem
Punkte angekommen war, von dem aus sie durch sich selbst nicht weitergehen
konnte. Ein allgemeiner Tod wäre notwendig für sie gewesen, wenn sie nicht
einen neuen Lebenseinschlag erhalten hätte. Und so ist dieses neue Leben zu einem
Kampf gegen den allgemeinen Tod geworden. Aus den Resten einer absterbenden, in
sich erstarrenden Welt erblühten die Keime einer neuen. Deshalb haben wir
Sterben und Leben in der Welt. Und langsam gehen die Dinge ineinander über. Die
absterbenden Teile der alten Welt haften noch den neuen Lebenskeimen an, die ja
aus ihnen hervorgegangen sind. Den deutlichsten Ausdruck findet das eben im
Menschen. Er trägt als seine Hülle an sich, was sich aus jener alten Welt
erhalten hat; und innerhalb dieser Hülle bildet sich der Keim jenes Wesens aus,
das zukünftig leben wird. Er ist so ein Doppelwesen, ein sterbliches und ein
unsterbliches. Das Sterbliche ist in seinem End-, das Unsterbliche in seinem
Anfangszustand. Aber erst innerhalb dieser
Doppelwelt, die ihren Ausdruck in dem Sinnlich-Physischen findet, eignet er
sich die Fähigkeiten dazu an, die Welt der Unsterblichkeit zuzuführen. Ja,
seine Aufgabe ist, aus dem Sterblichen selbst die Früchte für das Unsterbliche
herauszuholen. Blickt er also auf sein Wesen, wie er es selbst in der
Vergangenheit aufgebaut hat, so muß er sich sagen: Ich habe in mir die Elemente
einer absterbenden Welt. Sie arbeiten in mir, und nur allmählich kann ich ihre
Macht durch die neuauflebenden unsterblichen brechen. So geht des Menschen Weg vom
Tode zum Leben. Könnte er mit vollem Bewußtsein in der Sterbestunde zu sich
sprechen, so müßte er sich sagen: «Das Sterbende war mein Lehrmeister. Daß ich
sterbe, ist eine Wirkung der ganzen Vergangenheit, mit der ich verwoben bin.
Aber das Feld des Sterblichen hat mir die Keime zum Unsterblichen gereift.
Diese trage ich in eine andere Welt mit hinaus. Wenn es bloß auf das Vergangene
ankäme, dann hätte ich überhaupt niemals geboren werden können. Das Leben des
Vergangenen ist mit der Geburt abgeschlossen. Das Leben im Sinnlichen ist durch
den neuen Lebenskeim dem allgemeinen Tode abgerungen. Die Zeit zwischen Geburt
und Tod ist nur der Ausdruck dafür, wieviel das neue Leben der absterbenden
Vergangenheit abringen konnte. Und die Krankheit ist nichts als die Fortwirkung
der absterbenden Teile dieser Vergangenheit.»
Aus all dem heraus findet die
Frage ihre Antwort, warum der Mensch erst allmählich sich aus Verirrung und
Unvollkommenheit zu der Wahrheit und dem Guten durcharbeitet. Seine Handlungen,
Gefühle und Gedanken stehen zunächst unter der Herrschaft des Vergehenden und
Absterbenden. Aus diesem sind seine sinnlich-physischen Organe herausgebildet.
Daher sind diese Organe und alles, was sie zunächst antreibt, selbst dem
Vergehen geweiht. Nicht die Instinkte, Triebe, Leidenschaften und so weiter und
die zu ihnen gehörigen Organe stellen ein Unvergängliches dar, sondern erst das
wird unvergänglich sein, was als das Werk dieser Organe erscheint. Erst wenn
der Mensch aus dem Vergehenden alles herausgearbeitet hat, was herauszuarbeiten
ist, wird er die Grundlage abstreifen können, aus welcher er herausgewachsen
ist und die ihren Ausdruck in der physisch-sinnlichen Welt findet.
So stellt der erste «Hüter der
Schwelle» das Ebenbild des Menschen in seiner Doppelnatur dar, aus
Vergänglichem und Unvergänglichem gemischt. Und klar zeigt sich an ihm, was
noch fehlt bis zur Erreichung der hehren Lichtgestalt, welche wieder die reine
geistige Welt bewohnen kann.
Der Grad der Verstricktheit mit
der physisch-sinnlichen Natur wird dem Menschen durch den «Hüter der Schwelle»
anschaulich. Diese Verstricktheit drückt sich zunächst in dem Vorhandensein der
Instinkte, Triebe, Begierden, egoistischen Wünsche, in allen Formen des
Eigennutzes und so weiter aus. Sie kommt dann in der Angehörigkeit zu einer
Rasse, einem Volke und so weiter zum Ausdruck. Denn Völker und Rassen sind nur
die verschiedenen Entwickelungsstufen zur reinen Menschheit hin. Es steht eine
Rasse, ein Volk um so höher, je vollkommener ihre Angehörigen den reinen,
idealen Menschheitstypus zum Ausdrucke bringen, je mehr sie sich von dem
physisch Vergänglichen zu dem übersinnlich Unvergänglichen durchgearbeitet
haben. Die Entwickelung des Menschen durch die Wiederverkörperungen in immer
höher stehenden Volks- und Rassenformen ist daher ein Befreiungsprozeß. Zuletzt
muß der Mensch in seiner harmonischen Vollkommenheit erscheinen. – In einer
ähnlichen Art ist der Durchgang durch immer reinere sittliche und religiöse
Anschauungsformen eine Vervollkommnung. Denn jede sittliche Stufe enthält noch
die Sucht nach dem Vergänglichen neben den idealistischen Zukunftskeimen.
Nun erscheint in dem geschilderten «Hüter der Schwelle» nur
das Ergebnis der verflossenen Zeit. Und von den Zukunftskeimen ist nur dasjenige
darinnen, was in dieser verflossenen Zeit hineingewoben worden ist. Aber der
Mensch muß in die zukünftige übersinnliche Welt alles mitbringen, was er aus
der Sinnenwelt herausholen kann. Wollte er nur das mitbringen, was in sein
Gegenbild bloß aus der Vergangenheit hinein verwoben ist, so hätte er seine
irdische Aufgabe nur teilweise erfüllt. Deshalb gesellt sich nun zu dem
«kleineren Hüter der Schwelle» nach einiger Zeit der größere. Wieder soll in
erzählender Form dargelegt werden, was sich als Begegnung mit diesem zweiten
«Hüter der Schwelle» abspielt.
Nachdem der Mensch erkannt hat,
wovon er sich befreien muß, tritt ihm eine erhabene Lichtgestalt in den Weg.
Deren Schönheit zu beschreiben ist schwierig in den Worten unserer Sprache. –
Diese Begegnung findet statt, wenn sich die Organe des Denkens, Fühlens und
Wollens auch für den physischen Leib so weit voneinander gelöst haben, daß die
Regelung ihrer gegenseitigen Beziehungen nicht mehr durch sie selbst, sondern
durch das höhere Bewußtsein geschieht, das sich nun ganz getrennt hat von den
physischen Bedingungen. Die Organe des Denkens, Fühlens und Wollens sind dann
die Werkzeuge in der Gewalt der menschlichen Seele geworden, die ihre
Herrschaft über sie aus übersinnlichen Regionen ausübt. – Dieser so aus allen
sinnlichen Banden befreiten Seele tritt nun der zweite «Hüter der Schwelle»
entgegen und spricht etwa folgendes: «Du hast dich losgelöst aus der
Sinnenwelt. Dein Heimatrecht in der übersinnlichen Welt ist erworben. Von hier
aus kannst du nunmehr wirken. Du brauchst um deinetwillen deine physische
Leiblichkeit in gegenwärtiger Gestalt nicht mehr. Wolltest du dir bloß die
Fähigkeit erwerben, in dieser übersinnlichen Welt zu wohnen, du brauchtest
nicht mehr in die sinnliche zurückzukehren. Aber nun blicke auf mich. Sieh, wie
unermeßlich erhaben ich über all dem stehe, was du heute bereits aus dir
gemacht hast. Du bist zu der gegenwärtigen Stufe deiner Vollendung gekommen
durch die Fähigkeiten, welche du in der Sinnenwelt entwickeln konntest, solange
du noch auf sie angewiesen warst. Nun aber muß für dich eine Zeit beginnen, in
welcher deine befreiten Kräfte weiter an dieser Sinnenwelt arbeiten. Bisher
hast du nur dich selbst erlöst, nun kannst du als ein Befreiter alle deine
Genossen in der Sinnenwelt mitbefreien. Als einzelner hast du bis heute
gestrebt; nun gliedere dich ein in das Ganze, damit du nicht nur dich
mitbringst in die übersinnliche Welt, sondern alles andere, was in der
sinnlichen vorhanden ist. Mit meiner Gestalt wirst du dich einst vereinigen
können, aber ich kann kein Seliger sein, solange es noch Unselige gibt! Als
einzelner Befreiter möchtest du immerhin schon heute in das Reich des
Übersinnlichen eingehen. Dann aber würdest du hinabschauen müssen auf die noch
unerlösten Wesen der Sinnenwelt. Und du hättest dein Schicksal von dem ihrigen
getrennt. Aber ihr seid alle miteinander verbunden. Ihr mußtet alle
hinabsteigen in die Sinnenwelt, um aus ihr heraufzuholen die Kräfte für eine
höhere. Würdest du dich von ihnen trennen, so mißbrauchtest du die Kräfte, die
du doch nur in Gemeinschaft mit ihnen hast entwickeln können. Wären sie nicht
hinabgestiegen, so hättest es auch du nicht können; ohne sie fehlten dir die
Kräfte zu deinem übersinnlichen Dasein. Du mußt diese Kräfte, die du mit ihnen errungen hast, auch mit ihnen
teilen. Ich wehre dir daher den Einlaß in die höchsten Gebiete der
übersinnlichen Welt, solange du nicht alle
deine erworbenen Kräfte zur Erlösung deiner Mitwelt verwendet hast. Du
magst mit dem schon Erlangten dich in den unteren Gebieten der übersinnlichen
Welt aufhalten; vor der Pforte zu den höheren stehe ich aber <als der Cherub
mit dem feurigen Schwerte vor dem Paradiese> und wehre dir den Eintritt so
lange, als du noch Kräfte hast, die unangewendet geblieben sind in der
sinnlichen Welt. Und willst du die deinigen nicht anwenden, so werden andere
kommen, die sie anwenden; dann wird eine hohe übersinnliche Welt alle Früchte
der sinnlichen aufnehmen; dir aber wird der Boden entzogen sein, mit dem du
verwachsen warst. Die geläuterte Welt wird sich über dich hinausentwickeln. Du
wirst von ihr ausgeschlossen sein. So ist dein Pfad der schwarze, jene aber, von welchen du dich gesondert hast, gehen den weißen Pfad.»
So kündigt sich der «große Hüter»
der Schwelle bald an, nachdem die Begegnung mit dem ersten Wächter erfolgt ist.
Der Eingeweihte weiß aber ganz genau, was ihm bevorsteht, wenn er den Lockungen
eines vorzeitigen Aufenthaltes in der übersinnlichen Welt folgt. Ein
unbeschreiblicher Glanz geht von dem zweiten Hüter der Schwelle aus; die
Vereinigung mit ihm steht als ein fernes Ziel vor der schauenden Seele. Doch
ebenso steht da die Gewißheit, daß diese Vereinigung erst möglich wird, wenn
der Eingeweihte alle Kräfte, die ihm aus dieser Welt zugeflossen sind, auch aufgewendet
hat im Dienste der Befreiung und Erlösung dieser Welt. Entschließt er sich, den
Forderungen der höheren Lichtgestalt zu folgen, dann wird er beitragen können
zur Befreiung des Menschengeschlechts. Er bringt seine Gaben dar auf dem
Opferaltar der Menschheit. Zieht er seine eigene vorzeitige Erhöhung in die
übersinnliche Welt vor, dann schreitet die Menschheitsströmung über ihn hinweg.
Für sich selbst kann er nach seiner Befreiung aus der Sinnenwelt keine neuen
Kräfte mehr gewinnen. Stellt er ihr seine Arbeit doch zur Verfügung, so
geschieht es mit dem Verzicht, aus der Stätte seines ferneren Wirkens selbst
für sich noch etwas zu holen. Man kann nur nicht sagen, es sei
selbstverständlich, daß der Mensch den weißen Pfad wählen werde, wenn er so vor
die Entscheidung gestellt wird. Das hängt nämlich ganz davon ab, ob er bei
dieser Entscheidung schon so geläutert ist, daß keinerlei Selbstsucht ihm die
Lockungen der Seligkeit begehrenswert erscheinen läßt. Denn diese Lockungen
sind die denkbar größten. Und auf der anderen Seite sind eigentlich gar keine
besonderen Lockungen vorhanden. Hier spricht gar nichts zum Egoismus. Was der
Mensch in den höheren Regionen des Übersinnlichen erhalten wird, ist nichts,
was zu ihm kommt, sondern lediglich etwas, das von ihm ausgeht: die Liebe zu
seiner Mitwelt. Alles, was der Egoismus verlangt, wird nämlich durchaus nicht
entbehrt auf dem schwarzen Pfade. Im Gegenteil: die Früchte dieses Pfades sind
gerade die vollkommenste Befriedigung des Egoismus. Und will jemand nur für
sich die Seligkeit, so wird er ganz gewiß diesen schwarzen Pfad wandeln, denn
er ist der für ihn angemessene. – Es darf daher niemand von den Okkultisten des
weißen Pfades erwarten, daß sie ihm eine Anweisung zur Entwickelung des eigenen
egoistischen Ich geben werden. Für die Seligkeit des einzelnen haben sie nicht
das allergeringste Interesse. Die mag jeder für sich erreichen. Sie zu
beschleunigen ist nicht die Aufgabe der weißen Okkultisten. Diesen liegt
lediglich an der Entwickelung und Befreiung aller Wesen, die Menschen und
Genossen des Menschen sind. Daher geben sie nur Anweisungen, wie man seine
Kräfte zur Mitarbeit an diesem Werke ausbilden kann. Sie stellen daher die
selbstlose Hingabe und Opferwilligkeit allen anderen Fähigkeiten voran. Sie weisen
niemand geradezu ab, denn auch der Egoistischste kann sich läutern. Aber wer
nur für sich etwas sucht, wird, solange er das tut, bei den Okkultisten nichts
finden. Selbst wenn diese ihm nicht ihre Hilfe entziehen; er, der Suchende,
entzieht sich den Früchten der Hilfeleistung. Wer daher wirklich den
Anweisungen der guten Geheimlehrer folgt, wird nach dem Übertreten der Schwelle
die Forderungen des großen Hüters verstehen; wer diesen Anweisungen aber nicht
folgt, der darf auch gar nicht hoffen, daß er je zur Schwelle durch sie kommen
werde. Ihre Anweisungen führen zum Guten oder aber zu gar nichts. Denn eine
Führung zur egoistischen Seligkeit und zum bloßen Leben in der übersinnlichen
Welt liegt außerhalb der Grenzen ihrer Aufgabe. Diese ist von vornherein so
veranlagt, daß sie den Schüler so lange von der überirdischen Welt fernhält,
bis dieser sie mit dem Willen zur hingebenden Mitarbeit betritt.