Das
Mongolenjoch
Das zwanzigste Jahrhundert nach der Geburt Christi war das Zeitalter der
letzten großen Kriege, innerer Zwiste und Umwälzungen. Der bedeutendste dieser
äußeren Kriege war aus jener geistigen Bewegung entstanden, die gegen Ende des
neunzehnten Jahrhunderts in Japan aufgekommen war. Man nannte diese Bewegung
den Panmongolismus.
In jeder Hinsicht zur Nachahmung begabt, nahmen die Japaner schnell und mit
überraschendem Erfolg die äußeren Formen der Kultur Europas an, wobei sie sich
auch einige europäische Ideen von untergeordneter Bedeutung zunutze machten. So
hatten sie durch Zeitungen und geschichtliche Lehrbücher vom Bestehen des
Panhellenismus, Pangermanismus, Panslawismus und Panislamismus in Europa gehört
und proklamierten daher ihrerseits die große Idee des Panmongolismus, das heißt
der Vereinigung aller Völker Ostasiens unter ihrer Führung. Das Hauptziel
dieser Vereinigung sollte der Entscheidungskampf gegen die Fremden, also die
Europäer sein.
Unter Ausnützung der Tatsache, daß Europa zu Beginn des zwanzigsten
Jahrhunderts damit beschäftigt war, der Welt des Islams ein Ende zu bereiten,
begannen die Japaner mit der Verwirklichung ihres großen Programms. Sie nahmen
zuerst Korea ein, später Peking, wo sie unter Mithilfe der fortschrittlichen
Partei Chinas die alte Mandschu-Dynastie stürzten und diese durch eine
japanische ersetzten. Es gelang ihnen auch, sich rasch mit den chinesischen
Konservativen zu verständigen. Diese begriffen, daß es gut sei, von zwei Übeln
das kleinere zu wählen, und daß unter Umständen ein Verwandter auch ein Bruder
sein kann.
Die staatliche Unabhängigkeit des alten chinesischen Reiches konnte nicht
aufrechterhalten werden; entweder mußte China sich den Europäern oder Japanern
unterwerfen. Es lag auf der Hand, daß eine japanische Herrschaft in keiner
Weise den Charakter des nationalen Lebens verändern könnte, auch wenn dadurch
die äußeren Formen der chinesischen Regierung beseitigt würden, die sich ohnedies
vor aller Augen als unzulänglich erwiesen hatten — eine Vorherrschaft
europäischer Völker hingegen bedeutete schon aus Politik heraus die
Unterstützung der christlichen Mission und bedrohte damit die geistigen
Grundlagen Chinas.
Der Nationalhaß der Chinesen gegen die Japaner stammte aus einer Zeit, in der
beiden Völkern die Europäer noch unbekannt waren. Mit deren Auftreten in
Ostasien mußte diese alte Feindschaft zu einem Bruderzwist und schließlich
sinnlos werden. Die Europäer waren völlig Fremde und nur Feinde. Ihre
Vorherrschaft konnte in keiner Weise der Eigenliebe der Rasse schmeicheln. In
den Händen Japans erblickten die Chinesen hingegen die süße Lockspeise des
Panmongolismus, der zugleich in ihren Augen auch die harte Notwendigkeit rechtfertigte,
sich äußerlich europäisieren zu müssen.
Ohne Unterlaß sprachen die Japaner auf sie ein: "Eigensinnige Brüder,
versteht doch, daß wir die Technik der Hunde aus dem Westen übernehmen, nicht,
weil wir eine Vorliebe für sie haben, sondern, um sie mit ihren eigenen Waffen
zu schlagen. Wenn Ihr Euch mit uns vereinigt und unserer Führung folgt, werden
wir die weißen Teufel nicht nur bald aus Asien verjagt haben, wir werden
darüber hinaus ihr eigenes Gebiet erobern und erst das wahre Reich der Mitte
begründen, das die Vorherrschaft über die ganze Welt haben wird. Ihr habt recht
mit Eurem Nationalstolz und Eurer Verachtung der Europäer, aber es ist nur zu
Eurem Schaden, wenn Ihr diese Empfindungen nur durch Träumereien nährt, statt
die notwendige Tatkraft zu entfalten. Wir, die Euch in dieser Hinsicht
vorausgegangen sind, wir zeigen auch Euch den Weg des gemeinsamen Interesses.
Seht doch, was Euch Eure Politik genützt hat, jene Politik der
Selbstzufriedenheit und des Mißtrauens gegen uns, Eure Freunde und natürlichen
Verteidiger! Es hat wenig dazu gefehlt, daß Rußland und England, Deutschland
und Frankreich China zur Gänze untereinander aufgeteilt hätten. Eure mit dem
Mute eines Tigers vollführten Anschläge haben nur die Wirkung des so kraftlosen
Endchens eines Schlangenschwanzes gezeigt."
Einsichtsvolle Chinesen fanden solche Überlegungen für begründet und auf diese
Weise festigte die japanische Dynastie ihre Macht. Sie arbeitete naturgemäß vor
allem am Aufbau einer mächtigen Armee und einer starken Flotte. Der größte Teil
der japanischen Kriegsmacht wurde nach China verlegt und diente dort als Kader
für das neue gewaltige Heer. Die japanischen Offiziere, die das Chinesische
sprachen, waren ungleich erfolgreicher in der Ausbildung als die nunmehr
entlassenen europäischen Instruktionsoffiziere. Die zahllose Bevölkerung Chinas
mit der Mandschurei, der Mongolei und Tibet stellte ein unerschöpfliches
Kraftreservoir zur Verfügung.
Nach kurzer Zeit schon konnte der erste Sohn des Himmels aus der japanischen
Dynastie die Waffen des neu erstandenen Kaiserreiches siegreich erproben. Er
vertrieb die Franzosen aus Tonking und Siam, die Engländer aus Birma und
vereinigte ganz Indo-China mit dem Reich der Mitte.
Sein Nachfolger – Chinese von der Mutter her – verschmolz in seinem Charakter
chinesische List und Schlauheit mit der Wendigkeit und Energie des Japaners. Er
mobilisierte in Chinesisch-Turkestan eine Armee von vier Millionen Mann.
Während das Zun-li-jamyn dem russischen Gesandten vertraulich mitteilte, diese
Armee sei zur Eroberung Indiens bestimmt, drang der Kaiser in das russische
Zentralasien ein, brachte dort die ganze Bevölkerung in Aufruhr, überschritt in
Eilmärschen den Ural und überflutete mit seinen Heeresmassen Ost- und
Mittelrußland. Russische Truppen aus Polen und Litauen, aus Kiew und Wilna, aus
Petersburg und Finnland wurden in aller Eile alarmiert und zusammengezogen.
Da der Kriegsplan vorher nicht mehr festgelegt werden konnte, und auch der
Feind an Zahl außerordentlich überlegen war, konnten die russischen Truppen
ihre kriegerischen Vorzüge nur in einer wenigstens ehrenvollen Niederlage
erweisen. Die Wucht des Angriffs ließ ihnen keine Zeit für einen geordneten
Aufmarsch: Ein Armeekorps nach dem anderen wurde in blutigen und verzweifelten
Kämpfen vernichtet. Zwar bezahlten auch die Mongolen diesen Sieg teuer, doch
konnten sie ihre Verluste mühelos ersetzen; sie waren im Besitz aller
Eisenbahnlinien Asiens, während eine russische Armee von zweihunderttausend
Mann, die schon seit langem an der mandschurischen Grenze bereitstand, den
mißlungenen Versuch machte, in das geschickt verteidigte China einzubrechen.
Der Kaiser ließ einen Teil seines Heeres in Rußland zurück, der dort die
Bildung neuer Streitkräfte verhindern und die sich rasch vermehrenden Partisanenverbände
verfolgen sollte, mit drei Armeen aber überschritt er selbst die Grenze
Deutschlands. Hier hatte man indessen Zeit gefunden, den Widerstand
vorzubereiten: Eine der mongolischen Armeen wurde vernichtend geschlagen. Aber
in Frankreich gewann damals eine Partei verspäteter Revanche die Oberhand, und
alsbald hatten die Deutschen eine Million Bajonette im Rücken. Die deutsche
Armee geriet zwischen Hammer und Amboß. Sie sah sich gezwungen, die ehrenvollen
Bedingungen der Entwaffnung anzunehmen, die ihr der Sohn des Himmels anbot.
Die Franzosen triumphierten. Sie verbrüderten sich mit den Gelben und ergossen
sich über ganz Deutschland. Rasch verloren sie jedoch jede militärische
Disziplin. Der Sohn des Himmels befahl seinen Truppen, die nun lästigen
Bundesgenossen zu vernichten; dieser Befehl wurde mit chinesischer
Gründlichkeit durchgeführt. In Paris brach ein Aufstand der Kommune aus, und
freudig öffnete die Hauptstadt der westlichen Kultur ihre Tore dem Beherrscher
des Ostens.
Nachdem der Sohn des Himmels so seine Neugierde befriedigt hatte, wandte er
sich nach dem Kanalhafen Boulogne. Unter dem Schutze einer aus dem Pazifik
eingelaufenen Flotte wurde dort eine Armada ausgerüstet, welche die mongolische
Armee nach Großbritannien übersetzen sollte.
Seine Geldnot benutzten die Engländer, um sich mit einer Milliarde Pfund
Sterling von einer solchen Invasion loszukaufen. Im Verlaufe eines einzigen
Jahres waren alle europäischen Staaten zu Satelliten des Herrschers Asiens
geworden. Nun kehrte er unter Zurücklassung einer aus- reichenden
Besatzungsarmee nach dem Osten zurück, um eine Landungsexpedition gegen Amerika
und Australien zu unternehmen.
Indessen geht Europa einem halben Jahrhundert des neuen Mongolenjochs entgegen.
Das Geistesleben dieser Epoche war durch eine allgemeine Vermischung
gekennzeichnet, nämlich eine tiefe und wechselseitige Durchdringung
europäischer und orientalischer Ideen. Kurz, es wiederholte sich im großen der
antike Synkretismus nach dem Tode Alexanders. — In den äußeren Bezirken des
Lebens bestimmten diese Epoche drei Tatsachen: Das Einströmen chinesischer und
japanischer Arbeiter verschärfte die soziale Frage erheblich. Ihre Lösung
versuchten die herrschenden Klassen durch Kompromisse zu erreichen, ohne das
Übel mit der Wurzel zu beseitigen. Gleichzeitig bildeten sich
Geheimorganisationen, die sich international verbanden, um die Mongolen zu
vertreiben und die Unabhängigkeit Europas wiederherzustellen.
Diese gewaltige Verschwörung, an der sich auch die nationalen Regierungen
beteiligten – soweit dies unter der Kontrolle der mongolischen Statthalter
möglich war – wurde meisterhaft vorbereitet und gelang glänzend. Zur
vereinbarten Stunde begann die Niedermetzelung der mongolischen Soldaten. Auch
die asiatischen Arbeiter wurden getötet oder vertrieben. Überall kamen Kader
europäischer Armeen zum Vorschein, die bis dahin im geheimen gearbeitet hatten.
Die allgemeine Mobilmachung wurde nach einem seit langem bis in alle
Einzelheiten vorbereiteten Plan durchgeführt.
Der neue Sohn des Himmels, ein Enkel des großen Eroberers, verließ China, um
sich in aller Eile nach Rußland zu begeben. Dort aber wurden seine unzähligen
Streitkräfte von der Armee des Vereinigten Europa vernichtend geschlagen. Ihre
zerstreuten Überreste kehrten nach Innerasien zurück. Europa war befreit. Die
fünfzigjährige Unterjochung durch die Barbaren Asiens war die Folge der
Uneinigkeit eigensüchtiger Nationalstaaten, seine große und ruhmreiche
Befreiung hingegen der Erfolg einer internationalen Organisation, in der die
Kräfte des ganzen Europa sich vereinigt hatten. Diese wichtige Erfahrung hatte
daher auch ihre natürliche Auswirkung. Der bisherige einzelstaatliche
Nationalismus verlor allgemein an Bedeutung. Zugleich stürzten fast überall die
letzten Reste alter monarchischer Einrichtungen zusammen.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert war Europa zu einer Union von mehr oder
weniger demokratischen Staaten geworden: den Vereinigten Staaten von Europa.
Die Entwicklung der Zivilisation war durch den Einfall der Mongolen und durch
die Anstrengungen des Befreiungskampfes gehemmt worden; nun nahm sie einen
raschen Aufschwung. Die ewigen Fragen des Menschengeistes nach dem Sinn des
Lebens, dem Tod und dem endlichen Schicksal der Welt waren durch die neuesten
Erkenntnisse auf dem Gebiete der Physiologie und Psychologie nur noch
verwickelter geworden und blieben immer noch ungelöst. Nur ein einziges, wenn
auch negatives Resultat trat offen zutage: der völlige Zusammenbruch des
theoretischen Materialismus.
Es konnte einen denkenden Menschen nicht mehr befriedigen, sich das Weltall als
ein System kreisender Atome vorzustellen oder das Geheimnis des Lebens sich
mechanisch und als Summe kleinster Veränderungen in der Materie zu erklären.
Die Menschheit hatte für immer den Zustand der philosophischen Unmündigkeit
hinter sich gelassen. Zugleich waren die Menschen auch über den naiven
Kinderglauben, der auf die Vernunft verzichtet, hinausgewachsen.
Auch in den Elementarschulen wurde nicht mehr gelehrt, Gott habe die Welt aus
dem Nichts geschaffen. Über diese Dinge waren die Auffassungen anspruchsvoller
geworden und kein Dogmatismus durfte mehr unter dieses Niveau herabsinken. Aber
wenn auch die Masse der denkenden Menschen jeden Glauben verloren hatte, so
sahen im Gegensatz dazu die wenigen Gläubigen die Notwendigkeit ein, Denker zu
werden. Sie befolgten das Wort des Apostels: "Seid Kinder dem Herzen nach,
nicht nach dem Geiste!"
Der Übermensch
In jener Zeit trat unter
diesen Gläubigen ein bedeutender Mann auf – viele hielten ihn für einen
Übermenschen –, der weder einen primitiven Geist besaß, noch auch freilich dem
Herzen nach ein Kind war. Obgleich er erst dreiunddreißig Jahre zählte, war er
durch seinen Genius schon als Denker, Schriftsteller und Sozialreformer
berühmt. Trotzdem er um seine große Begabung wußte, unterwarf er sich aus
Überzeugung den Geboten des Geistes. So ließ ihn sein klarer Verstand stets
auch die Wahrheit des Glaubens erkennen, des Glaubens an das Gute, an Gottes
Dasein und an die Offenbarung des Messias. Er glaubte an dies alles, aber er
liebte nur sich selbst. Er glaubte an Gott, doch im Abgrund seines Herzens gab
er sich selbst unwillkürlich und ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, vor
Gott den Vorzug.
Er glaubte auch an das Gute, doch das Auge der Ewigkeit, dem nichts verborgen
bleibt, sah, daß dieser Mensch sich vor der Macht des Bösen beugen würde, wenn
diese ihn nur zu verführen wüßte – nicht durch Befriedigung von Gefühlen und
niederen Leidenschaften, nicht einmal durch die gefährliche Versuchung der Macht
– sondern allein dadurch, daß sie seiner maßlosen Selbstliebe schmeicheln
würde.
Diese Selbstliebe war aber weder ein instinktiver Drang, noch eine sinnlose
Anmaßung. Denn seine außerordentlichen Gaben, seine Schönheit, sein vornehmes
Wesen schienen zusammen mit zahlreichen Beweisen von Enthaltsamkeit,
Uneigennützigkeit und Wohltätigkeit genügend die ungeheure Selbstliebe zu
rechtfertigen, die den Charakter dieses großen Spiritualisten, Asketen und
Menschenfreundes bestimmte. Wer hätte ihn anklagen dürfen, daß er in der Fülle
dieser Gottesgaben ein sichtbares Zeichen der Auserwählung von oben her
erblickte und sich als den Zweiten nach Gott, als den in seiner Art einzigen
Sohn Gottes ansah? Mit einem Wort, er hielt sich für Jenen, der in Wahrheit
Christus allein ist.
Doch das Bewußtsein seiner hohen Würde war für ihn nicht eine sittliche
Verpflichtung gegenüber Gott und der Welt, vielmehr ein Vorrecht gegenüber
seinen Nächsten und vor allem gegenüber Christus. Nicht, daß er von Anfang an
Jesus gehaßt hätte, nein, er anerkannte dessen messianische Berufung und Würde.
In gutem Glauben sah er in Ihm nur seinen großen Vorläufer. Diesem von der
Selbstliebe trunkenen Verstand blieb die sittliche Sendung und die einzigartige
Erscheinung Christi unfaßbar.
Er urteilte so: "Christus ist vor mir gekommen, ich komme als zweiter. Was
aber in der Zeit nachfolgt, ist seinem Wesen nach übergeordnet. Ich komme am
Ende der Geschichte, weil ich der vollkommene und endgültige Erlöser bin. Der
erste Christus ist mein Vorläufer. Seine Aufgabe war, mir vorauszugehen und
meine Erscheinung vorzubereiten."
Daher bezog der große Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts alles auf sich,
was im Evangelium von der Wiederkunft des Herrn gesagt wird. Er erklärte diese
Wiederkunft nicht als die Rückkehr des ersten Christus, sondern so, daß nunmehr
der Vorläufer durch den wahren Christus ersetzt würde, nämlich durch ihn
selbst.
Auf dieser Stufe des Selbstbewußtseins war der kommende Mann noch wenig
originell und charakteristisch. Auch Mohammed hatte sein Verhältnis zu
Christus ähnlich aufgefaßt. Und Mohammed war gerecht und konnte keiner bösen
Absicht bezichtigt werden.
Im übrigen suchte dieser Mensch seine Selbsteinschätzung, mit der er sich über
Christus erhob, noch durch folgende Überlegung zu rechtfertigen: "Christus
hat durch Predigt und lebendiges Beispiel des Sittengesetzes die Menschheit
gebessert. Ich aber bin ausersehen, der Beglücker aller Menschen zu sein, seien
sie schon gebessert, seien sie unverbesserlich.
Ich werde allen Menschen das geben, dessen sie bedürfen. Christus hat als
Moralist die Menschen nach Guten und Bösen geschieden, ich aber werde sie durch
Wohltaten wieder vereinigen, die sowohl die Guten als auch die Bösen nötig
haben. Ich werde der wahre Statthalter Gottes sein, der seine Sonne scheinen
läßt für Gute und Böse in gleicher Weise, der Regen spendet den Gerechten und
Ungerechten. Christus hat das Schwert gebracht, ich hingegen werde den Frieden
bringen. Er bedrohte die Erde mit der Furchtbarkeit des Jüngsten Gerichtes, ich
aber werde der letzte Richter sein und mein Gericht wird nicht nur
Gerechtigkeit, sondern vor allem Gnade offenbaren. Gewiß wird auch mein Urteil
gerecht sein, doch ich will nicht vergelten, sondern schenken. Ich kenne jeden,
wie er ist, und werde ihm nach seiner Bedürftigkeit zuteilen."
In dieser erhabenen Stimmung erwartet er, Gott werde ihn ausdrücklich zu neuer
Heilstat an der Menschheit berufen. Er erwartet ein sichtbares und leuchtendes
Zeichen, das ihm als dem ältesten Sohn, dem geliebten Erstgeborenen Gottes
Zeugnis geben werde. Er wartet und nährt seine Selbstliebe durch das Bewußtsein
seiner Tugenden und seiner übernatürlichen Gaben. Denn er war ja der Mensch
ohne Tadel und der Inbegriff der Genialität.
So erwartet dieser stolze Gerechte die Anerkennung des Höchsten, um die
Errettung der Menschheit zu beginnen. — Aber er wird des Wartens müde. Er ist
schon dreißig Jahre, doch noch vergehen drei Jahre. Da durchzuckt ihn ein
Gedanke wie ein Fieberschauer bis ins Mark der Knochen: "Aber wenn? ...
Wenn nicht ich es wäre, sondern der andere? ... Der Galiläer? ... Wenn er doch
nicht mein Vorläufer wäre, sondern der Wahre, der Erste und der Letzte: ...
Aber dann müßt Er ja leben ... Wo aber ist Er? ... Könnte Er nicht zu mir
kommen? ... Gleich, hier? ... Was würde ich zu Ihm sagen? Ich müßte mich vor
ihm beugen wie der einfältigste Christ ... Wie ein russischer Bauer ohne
Verstand murmeln: 'Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner Sünden', ... oder
ich müßte mich wie ein Polenweib mit ausgebreiteten Armen vor Ihm zu Boden
werfen. – Ich, der erhabene Genius, ich, der Übermensch ... Nein,
niemals!"
Aus seinem Herzen erhebt sich das Entsetzen und verdrängt die einstige kalte
und vernünftige Achtung vor Gott. Es wächst immer mehr an und schlägt endlich
in verzehrenden Neid um, der ihn bedrückt und sein ganzes Wesen erfaßt. Ein
wütender Haß flammt in ihm auf: "Ich, ich bin es – nicht Er! Er ist gar
nicht mehr unter den Lebenden und niemals mehr wird Er unter ihnen weilen, nie
ist Er auferstanden! Verwest ist Er, verfault im Grabe wie der letzte ..."
Schaum vor dem Munde, entflieht er in jagender Hast dem Hause, dem Garten, in
die unheimliche und finstere Nacht hinaus. Er eilt einen steinigen Saumpfad
bergan. Allmählich legt sich seine Wut. Sie macht einer Hoffnungslosigkeit
Platz, die so ausgebrannt und lastend wie diese Felsen, die so dunkel wie diese
Nacht ist. Vor einem jähen Abgrund bleibt er stehen, aus der Tiefe hört er
einen tosenden Wildbach, der über Geröll hinabstürzt. Eine wilde Qual preßt
sein Herz.
Plötzlich rührt etwas an sein Inneres: "Soll ich Ihn beschwören, Ihn
fragen, was ich tun soll?" In der Finsternis erblickt er ein sanftes und
trauriges Gesicht. "Er hat Mitleid mit mir ... nein, niemals! Er ist nie
auferstanden!"
Und er stürzt sich in den Abgrund.
Doch da hält ihn etwas Unfaßbares, etwas wie eine Wassersäule auf. Er fühlt
eine Erschütterung wie von einem elektrischen Schlage, und eine geheimnisvolle
Kraft wirft ihn zurück. Für einen Augenblick verliert er das Bewußtsein. Als er
wieder zu sich kommt, liegt er wenige Schritte vor dem Abgrund auf den Knien.
Vor ihm erstrahlt wie durch Nebel in phosphorischem Licht ein Gesicht. Zwei
Augen bohren sich mit unerträglichem und schneidendem Glanz in seine Seele.
Erstarrt unter diesem hypnotischen Blick hört er eine Stimme, ohne erraten zu
können, ob sie aus seinem Innern oder von außen her kommt. Es ist eine seltsame
Stimme, dumpf und dennoch klar, aber seelenlos wie schwingendes Metall.
So, als käme sie aus einer Sprechmaschine, spricht sie ihn an: "Du bist
mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe! Warum hast Du nicht
mich gesucht? Warum hast Du jenen anderen vorgezogen, den Falschen und seinen
Vater? Dein Gott und Dein Vater bin ich. Jener Bettler aber, der Gekreuzigte,
ist mir und Dir fremd. Ich habe keinen anderen Sohn als Dich. Du bist der
Einzige, der Eingeborene, der Ebenbürtige. Ich liebe Dich und ich fordere
nichts von Dir. Du bist so schön, so groß und so mächtig. Vollbringe Dein Werk
in Deinem, nicht in meinem Namen. Kein Neid gegen Dich ist in mir. Ich liebe
Dich und ich will nichts von Dir. Der andere, jener, von dem Du geglaubt hast,
Er sei Gott, forderte von seinem Sohn Gehorsam, unbegrenzten Gehorsam bis zum
Kreuzestod — und dann verließ Er ihn. Ich aber werde Dir helfen, ohne etwas von
Dir zu fordern. Aus einer uneigennützigen Liebe zu Dir, um Deiner Würde willen
werde ich Dir helfen. Empfange meinen Geist! Wie einst mein Geist Dich in
Schönheit hervorgehen ließ, so wird er Dich jetzt in Kraft neu erstehen lassen."
Bei diesen Worten des Geheimnisvollen öffneten sich unwillkürlich die Lippen
des Übermenschen. Seinem Gesicht näherten sich die zwei durchdringenden Augen.
Er fühlte, wie ein eiskaltes Feuer ihn durchströmte und sein ganzes Wesen
erfüllte. Aber zugleich empfand er auch eine nie gekannte Kraft, Kühnheit,
Unbeschwertheit und Begeisterung.
Im selben Augenblick erlosch die schimmernde Erscheinung und mit ihr das
Augenpaar. Irgendetwas erhob den Übermenschen weit über die Erde hinaus und
ließ ihn ebenso plötzlich wieder in seinem Garten, an der Schwelle des Hauses
nieder.
Am nächsten Tage waren nicht nur die Besucher, sondern auch die Diener des
großen Mannes erstaunt über den vergeistigten Ausdruck seines Gesichtes. Sie
wären noch mehr überrascht gewesen, hätten sie sehen können, wie er,
eingeschlossen in seinem Arbeitszimmer, mit übernatürlicher Schnelligkeit und
Leichtigkeit sein berühmtes Werk schrieb, das den Titel trug: "Offener Weg
zum Weltfrieden und allgemeinen Wohlstand."
Die früheren Schriften und die soziale Tätigkeit des Übermenschen hatten manche
strenge Kritik gefunden. Doch diese Kritik war hauptsächlich von rein
religiösen Menschen geübt worden, die allein schon deshalb keinen Einfluß
besaßen. — Denn es ist ja von jenen Zeiten die Rede, m denen der Antichrist
auftrat. Daher hatte man auch kaum auf die Kritiker gehört, die in allen Werken
und Reden dieses Mannes der Zukunft Anzeichen einer außerordentlichen
Selbstliebe, eines starken Dünkels und den Mangel jeder Einfachheit und wahren
Herzenswärme betonten. Sein neues Werk gewann aber selbst einige seiner
bisherigen Kritiker und Gegner.
Dieses Buch, unmittelbar nach dem Erlebnis am Abgrunde geschrieben, offenbarte
eine vorher noch unbekannte Kraft seines Genies. Es war etwas Allumfassendes,
in dem sich alle Widersprüche lösten. Hier vereinigten sich vornehme
Ehrerbietung vor den Überlieferungen und Symbolen der Vergangenheit und
weitgehender kühner Radikalismus in den politischen wie sozialen Sehnsüchten
und Forderungen, unbegrenzte Gedankenfreiheit und tiefstes Verständnis der
Mystik, bedingungsloser Individualismus mit begeisterter Hingabe an das
Allgemeinwohl, erhabener Idealismus in den Prinzipien und Bestimmtheit wie
Lebenserfahrung in den praktischen Entscheidungen.
Und dies alles war durch ein so ideales Künstlertum vereinigt und verbunden,
daß jeder Denker und jeder Praktiker das Ganze als seine Meinung auffassen
konnte, also ohne etwas für die Wahrheit selbst zu opfern, ohne sich ihretwegen
über sein eigenes Ich erheben zu müssen und ohne von seiner eigenen
Befangenheit oder seinen Irrtümern ablassen und ihre Mängel berichtigen zu
müssen. In kurzer Zeit wurde dieses erstaunliche Buch in alle Kultursprachen
und sogar in die Sprachen mehrerer Kolonialvölker übersetzt. Ein ganzes Jahr
hindurch waren die Spalten tausender Zeitungen in allen Teilen der Welt
ausgefüllt mit Anpreisungen der Verleger und begeisterten Besprechungen der
Kritiker. Billige, mit dem Bild des Autors ausgestattete Volksausgaben wurden
in Millionen Exemplaren verbreitet. Die ganze Kulturwelt – zu dieser Zeit schon
fast der ganze Erdball – war erfüllt vom Ruhme dieses unvergleichlichen, großen
und einzigartigen Mannes.
Niemand widersprach diesem Buch, schien es doch tatsächlich die Offenbarung der
ungeteilten Wahrheit zu sein. Hier wurde die Vergangenheit mit so viel
Gerechtigkeit beurteilt, die Gegenwart so unparteiisch und allseitig gewertet,
die schönere Zukunft so überzeugend und anschaulich der Gegenwart nahegebracht,
daß jedermann sagte: "Das ist es, was wir nötig haben, hier ist ein Ideal,
das keine Utopie und kein Hirngespinst ist." – Der begnadete
Schriftsteller begeisterte nicht nur die ganze Welt, er war auch jedermann
angenehm.
So erfüllte sich das Wort Christi: "Ich kam im Namen meines Vaters und Ihr
nehmt mich nicht auf; ein anderer aber wird in seinem eigenen Namen kommen und
diesen werdet Ihr aufnehmen." Um aufgenommen zu werden, muß man angenehm
sein. Allerdings fragten sich einige gottesfürchtige Männer, die im übrigen das
Buch sehr lobten, warum Christus darin nicht ein einziges Mal erwähnt würde.
Darauf antworteten andere Christen: "Gott sei Dank! In den vergangenen
Jahrhunderten wurde alles Heilige oft genug von unberufenen Eiferern entweiht,
so daß heute ein wirklich religiöser Schriftsteller hierin sehr vorsichtig sein
muß. Wenn aber der Inhalt eines Buches vom wahren Geist des Christentums, von
tätiger Liebe und allumfassender Güte durchdrungen ist, was braucht es da noch
mehr?" Und damit gaben sich alle zufrieden.
Das Friedensreich des Imperators
Bald nach Erscheinen dieses Werkes, das seinen Verfasser zum volkstümlichsten
Mann machte, der je gelebt hatte, sollte in Berlin die konstituierende
Versammlung der Vereinigten Staaten Europas stattfinden.
Dieser Bund hatte sich nach einer Reihe äußerer und innerer Kriege gebildet,
die als Folge der Befreiung vom Mongolenjoch die Karte Europas grundlegend
verändert hatten. Nun aber war der Bund durch Konflikte gefährdet, die aber
nicht mehr zwischen den Nationen, sondern unter den politischen und sozialen
Parteien ausgetragen wurden.
Die Verantwortlichen der europäischen Gesamtpolitik – sie gehörten zur
mächtigen Brüderschaft der Freimaurer – kamen zur Überzeugung, daß eine
gemeinsame Exekutivmacht notwendig sei. Die europäische Einheit, die nach so
vielen Anstrengungen errungen worden war, lief ständig Gefahr, wieder zu
zerfallen.
Im Bundesrat oder dem Verwaltungsdirektorium (Comité Permanent Universel)
herrschte keine Einstimmigkeit, da es nicht gelungen war, alle führenden
Stellen mit "eingeweihten" Freimaurern zu besetzen. Im Rate selbst
schlossen die unabhängigen Mitglieder untereinander Sonderabkommen und damit
drohte ein neuer Krieg. Angesichts dieser Gefahr beschlossen die
"eingeweihten" Freimaurer, die vollziehende Gewalt einer einzigen
Person zu übertragen, welche mit hinreichenden Vollmachten ausgestattet werden
sollte.
Der geeignetste Kandidat war ein insgeheimes Mitglied des Ordens, eben jener
Mann der Zukunft. Er war die einzige Persönlichkeit mit weltberühmtem Namen.
Durch gelehrte Arbeiten auf dem Gebiete der Artillerie und durch sein Vermögen
mächtiger Kapitalist, unterhielt er überall enge Beziehungen zu Kreisen der
Hochfinanz und der Armee. In weniger aufgeklärten Zeiten hätte ihm der Makel
seiner Ungewissen Herkunft geschadet. Seine Mutter, eine Person von
fragwürdigem Vorleben, war in beiden Hemisphären wohl bekannt und unter vielen,
sehr verschiedenen Männern hatten alle das gleiche Recht, sich für seinen Vater
zu halten. In einem so fortschrittlichen Jahrhundert, das sogar das letzte sein
sollte, konnten ihm derartige Umstände natürlich überhaupt nicht schaden.
Fast einstimmig wurde der Mann der Zukunft auf Lebenszeit zum Präsidenten der
"Vereinigten Staaten von Europa" gewählt.
Als er im überirdischen Glanz seiner jugendlichen Schönheit und Kraft auf der
Tribüne erschien und mit hinreißendem Pathos sein Weltprogramm darlegte,
beschloß die Versammlung in auflodernder Begeisterung, ihm die höchste Ehre
zuteil werden zu lassen. Durch Zuruf wurde ihm der Titel eines römischen
Imperators verliehen.
Der große Auserwählte erließ ein Manifest, das mit den Worten begann:
"Völker der Erde! Meinen Frieden gebe ich Euch!" und mit den Sätzen
schloß: "Völker der Erde! Die Verheißungen haben sich erfüllt! Der ewige
Weltfriede ist gesichert. Jeder Versuch, ihn zu stören, wird sofort auf
unüberwindlichen Widerstand stoßen. Denn von jetzt an gibt es auf der Erde nur
eine einzige Macht, die stärker ist als alle anderen Mächte, mögen diese
getrennt oder gemeinsam vorgehen wollen. Diese Macht ist in meiner Hand
vereinigt, in der Hand des bevollmächtigten Auserwählten Europas, in der Hand
des Herrschers über alle seine Kräfte. Das Völkerrecht besitzt jetzt endlich
jene Sanktionen, die ihm bisher fehlten, von nun an wird kein Staat zu erklären
wagen ‚Krieg!', wenn ich sage ‚Friede!' — Völker der Erde, der Friede sei mit
Euch!"
Das Manifest hatte den erwünschten Erfolg. Überall außerhalb Europas, besonders
aber in Amerika, bildeten sich starke imperialistische Parteien, die ihre
Regierungen veranlaßten, unter verschiedenen Bedingungen mit den Vereinigten
Staaten von Europa unter der Führung des Römischen Imperators Bündnisse
einzugehen.
Da und dort gab es in Asien noch unabhängige Stämme und Reiche. Mit einem
kleinen, aber auserlesenen Heer aus Russen, Deutschen, Polen, Ungarn und Türken
unternahm der Imperator einen militärischen Spaziergang von Ostasien bis
Marokko und unterwarf fast ohne Blutvergießen alle noch ungehorsamen Völker. In
den Ländern beider Hemisphären setzte er seine Statthalter ein, die er unter
den ihm ergebenen und europäisch gebildeten einheimischen Großen erwählte. In
allen heidnischen Ländern rief ihn die Bevölkerung unter dem Eindruck seiner
bezaubernden Persönlichkeit zur obersten Gottheit aus.
Ein Jahr hatte genügt, um die Weltmonarchie im wahrsten Sinne des Wortes zu
begründen. Alle Kriegsursachen wurden mit der Wurzel beseitigt. Der Weltbund
der Pazifisten trat zum letzten Male zusammen, feierte auf seinem letzten
Kongreß begeistert den Kaiser des allgemeinen Friedens und löste sich dann auf,
da sein Ziel erreicht war.
Zu Beginn des zweiten Jahres seiner Regierung erließ der Imperator ein neues
Manifest: "Völker der Erde! Ich habe Euch den Frieden gegeben, den ich
Euch versprochen habe. Doch nur bei Wohlstand ist der Friede begehrenswert.
Wenn jemand im Frieden von Not und Elend bedroht ist, dann erquickt auch der
Friede nicht. So kommt denn alle zu mir, die Ihr hungert und friert, ich will
Euch speisen und ich will Euch bekleiden."
Im Anschluß daran verkündete er jene einfache und umfassende Sozialreform, mit
der er schon in seinem Buche alle bedeutenden und vernünftigen Köpfe gewonnen
hatte. Dank der einheitlichen Verwaltung und Kontrolle der Weltfinanzen sowie
eines gewaltigen Grundbesitzes konnte der Imperator diese Reform durchführen.
Er befriedigte die Armen, ohne die Reichen allzu fühlbar zu treffen. Jeder
erhielt seinen Anteil entsprechend den Fähigkeiten, die er durch Arbeit und
Verdienst bewies.
Der neue Weltherrscher war vor allem ein mitleidiger Menschenfreund, aber er liebte
und schützte auch die Tiere. Er selbst war Vegetarier, verbot die Vivisektion
und stellte die Schlachthäuser unter strenge Kontrolle. Den Tierschutzvereinen
wurde seine besondere Förderung zuteil. Weit wichtiger als diese Anordnungen
war der Erlaß eines Grundgesetzes, das entsprechend der allgemeinen Gleichheit
der Menschen auch die Gleichheit in der Ernährung festlegte.
Diese Reform wurde im zweiten Jahre seiner Regierung durchgeführt. Damit war
die soziale und die wirtschaftliche Frage endgültig gelöst. Wenn aber die
Sättigung für die Hungernden das Wichtigste ist, so haben die Gesättigten
andere Bedürfnisse. Selbst satte Tiere wollen gewöhnlich nicht nur schlafen,
sondern auch spielen. Wieviel mehr die Menschen! Immer noch haben sie nach dem
Brot auch Spiele verlangt. Der kaiserliche Übermensch wußte, was seine Völker
begehrten.
Während eines Aufenthaltes in Rom suchte ihn ein Wundertäter aus dem Fernen
Osten auf, den wie eine Wolke merkwürdige Erzählungen und seltsame Legenden
begleiteten. Der Wundertäter sollte nach Gerüchten, die unter den Neobuddhisten
verbreitet waren, göttlichen Ursprungs sein: der Sohn des Sonnengottes Surja
und einer Flußnymphe.
Der Wundertäter, der sich Apollonius nannte, war unbestreitbar ein genialer
Mensch. Seiner Abstammung nach halb Asiate, halb Europäer, war er als
katholischer Bischof in der Heidenmission tätig. In einzigartiger Weise
vereinigte er die Kenntnis der jüngsten theoretischen Ergebnisse der
Wissenschaft des Westens samt ihrer technischen Anwendung mit der Beherrschung
von Theorie und Praxis alles dessen, was die überlieferte Mystik des Ostens an
Gültigem und Bedeutendem hervorgebracht hatte. Die Früchte einer solchen
geistigen Synthese waren erstaunlich. So besaß er unter anderem die halb
wissenschaftliche, halb magische Gabe, die atmosphärische Elektrizität nach
seinem Willen anzuziehen und zu lenken. Das Volk sagte, er hole das Feuer vom
Himmel. Immer wieder aber fesselte er die Phantasie der Massen durch unerhörte
Gaukeleien, doch nie mißbrauchte er seine Macht, um niedrigen Zwecken zu
dienen.
Dieser Mann erschien nun vor dem großen Imperator. Er huldigte ihm als dem
wahren Sohn Gottes, über den er in Geheimbüchern des Ostens bedeutsame
Voraussagen entdeckt hätte. Dort sei zu lesen, der Imperator werde in dieser
Würde zugleich der letzte Erlöser und Richter der Welt sein. Schließlich
stellte er sich selbst und seine Kunst dem Imperator zur Verfügung. Der
Imperator sah in ihm ein Geschenk des Himmels, zeichnete ihn mit prunkenden
Titeln aus und machte ihn zu seinem ständigen Begleiter. So erhielten die
Völker der Erde zu den Wohltaten des Weltfriedens und der Befriedigung ihres
Hungers auch noch die Möglichkeit, sich ohne Unterlaß an den
verschiedenartigsten und überraschendsten Wundern und Zaubereien zu ergötzen.
Damit ging das dritte Jahr der Regierung des Übermenschen zu Ende.
Der Große Abfall
Nach der glücklichen Lösung der politischen und sozialen Probleme verblieb noch
die religiöse Frage. Der Imperator griff sie selbst auf — vor allem im Hinblick
auf das Christentum. Dessen Situation war damals etwa folgende: Trotzdem die
Zahl seiner Bekenner sich beträchtlich vermindert hatte und auf der ganzen Erde
nur mehr fünfundvierzig Millionen Christen umfaßte, war die Kirche sittlich
gefestigt und innerlich gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen. Sie hatte an
Innerlichkeit gewonnen, was sie an Zahl verloren hatte.
Christen, die nur noch dem Namen nach als solche galten, gab es fast nicht
mehr. Da auch die anderen christlichen Bekenntnisse in gleichem Maße an
Gläubigen eingebüßt hatten, standen sie untereinander fast in dem früheren
Verhältnis. In ihrer wechselseitigen Einschätzung war zwar die alte Feindschaft
noch nicht völlig erloschen, aber doch beträchtlich gemildert. Jedenfalls
hatten die Gegensätze ihre einstige Schärfe verloren.
Lange schon war der Papst aus Rom vertrieben worden. Nach langen Irrfahrten
fand er schließlich in Petersburg ein Asyl, doch nur unter der Bedingung, sich
dort und innerhalb Rußlands jeder Glaubenspropaganda zu enthalten. Im russischen
Exil wurde die äußere Erscheinung des Papsttums bedeutend vereinfacht. Im
wesentlichen blieb zwar der Bestand an Kollegien und Offizien erhalten, doch
vergeistigte sich ihre Aufgabe, zugleich mit einer Einschränkung der
glanzvollen Repräsentation auf das Mindestmaß. Viele sonderbare und bedenkliche
Gebräuche wurden zwar nicht in aller Form abgeschafft, verschwanden aber von
selbst.
In allen übrigen Ländern, besonders in Nordamerika, verfügte die katholische
Hierarchie noch über zahlreiche Repräsentanten mit einem festen Willen,
unermüdlicher Tatkraft und in unabhängiger Stellung. Entschlossener noch als
früher verteidigten sie die Einheit der katholischen Kirche und ihren alle
Völker der Erde umfassenden ökumenischen Anspruch.
Der Protestantismus war nach wie vor in Deutschland am stärksten vertreten,
besonders, nachdem ein bedeutender Teil der anglikanischen Kirche zum
Katholizismus zurückgekehrt war. Er hatte sich von allen radikalen und
zersetzenden Strömungen befreit und deren Anhänger waren offen in religiöse
Gleichgültigkeit, ja, in den Unglauben verfallen. So verblieben im
evangelischen Bekenntnis nur aufrichtige Gläubige, die zu ihren Führern Männer
von umfassender Bildung und tiefer Frömmigkeit hatten. Diese Männer wünschten,
durch sich selbst ein lebendiges Beispiel des Urchristentums zu geben.
Die russische Orthodoxie hatte durch die politischen Ereignisse ihren Charakter
als staatliche Einrichtung eingebüßt und dadurch zwar Millionen, die sich nur
dem Namen nach zu ihr bekannten, verloren, dafür aber die Freude erlebt, daß
der beste Teil der Altgläubigen und selbst viele Sektierer von
positiv-religiöser Richtung sich wieder mit ihr vereinigten. In ihrer geistigen
Kraft erneuert, nahm indessen die Orthodoxie nicht an Zahl der Bekenner zu,
doch erwies sich die Kraft ihres Geistes im Kampf gegen die radikalen Sekten,
deren Zahl im einfachen Volk, wie unter den Gebildeten ständig zunahm, und die
dabei dämonischer und satanischer Züge nicht entbehrten.
In den ersten zwei Jahren der neuen Herrschaft waren alle Christen verängstigt
und erschöpft durch die unaufhörlichen Kriege und Revolutionen. So standen sie
dem neuen Herrscher und seinen Friedensreformen teils mit wohlwollender
Erwartung, teils mit erklärter Sympathie und sogar lebhafter Begeisterung
gegenüber. Im dritten Jahre jedoch, als der große Magier auftrat, erwachte in
vielen Orthodoxen, Katholiken und Protestanten Furcht und Abneigung.
Nun begann man, jene Stellen im Evangelium und bei den Aposteln, die den
Fürsten dieser Welt und den Antichrist betreffen, aufmerksamer zu lesen und
eifriger auszulegen. An gewissen Anzeichen erkannte der Imperator, daß sich
gegen ihn ein Unwetter zusammenzog. Er beschloß, ihm zuvorzukommen.
Zu Beginn des vierten Regierungsjahres erließ der Imperator ein Manifest an
seine treuen Christen aus allen Bekenntnissen. Er forderte sie auf,
bevollmächtigte Vertreter zu einem ökumenischen Konzil zu erwählen oder zu
bestimmen, das unter seinem Vorsitz zusammentreten sollte.
In dieser Zeit wurde die kaiserliche Residenz von Rom nach Jerusalem verlegt.
Palästina war damals eine autonome Provinz, die in der Hauptsache von Juden
bewohnt und verwaltet wurde. Jerusalem, bisher eine Freistadt, wurde nunmehr
zur kaiserlichen Residenz erhoben. Die christlichen Heiligtümer blieben
unberührt. Auf der ganzen weiten Plattform Charam-esch-Scheriff, von Birket
Israin und der heutigen Kaserne bis zu den Ställen Salomos wurde ein
Kolossalbau errichtet, der außer zwei kleinen Moscheen auch den weitläufigen
"Tempel zur Vereinigung aller Kulte" einschloß. Ferner umfaßte der
riesige Palast auch zwei prächtige kaiserliche Schlösser mit Bibliotheken,
Museen und besonderen Räumen für magische Versuche und Übungen. In diesem
Gebäude, halb Tempel, halb Palast, sollte am vierzehnten September das
ökumenische Konzil eröffnet werden.
Da der Protestantismus Priester im eigentlichen Sinne des Wortes nicht kennt,
beschlossen die katholischen und orthodoxen Hierarchen, einem Wunsche des
Imperators zu entsprechen und eine gewisse Anzahl von Laien, die sich durch
Frömmigkeit und Kirchentreue auszeichneten, an dem Konzil teilnehmen zu lassen.
Damit waren alle Glieder der Christenheit in gleicher Weise vertreten. Waren
nun aber einmal die Laien zugelassen, so konnte man auch die niedrige
Geistlichkeit, Ordensleute und Weltpriester, nicht ausschließen. Dadurch
überschritt die Gesamtzahl der Mitglieder des Konzils dreitausend Personen;
dazu kam noch etwa eine halbe Million christlicher Pilger, die Jerusalem und
ganz Palästina überfluteten.
Drei Mitglieder des Konzils ragten besonders hervor. Vor allem Papst Petrus
II., das rechtmäßige Haupt der katholischen Abordnung. Sein Vorgänger war auf
dem Wege zum Konzil gestorben und ein in Damaskus abgehaltenes Konklave hatte
einstimmig den Kardinal Simone Barionini zum Papst gewählt. Als solcher hatte
er den Namen Petrus angenommen. Aus einer armen Familie der Provinz Neapel
gebürtig, war er als Prediger des Karmeliterordens bekannt geworden. Als
solcher hatte er sich große Verdienste im Kampf mit einer satanischen Sekte
erworben, die sich in Petersburg und dessen Umgebung ausgebreitet und nicht nur
Orthodoxe, sondern auch Katholiken verführt hatte. Zuerst Erzbischof von
Mogilew, wurde er später zum Kardinal ernannt und war vor allen anderen für die
Tiara ausersehen.
Etwa fünfzig Jahre alt, war der neue Papst von mittlerem Wuchs und kräftigem
Körperbau. Er hatte ein rötliches Gesicht, aus dem unter buschigen Augenbrauen
eine gebogene Nase vorsprang. Sein impulsives Wesen ließ ihn mit Feuer
sprechen, wobei er seine Worte mit weit ausholenden Gesten unterstrich. Seine
Rede riß die Zuhörer mehr hin, als daß er sie überzeugte.
Den Weltherrscher betrachtete der neue Papst mißtrauisch, ja ablehnend, seit
sein verstorbener Vorgänger auf der Reise zum Konzil dem Drängen des Imperators
nachgegeben und den kaiserlichen Kanzler und Magier zum Kardinal ernannt hatte,
jenen exotischen Bischof Apollonius, den Petrus für einen zweifelhaften
Katholiken, aber für einen unzweifelhaften Gaukler hielt.
Der tatsächliche, wenn auch nicht offizielle Sprecher der Orthodoxie war der
Mönch Johannes; er wurde vom einfachen Volke Rußlands allgemein verehrt.
Obgleich er sich offiziell als Bischof zur Ruhe gesetzt hatte, lebte er nicht
einsam im Kloster, sondern wanderte im Lande umher. Zahlreiche Legenden waren
über ihn im Umlauf. Einige behaupteten, in ihm sei Fjodor Kusmitsch, nämlich
der Zar Alexander I., der vor etwa dreihundert Jahren geboren war,
auferstanden.
Andere gingen noch weiter und erklärten, er sei der Apostel und Evangelist Johannes,
der in Wahrheit niemals gestorben sei und in der letzten Zeit sich offen zeige.
Indessen sprach Vater Johannes selbst niemals über seine Herkunft und seine
Jugend.
Jetzt war Johannes ein hochbetagter, aber noch rüstiger Greis, und das Weiß
seiner Locken und seines wallenden Bartes hatte bereits einen gelblichen, ins
Grünliche übergehenden Schimmer. Er war hoch gewachsen und hager, hatte aber
volle, rosig angehauchte Wangen und einen lebhaften, glänzenden Blick. Auf
seinem Antlitz zeigte sich rührende Güte, die auch seine Reden
charakterisierte. Stets trug er eine weiße Soutane und darüber einen
ebensolchen Mantel.
Die protestantische Abordnung auf dem Konzil wurde von Professor Ernst Pauli
angeführt, einem gelehrten deutschen Theologen. Das war ein kleiner
vertrockneter Greis mit gewaltiger Stirn, spitzer Nase und einem glatt
rasierten Kinn. Aus seinen Augen sprach ein heftiges, doch gutmütiges Wesen.
Jeden Augenblick rieb er sich die Hände, schüttelte den Kopf und runzelte
schrecklich die Augenbrauen, ließ dann die Lippen hängen und murmelte
schließlich mit funkelnden Augen und dumpfer Stimme: "So! Nun! Ja! So
also!" Er war stets feierlich gekleidet: eine weiße Krawatte zu einem
langen Pastorenrock, der mit Orden geschmückt war. Die Eröffnung des Konzils
war eindrucksvoll.
Zwei Drittel des gewaltigen "Tempels zur Vereinigung aller Kulte"
wurden von Bänken und anderen Sitzen für die Teilnehmer des Konzils, ein
Drittel von einer hohen Tribüne eingenommen. Dort standen hinter dem Thron des
Imperators und dem ein wenig niedrigeren Thronsessel des großen Magiers,
Kardinals und kaiserlichen Kanzlers lange Reihen von Sitzen für die Minister,
Hofleute und Staatssekretäre. Zu beiden Seiten befanden sich noch längere
Reihen von Sitzen, deren Bestimmung aber niemand kannte. Auf den Galerien
hatten Musikorchester Platz genommen. Zwei Garderegimenter und eine Batterie
waren auf dem nahen Platz zur Abgabe der Ehrensalven angetreten. Die Mitglieder
des Konzils hatten ihre Gottesdienste in den verschiedenen Kirchen abgehalten,
so daß die Eröffnung des Konzils einen vollkommen weltlichen Charakter trug.
Als der Imperator, an seiner Seite der große Magier und hinter ihm ein
zahlreiches Gefolge, die Halle betrat, spielten die Orchester den "Marsch
der Vereinigten Menschheit", der zugleich als kaiserliche und
internationale Hymne diente. Die Konzilsteilnehmer erhöben sich von ihren
Sitzen und riefen, ihre Hüte schwenkend, dreimal laut: "Vivat! Hurra!
Hoch!" Der Imperator stellte sich neben seinen Thron und nach einer majestätischen
Gebärde des Wohlwollens sprach er mit volltönender und angenehmer Stimme zur
Versammlung:
"Christen
aller Bekenntnisse! Meine geliebten Untertanen und Brüder!
Seit Beginn
meiner Regierung, die der Höchste mit so wunderbaren und ruhmvollen Werken gesegnet
hat, habe ich noch keinen Anlaß gefunden, mit Euch unzufrieden zu sein. Immer
habt Ihr Eure Pflicht erfüllt, so wie es Euch Glaube und Gewissen geboten. Aber
das ist mir nicht genug. Die innige Liebe zu Euch, meine teuren Brüder, dürstet
darnach, erwidert zu werden. Ich wünsche von Herzen, daß Ihr mich nicht aus
Pflichtgefühl, vielmehr aus aufrichtiger Liebe anerkennt als Euren Führer in
allem, was zum Heile der Menschheit erforderlich ist. Daher möchte ich außer
den Wohltaten, die ich allen angedeihen lasse, Euch noch eine besondere Gnade
erweisen.
Christen, womit
könnte ich Euch beglücken? Was soll ich Euch gewähren, nicht als meinen
Untertanen, sondern als meinen Brüdern und Glaubensgenossen? Christen! Sagt
mir, was Ihr am Christentum am meisten liebt, damit ich meine Bemühungen darauf
richte!"
Der Imperator hielt inne und wartete, während sich im Tempel ein dumpfes
Murmeln erhob. Die Mitglieder des Konzils sprachen leise miteinander. Papst
Petrus gestikulierte heftig und erklärte irgend etwas seiner Umgebung.
Professor Pauli schüttelte das Haupt und verzog zornig die Lippen, Vater
Johannes wandte sich einem orthodoxen Bischof und einem Kapuziner zu und sprach
leise auf sie ein.
Der Imperator hatte ein wenig gewartet. Nun wandte er sich von neuem an das
Konzil, doch klang nun in dem freundlichen Ton eine leichte, kaum erkennbare
Ironie mit.
"Liebe Christen", sprach er, "ich verstehe wohl, daß es Euch
nicht leicht fällt, mir ohne weiteres zu antworten. Ich will Euch dabei helfen.
Zu Eurem Unglück seid Ihr seit undenklichen Zeiten in verschiedene Bekenntnisse
und Parteien gespalten. Daher gibt es vielleicht unter Euch nichts, was Ihr
gemeinsam am meisten schätzt. Wenn Ihr aber untereinander selbst nicht einig
werden könnt, dann hoffe ich, alle Eure Parteien zu einigen dadurch, daß ich
allen die gleiche Liebe erweise und die gleiche Bereitschaft, die wahren
Wünsche eines jeden zu befriedigen.
Liebe Christen! Ich weiß, daß vielen von Euch, und darunter nicht den
Geringsten, die geistliche Autorität seiner gesetzmäßigen Repräsentanten im
Christentum das Teuerste ist — einer Autorität, die es selbstverständlich nicht
zu deren persönlichen Vorteil, sondern zum Wohle aller gewährt, da ja auf ihr
die geregelte Ordnung des Geistes und die moralische Disziplin beruht, die
beide niemand entbehren kann.
Liebe katholische Brüder! Oh, wie verstehe ich Eure Ansicht und wie gerne
möchte ich meine Herrschaft auf die Autorität Eures geistigen Oberhauptes
stützen! Damit Ihr aber nicht glaubt, dies seien Schmeicheleien oder leere
Worte, erklären wir in aller Feierlichkeit: Kraft unseres unumschränkten
Willens wird von nun an der oberste Bischof aller Katholiken, der römische
Papst, wieder auf seinen Thron in Rom eingesetzt mit allen früheren Rechten und
allen Vorrechten des päpstlichen Stuhles, Rechten, die von unseren Vorgängern
bis auf Konstantin den Großen zugesichert wurden. Von Euch aber, liebe
katholische Brüder, verlange ich dafür nur die Anerkennung meiner Person als
Eures einzigen Verteidigers und Beschützers. Wer sich dazu nach Gefühl und
Gewissen bekennen kann, möge hierher, zu mir treten."
Dabei wies er auf die leeren Plätze der Tribüne.
Mit freudigen Ausrufen "Gratias agimus, Domine! Saivum fac magnum
imperatorem ..." stiegen fast alle Fürsten der katholischen Kirche,
Kardinäle und Bischöfe, die Mehrzahl der gläubigen Laien und mehr als die
Hälfte der Mönche auf die Tribüne, verbeugten sich dort tief vor dem Imperator
und nahmen die für sie bereitgehaltenen Sitze ein. Doch unten, inmitten der
Versammlung, blieb Papst Petrus II. sitzen, aufrecht und unbeweglich wie eine
Marmorstatue. Alle, die ihn umgeben hatten, saßen jetzt auf der Tribüne. Die
gelichtete Menge der Mönche und Laien, die unten geblieben war, näherte sich
ihm und umgab ihn in einem dichten Kreis, aus dem verhaltene Rufe laut wurden:
"Non pracvalebunt, non praevalebunt portae inferni!"
Der Imperator blickte erstaunt den in unbeweglicher Ruhe verharrenden Papst an.
Von neuem erhob er seine Stimme:
"Liebe
Brüder! Ich weiß wohl, daß es einige unter Euch gibt, für die das Teuerste im
Christentum die heilige Überlieferung, die alten Symbole, die alten Hymnen und
Gebete, die Ikonen und die Liturgie sind. Und in der Tat: Was kann einer
frommen Seele teurer sein als diese?
Vernehmet,
Geliebte, daß ich heute eine Urkunde unterschrieb und reiche Mittel aussetzte
für die Errichtung eines Weltmuseums der christlichen Archäologie in unserer
ruhmreichen Kaiserstadt Konstantinopel. Dort sollen die Denkmäler des
kirchlichen Altertums und besonders der Ostkirche gesammelt, erforscht und
aufbewahrt werden. Euch aber bitte ich, morgen aus Eurer Mitte eine Kommission
zu wählen, die mit mir jene Maßnahmen prüfen soll, die geeignet erscheinen, die
Sitten und Gebräuche des modernen Lebens soweit als möglich den Überlieferungen
und Vorschriften der heiligen orthodoxen Kirche anzugleichen.
Meine Brüder aus
der Orthodoxie! Alle, die im Herzen den gleichen Wunsch hegen wie ich, alle,
die mich aufrichtig ihren Führer und Herrn nennen können, mögen zu mir
heraufsteigen."
Die meisten der Hierarchen
des Ostens und Nordens, die Hälfte der einstigen Altgläubigen, mehr als die
Hälfte aller orthodoxen Priester, Mönche und Laien bestieg daraufhin mit
Freudenrufen die Tribüne, nicht ohne heimliche Seitenblicke auf die Katholiken,
die dort schon stolz Platz genommen hatten. Vater Johannes aber seufzte tief
auf, ohne sich von der Stelle zu rühren. Als die Schar um ihn sich stark
gelichtet hatte, verließ er seinen Sitz und setzte sich in die Nähe des Papstes
Petrus und seines Anhanges. Ihm folgten auch die anderen Orthodoxen, die nicht
auf die Tribüne gegangen waren.
Neuerlich ergriff der Imperator das Wort:
"Ich kenne
auch solche unter Euch, liehe Christen, denen im Christentum die persönliche
Überzeugung von der Wahrheit und die freie Erforschung der Heiligen Schrift
über alles geht. Was ich selbst davon halte, muß ich wohl nicht betonen. Denn
Ihr wißt vielleicht, daß ich schon in meiner Jugend ein großes Werk über die
Bibelkritik veröffentlicht habe, das damals Aufsehen erregte und meinen Ruhm
begründete. In Erinnerung daran hat mich wahrscheinlich auch dieser Tage die
Universität Tübingen gebeten, von ihr die Würde eines Ehrendoktors der
Theologie anzunehmen. Ich habe antworten lassen, daß ich diese Ehrung mit
Freude und Dank annehme.
Heute aber habe
ich zugleich mit der Gründung des Museums für das christliche Altertum auch die
Errichtung eines Weltinstitutes zur freien Erforschung der Heiligen Schrift
beschlossen.
Dieses Institut
wird die Heilige Schrift nach allen nur möglichen Richtungen und von allen
Gesichtspunkten aus durchforschen und den dazu erforderlichen
Hilfswissenschaften jede Förderung angedeihen lassen. Für diesen Zweck habe ich
eine Summe von anderthalb Millionen Mark jährlich ausgesetzt. Wer von Euch
diese aufrichtige Absicht gutheißt und mich ohne Gewissenszweifel als Oberhaupt
anerkennt, nehme hier seinen Platz neben dem neuen Ehrendoktor der Theologie
ein."
Bei diesem Worte verzog sich der schöne Mund des großen Mannes zu einem
eigenartigen Lächeln.
Mehr als die Hälfte der gelehrten Theologen ging auf die Tribüne zu, wenngleich
auch zögernd und schwankend. Alle blickten sie auf Professor Pauli, der auf
seinem Sitze wie angewurzelt schien. Er hielt sein Haupt gesenkt und saß in
sich zusammengesunken da. — Einige der gelehrten Theologen, die auf die Tribüne
stiegen, wurden unter diesem Anblick verlegen. Einer von ihnen streckte
plötzlich abwehrend die Hände aus, sprang zurück und lief ein wenig hinkend zu
Professor Pauli und der kleinen, noch bei ihm verbliebenen Schar. Dieser erhob
nun das Haupt, stand etwas unsicher auf, ging, von seinen Glaubensgenossen
gefolgt, an den verlassenen Bänken vorbei und ließ sich neben dem Vater
Johannes und Papst Petrus und deren Anhängern nieder.
Auf der Tribüne befand sich nun die überwiegende Mehrheit des Konzils und mit
ihr fast die gesamte Hierarchie des Ostens und Westens.
Unten waren nur drei kleine Gruppen verblieben, die sich, nahe zusammengerückt,
um Vater Johannes, Papst Petrus und Professor Pauli scharrten. Mit trauriger
Stimme wandte sich nun der Imperator an sie: "Was kann ich noch für Euch
tun, Sonderlinge, die Ihr seid? "Was verlangt Ihr von mir? Ich weiß es
nicht. Sagt es mir doch selbst. Ihr Christen, die Ihr von der Mehrzahl Eurer
Bruder und Eurer Führer verlassen und durch die Stimme der Völker verurteilt
seid, sagt es mir doch selbst, was Ihr am Christentum am meisten schätzt!"
Da erhob sich, weiß wie eine Kerze, der greise Vater Johannes und antwortete
mit sanfter Stimme: "Großer Herrscher! Christus selbst ist uns das Teuerste
am Christentum. - Er selbst und alles, was von Ihm kommt, denn wir wissen, daß
in Ihm die ganze Fülle der Gottheit wohnt. Von Dir aber, Herrscher, sind wir
bereit, jede Wohltat anzunehmen, wenn wir nur in Deiner mildtätigen Hand die
heilige Rechte unseres Erlösers erkennen. Und auf Deine Frage, was Du noch für
uns tun könntest, geben wir Dir unsere einfache Antwort: Bekenne offen, jetzt,
vor uns, daß Jesus Christus der Sohn Gottes ist, der Mensch wurde, auferstanden
ist und wiederkommen wird — bekenne Ihn und wir werden Dich vom Herzen als den
wahren Vorläufer Seiner herrlichen Wiederkunft anerkennen."
Er schwieg und bohrte seinen Blick in die Augen des Imperators. Wie in jener
schicksalsschweren Nacht erhob sich in ihm ein höllischer Sturm, der ihm jede
Herrschaft über seine Seelenkräfte nahm. Mit übermenschlicher Anstrengung
suchte er, die äußere Selbstbeherrschung nicht zu verlieren und sich nicht
vorzeitig zu verraten. Es kostete ihn ungeheure Mühe, sich zurückzuhalten und
nicht mit einem wilden Aufschrei sich auf den Redner zu stürzen, der eben
gesprochen hatte, um ihn mit seinen Zähnen zu zerfleischen. Da plötzlich hörte
er eine ihm wohlbekannte überirdische Stimme: "Schweige, und fürchte
nicht!" Er schwieg, nur sein leichenstarres, verfinstertes Gesicht
verzerrte sich in wildem Schmerz und seine Augen sprühten Funken.
Während der Worte des Vaters Johannes hatte sich der große Magier, der dasaß,
den Kardinalspurpur ganz verdeckt unter dem weiten, dreifarbigen Mantel, irgend
etwas unter dessen Falten zu schaffen gemacht. Seine Augen starrten in kaltem
Glanze geradeaus und seine Lippen bewegten sich. Durch die geöffneten Fenster
des Tempels sah man eine große schwarze "Wolke heraufziehen, die
urplötzlich alles in Dunkel hüllte. Der greise Vater Johannes, der die ganze
Zeit über unverwandt erstaunt und erschrocken den schweigenden Imperator
angeblickt hatte, wich auf einmal entsetzt zurück, wandte sich den Seinen zu
und rief mit erstickter Stimme: "Kindlein — es ist der
Antichrist!"
Im selben Augenblick erdröhnte ein betäubender Donnerschlag, ein furchtbarer
Kugelblitz zuckte auf, der sprühend den Greis umflammte. Alles war wie gelähmt.
Als die Christen wieder aus der Betäubung zu sich kamen, lag Vater Johannes tot
da.
Bleich, aber ruhig, wandte sich der Imperator von neuem an das Konzil:
"Ihr habt selbst das Gottesgericht gesehen. Ich wollte niemandes Tod, doch
mein himmlischer Vater rächt seinen geliebten Sohn. Die Frage ist entschieden.
Wer wagt es noch, mit dem Höchsten zu rechten? — Sekretäre, schreibt: Nachdem
Feuer vom Himmel einen wahnsinnigen Feind der göttlichen Majestät zerschmettert
hat, beschließt nunmehr einstimmig das ökumenische Konzil der Christen aller
Bekenntnisse, den gegenwärtigen römischen Imperator, den Beherrscher der Welt,
als seinen obersten Führer und Herrn anzuerkennen."
Da widersetzte sich plötzlich eine klare Stimme, die durch den mächtigen Tempel
hallte: "Contradicitur." Papst Petrus II. hatte sich erhoben und in
heiligem Zorn bebend hob er seinen Bischofsstab gegen den Imperator:
"Unser
einziger Herr ist Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Wer Du aber
bist, hast Du soeben gehört. Hebe Dich hinweg, Du Brudermörder Kain! Weiche von
hinnen. Du Werkzeug des Satans! Durch die mir von Christus verliehene Gewalt und
als Knecht der Knechte Gottes schließe ich Dich räudigen Hund auf ewig aus
Gottes Kirche aus und übergebe Dich Deinem Vater, dem Satan. – Anathema,
Anathema, Anathema!"
Noch während der feierlichen Bannworte des Papstes hatte sich der große Magier
unruhig unter seinem weiten Mantel bewegt. Lauter noch als das letzte
"Anathema" krachte ein Donnerschlag und der letzte Papst stürzte
leblos zu Boden.
"So werden durch die Hand meines Vaters alle meine Feinde gefällt
werden", rief der Imperator. "Pereant! Pereant!" bekräftigten
die bebenden Kirchenfürsten.
Der Imperator wandte sich um und verließ langsam, auf die Schulter des großen
Magiers gestützt, durch die Pforte hinter der Tribüne den Tempel. Ihm folgten
seine Anhänger. Im Tempel blieben nur die beiden Toten zurück, um sie eine
dichtgedrängte Schar von Menschen, die vor Schrecken halbtot waren. Der einzige
unter ihnen, der seine Fassung nicht verloren hatte, war Professor Pauli. Das
allgemeine Entsetzen schien vielmehr alle Kräfte seines Geistes geweckt zu
haben. Auch äußerlich ging mit ihm eine Änderung vor. Sein Antlitz nahm einen
erhabenen und verklärten Ausdruck an. Mit sicheren Schritten betrat er die
Tribüne, setzte sich auf einen der leeren Plätze der Staatssekretäre, nahm
einen Bogen Papier und begann darauf zu schreiben.
Als er damit geendet hatte, erhob er sich und verlas mit lauter Stimme:
"Zum Ruhme unseres einzigen Erlösers Jesus Christus! Nachdem unser
allerseligster Bruder Johannes, das Haupt der östlichen Christenheit, den
großen Betrüger und Gottesfeind entlarvt und als den in der Heiligen Schrift
vorausgesagten Antichrist erwiesen hat, ferner, nachdem unser allerseligster
Vater Petrus, das Haupt der westlichen Christenheit, ihn, den Antichrist, in
aller Form und gemäß dem Gesetz aus der Kirche Gottes ausgestoßen hat,
beschließt das in Jerusalem versammelte ökumenische Konzil feierlich und
angesichts der Leichname dieser beiden Zeugen Jesu Christi, hinfort jeder
Gemeinschaft mit dem Verfluchten und seiner nichtswürdigen Anhängerschaft abzusagen,
in die "Wüste zu gehen und dort die bevorstehende Wiederkunft unseres
wahren Herrn und Heilands, Jesus Christus, zu erwarten."
Da ergriff heilige Begeisterung die Versammelten, die laut in den Ruf
ausbrachen: "Adveniat, adveniat cito! Komm, Herr Jesus, komm!"
Professor Pauli setzte noch etwas schriftlich hinzu und verlas hierauf diesen
Nachsatz: "Nach- dem wir einstimmig den ersten und letzten Beschluß des
ökumenischen Konzils gefaßt und an- genommen haben, unterschreiben wir
..." Hier forderte er mit einer Handbewegung die An- wesenden auf, die
Urkunde zu unterfertigen und alle beeilten sich, dies zu tun. An letzter Stelle
unterschrieb er selbst mit großen gotischen Schriftzeichen: Duorum defunctorum
testium locum tenens — Ernst Pauli.
Dann, auf die beiden Toten weisend, sagte er: "Jetzt aber laßt uns
aufbrechen mit unserer Bundeslade des letzten Testaments." Die heiligen
Leichname wurden auf Bahren gelegt und unter dem Gesang lateinischer, deutscher
und kirchen-slawischer Hymnen schritten die Christen feierlich dem Ausgang des
Tempels zu.
Dort stieß der Zug auf einen Beauftragten des Imperators, einen Staatssekretär,
der von einer Gardeabteilung, mit einem Offizier an der Spitze begleitet war.
Soldaten besetzten den Ausgang, während der Offizier von erhöhtem Orte aus
folgende Anordnung verlas:
"Befehl
Seiner göttlichen Majestät! Um das Christenvolk aufzuklären und es vor
böswilligen Unruhestiftern zu bewahren, haben wir beschlossen, die Leichen der
beiden Aufrührer, die durch Feuer vom Himmel herab getötet wurden, in der
'Straße der Christen' (Charet-en-Nasara) beim Eingang zur Hauptkirche dieser
Religion, die Grabes- oder auch Auferstehungskirche genannt wird, öffentlich
auszustellen, so daß jedermann sich von ihrem Ende mit eigenen Augen überzeugen
kann.
Ihre
halsstarrigen Anhänger aber, die böswillig alle unsere Wohltaten zurückweisen
und in Verblendung die klaren Offenbarungen der Gottheit nicht sehen wollen,
werden durch unsere Barmherzigkeit und dank unserer Fürbitte bei unserem
himmlischen Vater vor dem wohlverdienten Tod durch das Feuer vom Himmel
bewahrt.
Sie behalten
voll und ganz ihre Freiheit, nur wird ihnen im Interesse des Allgemeinwohles
verboten, in Städten und anderen Siedlungen zu wohnen, damit sie nicht
unschuldige und einfache Leute mit ihren hinterhältigen Lügen verwirren und
verführen können."
Als der Offizier geendet hatte, traten auf sein Zeichen acht Soldaten an die
Bahren der Toten. "Ja, es möge sich die Schrift erfüllen", sagte
Professor Pauli, und die Christen, welche die Bahren trugen, überließen diese
schweigend den Soldaten, die sich durch das nordwestliche Tor entfernten.
Die Christen durchschritten das Tor im Nordosten und verließen rasch die Stadt.
Am Ölberg vorbei suchten sie auf der großen Straße, die schon vorher von
Gendarmerie und zwei Regimentern Kavallerie von Ansammlungen Neugieriger
gesäubert war, Jericho zu erreichen. Auf den einsamen Hügeln von Jericho
beschlossen die Christen, einige Tage zu verweilen.
Die
Gegenkirche
Schon am folgenden Morgen kamen aus Jerusalem bekannte Pilger und berichteten,
was sich in Zion zugetragen hatte: Nach der kaiserlichen Tafel wurden alle
Mitglieder des Konzils in den Thronsaal gerufen. (Er befand sich in der Nähe
jener Stelle, wo der Thron Salomos gestanden haben soll). Dort richtete der
Kaiser das Wort an die Vertreter der katholischen Hierarchie und erklärte
ihnen, das Heil der Kirche verlange offensichtlich die sofortige Wahl eines
würdigen Nachfolgers auf dem Stuhle Petri. Den Zeitumständen angepaßt, müsse
diese Wahl auf kurzem Weg erfolgen, doch ersetze seine, des Imperators,
Gegenwart als des Führers und Hauptes der christlichen Welt das, was am Ritual
unausgeführt bleiben müsse. Daher schlage er im Namen aller Christen dem
Heiligen Kollegium vor, seinen geliebten Freund und Bruder Apollonius zu
wählen, damit durch das enge Band, das zwischen ihnen bestehe, auch die Einheit
von Kirche und Staat zum Wohle aller sich dauerhaft und unzerstörbar gestalte.
Das Heilige Kollegium begab sich nun zum Konklave in ein abgesondertes Gemach
und kehrte nach anderthalb Stunden mit dem neuen Papst Apollonius zurück.
Während die Wahl des neuen Papstes vor sich ging, hatte der Imperator die
Vertreter des Protestantismus und der Orthodoxie in sanften und beredten Worten
dazu bewogen, zum Anbeginn dieser neuen und großen Epoche in der Geschichte der
Christenheit ihre alten Zwistigkeiten beizulegen. Er hatte sich mit seinem Wort
verbürgt, daß Apollonius allen geschichtlichen Mißbräuchen der päpstlichen
Gewalt für immer ein Ende bereiten werde.
Durch diese Rede überzeugt, hatten die Vertreter der Orthodoxie und des
Protestantismus eine Urkunde über die Vereinigung ihrer Kirchen aufgesetzt. Als
nun Apollonius mit den Kardinalen im Thronsaal erschien, überreichten ihm,
umbrandet von Freudenrufen, ein griechischer Bischof und ein protestantischer
Pastor den Text dieser Urkunde. "Accipio et approbo et laetificatur cor
meum", sprach Apollonius und unterfertigte feierlich das Dokument.
"Ich bin ein ebenso auf richtiger Rechtgläubiger und wahrer Protestant wie
ich auch ein gläubiger Katholik bin", fügte er hinzu und umarmte zum
Bruderkuß den Griechen und den Deutschen.
Hierauf schritt er auf den Imperator zu, der ihn seinerseits umarmte und lange
in seinen Armen hielt.
Zur gleichen Zeit erschienen im Palaste und im Tempel leuchtende Punkte, die
sich nach allen Richtungen bewegten. Sie wurden größer und verwandelten sich in
Lichtgestalten seltsamer Wesen; Blumen, wie sie bisher noch kein Auge gesehen
hatte, regneten hernieder und erfüllten die Luft mit köstlichem Duft. Aus der
Höhe erklang eine zarte, die Herzen ergreifende Musik noch nie gehörter
Instrumente und engelgleiche Stimmen unsichtbarer Sänger rühmten die neuen
Herrscher des Himmels und der Erde.
Währenddessen erhob sich in der Nordwestecke des Palastes, unter dem
Kubeth-el-Ruach, unter der Kuppel der Seelen, ein furchtbares unterirdisches
Dröhnen. Dort sollte nach der Überlieferung der Muselmanen der Eingang zur
Hölle liegen. Auf Wunsch des Imperators begaben sich alle Anwesenden dorthin. Sie
vernahmen zahllose feine, aber durchdringende Stimmen, die weder Kindern noch
Höllengeistern gehören konnten. Diese riefen: "Die Zeit ist gekommen,
befreit uns, Retter, o Retter!" Doch Apollonius neigte sich zur Erde und
rief drei- mal etwas in einer unbekannten Sprache hinunter. Da verklangen die
Stimmen und das unterirdische Getöse verstummte.
Gleichzeitig war von allen Seiten eine unzählbare Volksmenge um den
Charam-esch-Scherif zusammengeströmt. Als die Nacht hereinbrach, zeigte sich
der Imperator mit dem neuen Papst auf der östlichen Freitreppe des Palastes.
Sein Erscheinen rief einen Sturm der Begeisterung hervor. Liebenswürdig
begrüßte er alle Anwesenden, während Apollonius aus großen Körben, die ihm
Kardinale gleich Ministranten nachtrugen, etwas herausnahm und in die Luft
warf. Durch Berührung mit seinen Händen entzündeten sich da prächtige
romanische Kerzen, Raketen und Feuerfontänen. Sie erstrahlten bald in
phosphoreszierendem Perlenglanze, bald in den leuchtenden Farben des
Regenbogens. Dies alles aber verwandelte sich, sobald es zur Erde fiel, in
unzählige bunte Flugblätter, die mit vollkommenen Ablässen für alle
vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden bedruckt waren. Der Jubel des
Volkes war grenzenlos.
Zwar behaupteten einige, sie hätten gesehen, wie diese Ablaßblätter sich in
abscheuliche Kröten und Schlangen verwandelten, aber die gewaltige Mehrheit
ließ sich von Begeisterung betäuben. Das Volksfest dauerte noch mehrere Tage.
In dieser Zeit vollbrachte der neue Wundertäter und Papst so außerordentliche
und unwahrscheinliche Zaubereien, daß es vergeblich wäre, sie alle erzählen zu
wollen.
Das
Ende der Welt
Zur gleichen Zeit aber beten und fasten die wahren Christen auf den öden Höhen
um Jericho. Doch am Abend des vierten Tages machten sich im Schutze der
Dunkelheit Professor Pauli und neun seiner Gefährten, auf Eseln und von einem
Gefährt begleitet, nach Jerusalem auf. Auf Seitenwegen umgingen sie den
Charam-esch-Scherif und gelangten so unbemerkt vor den Eingang der Auferstehungskirche,
wo die Leichen des Papstes Petrus und des Vaters Johannes auf der Straße
ausgestellt lagen.
Zu dieser Stunde war die Straße menschenleer, denn die ganze Stadt hatte sich
zum Charam-esch-Scherif begeben. Die Soldaten, die die Leichen bewachen sollten,
lagen in tiefem Schlaf. Als Pauli und seine Gefährten an die Leichen
herantraten, stellten sie verwundert fest, daß diese nicht in Verwesung
übergegangen, ja, sogar nicht einmal erkaltet waren. Man hob sie auf
Tragbahren, bedeckte sie mit mitgebrachten Tüchern und kehrte auf denselben
Umwegen zu den Brüdern zurück.
Kaum aber hatten sie dort die Bahren auf die Erde abgestellt, als die beiden
Toten wieder zum Leben erwachten, sich bewegten und bemüht waren, die Tücher
abzustreifen, in die man sie gehüllt hatte. Alle suchten ihnen unter
Freudenrufen zu helfen, und bald standen die beiden vom Tode Erweckten frisch
und gesund vor ihnen.
Der greise Vater Johannes sprach als erster die folgenden Worte:
"Nun seht doch, ihr Kindlein, so
haben wir uns also gar nicht verlassen. Höret aber, was ich euch jetzt zu sagen
habe: Die Stunde ist da, um das letzte Gebot Christi an seine Jünger zu
erfüllen: daß sie eins sein möchten, wie Er und der Vater eins sind. Um dieser
Einsicht in Christo willen, laßt uns jetzt. Kindlein, unseren geliebten Bruder
Petrus ehren: Er soll zuletzt noch die Lämmer Christi weiden. Brüder, so soll
es sein!" Und er umarmte Petrus. — Da trat auch Professor Pauli auf den
Papst zu und bekannte: "Tu es, Petrus. – Jetzt ist es ja gründlich erwiesen
und außer jedem Zweifel!"
Er drückte ihm mit seiner Rechten fest die Hand, die Linke aber reichte er dem
Vater Johannes mit den Worten: "So also, Väterchen — nun sind wir ja eins
in Christo!" So vollzog sich hier, in dieser finsteren Nacht und auf dieser
einsamen Höhe, die Wiedervereinigung zur Einen Kirche.
Doch plötzlich wurde die Nacht von einem strahlenden Lichte erhellt und am
Himmelszelt erschien ein großes Zeichen: ein Weib, mit der Sonne bekleidet,
unter ihren Füßen die Mondsichel und auf ihrem Haupte einen Kranz von zwölf
Sternen. Die Erscheinung blieb einige Augenblicke stehen, dann zog sie langsam
nach Süden. Da erhob Papst Petrus seinen Hirtenstab und rief aus: "Dies
sei unser Banner! Laßt uns ihm folgen!"
Begleitet von den beiden Ältesten und gefolgt von der Schar der Christen, ging
er der Erscheinung nach, dem Berge Gottes zu, nach dem Sinai.
Nachdem die geistigen Führer und Vertreter der Christenheit in die Arabische
Wüste gegangen waren, wohin dann aus allen Ländern Scharen gläubiger Bekenner
der Wahrheit ihnen folgten, konnte der falsche Papst Apollonius durch seine
Wunder und Zaubereien ungehindert alle übrigen oberflächlichen Christen, die
sich noch nicht über der Antichristen ernüchtert hatten, verderben. Er
erklärte, er habe kraft seiner Schlüsselgewalt die Pforten zwischen dem
Diesseits und dem Jenseits geöffnet, und tatsächlich wurde der Umgang von
Lebenden mit Toten, sogar zwischen Menschen und Dämonen, ein alltägliches
Schauspiel. Alsbald entwickelten sich daraus neue unerhörte mystische und
dämonische Ausschweifungen.
Kaum jedoch glaubte der Imperator, sich nun auch auf religiösem Gebiet sicher
fühlen zu dürfen, als er sich unter den drängenden Einflüsterungen jener
geheimnisvollen "väterlichen" Stimme zur einzigen und wahrhaften
Verkörperung der höchsten Weltgottheit erklärte.
In diesem Augenblick brach ein neues Unheil über ihn herein, und zwar von einer
Seite, von der es niemand erwartet hätte: Die Juden erhoben sich gegen den
Imperator.
Dieses Volk, das nunmehr die Zahl von dreißig Millionen erreicht hatte, war an
der Vorgeschichte sowie an der Festigung des Welterfolges dieses Übermenschen
nicht ganz unbeteiligt. Als der Imperator in Jerusalem seine Residenz
aufschlug, hatte er unter den Juden das Gerücht verbreiten lassen, es sei sein
letztes Ziel, auf der ganzen Erde die Herrschaft Israels aufzurichten. Von
diesen Einflüsterungen bewogen, hatten die Juden ihn als Messias anerkannt und
ihm ihre begeisterten und grenzenlosen Huldigungen dargebracht.
Plötzlich aber erhoben sie sich zornentbrannt und riefen zur Rache auf. Diese
völlige und so unerwartete Umkehr ist jedoch in der Heiligen Schrift
vorausgesagt und durch die Überlieferung wach gehalten worden. Sie wurde durch
die zufällige Entdeckung ausgelöst, daß der Imperator, den die Juden bis dahin
für einen reinblütigen und treuen Israeliten gehalten hatten, nicht einmal
beschnitten war. Noch am gleichen Tage flammte der Aufstand in Jerusalem auf
und hatte schon vierundzwanzig Stunden später ganz Palästina erfaßt. Die unbegrenzte
und glühende Hingabe an den Retter Israels, den verheißenen Messias, verkehrte
sich in einen ebenso grenzenlosen wie glühenden Haß gegen den arglistigen
Betrüger und frechen Emporkömmling.
Ganz Israel erhob sich wie ein Mann und seine Feinde sahen mit Staunen, daß die
Seele Israels im Letzten nicht von den Berechnungen und Begierden des Mammons
bestimmt wurde, sondern von der Kraft eines aufrichtigen Herzens, von der
Hoffnung und vom Zorn seines uralten Messiasglaubens.
Der Imperator hatte einen so plötzlichen Ausbruch der Leidenschaften nicht
erwartet und verlor seine Selbstbeherrschung. Er erließ einen Befehl, der alle
aufrührerischen Juden und Christen zum Tode verurteilte. Viele Tausende, ja
Zehntausende, die nicht mehr zu den Waffen greifen konnten, wurden ohne
Erbarmen getötet. Doch schon nach kurzer Zeit bemächtigte sich ein Millionenheer
von Juden der Stadt Jerusalem und schloß den Antichrist im Charam-esch-Scherif
ein. Dieser hatte nur einen Teil seiner Garde zur Verfügung, die außerstande war,
die Überzahl der Feinde abzuwehren. Doch mit Hilfe der Zauberkünste seines
Papstes gelang es dem Imperator, durch die Linien der Belagerer zu entfliehen,
und schon bald war er wieder in Syrien als Befehlshaber einer großen Armee von
Heiden aller Völker und Rassen.
Trotz ihrer geringen Siegesaussichten traten ihm die Juden entschlossen
entgegen. Doch kaum waren die Vorhuten beider Armeen aufeinandergestoßen, als
ein furchtbares Beben die Erde erschütterte.
Unter dem Toten Meer, an dessen Ufern das Heer des Imperators Aufstellung
genommen hatte, öffnete sich der Krater eines ungeheuren Vulkans. Glühende
Lavafluten stiegen auf und flossen zu einem einzigen Flammenmeer zusammen. Es
verschlang den Imperator, sein zahlloses Heer und auch seinen unzertrennlichen
Begleiter, den Papst Apollonius, dem nun alle magischen Künste nicht mehr
helfen konnten. Die Juden aber flohen nach Jerusalem und riefen in Furcht und
Zittern den Gott Israels um Rettung an.
Als die heilige Stadt schon vor ihren Blicken lag, spaltete ein gewaltiger
Blitz den Himmel von Osten nach Westen. Sie sahen Christus. Bekleidet mit den
Insignien der Allmacht, mit ausgebreiteten Händen, auf denen die Wundmale der
Nägel leuchteten, schritt er auf sie zu.
In dieser Zeit zog auch die Schar der Christen vom Sinai hinauf nach Zion,
geführt von Petrus, Johannes und Paulus. Von allen Seiten strömten ihnen
jauchzende Scharen zu: Das waren jene Juden und Christen, die der Antichrist
hatte töten lassen.
Sie waren auferstanden und herrschten mit Christus tausend
Jahre.
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