STROPHE III. – Fortsetzung.

8. WO WAR DER KEIM, UND WO WAR JETZT DIE FINSTERNIS? WO IST DER GEIST DER FLAMME, WELCHE IN DEINER LAMPE BRENNT, O LANOO! DER KEIM IST TAT, UND TAT IST DAS LICHT, DER WEISSE STRAHLENDE SOHN DES DUNKLEN VERBORGENEN VATERS.

Die Antwort auf die erste Frage, angedeutet durch die zweite,welche die Erwiderung des Lehrers an den Schüler ist, enthält in einer einzigen Phrase eine der wesentlichsten Wahrheiten der occulten Philosophie. Sie weist auf das Dasein von Dingen hin, die, unerkennbar unsern physischen Sinnen, viel wichtiger, reeller und dauerhafter sind,  als jene, welche sich an die Sinne selbst wenden. Bevor der Lanoo hoffen kann, das transscendental metaphysische Problem zu verstehen, welches in der ersten Frage enthalten ist, muß er fähig sein, die zweite zu beantworten; während die Antwort selbst, die er auf die zweite giebt, ihm den Faden zur richtigen Beantwortung der ersten bietet.

In dem Sanskritkommentar zu dieser Strophe werden mannigfaltige Ausdrücke für das verborgene und nicht offenbarte Prinzip gebraucht. In den ältesten Handschriften der indischen Litteratur hat diese nichtoffenbarte abstrakte Gottheit keinen Namen. Es wird allgemein „Dieses“ (Tat im Sanskrit) genannt, und bedeutet alles, was ist, war und sein wird, oder was so vom menschlichen Gemüt aufgenommen werden kann.

Unter diesen Beinamen – die natürlich nur der esoterischen Philosophie angehören – wie: die „unergründliche Dunkelheit“, der „Wirbelwind“ u. s. w. wird es auch genannt: „Es von dem Kâlahansa“, der „Kâla-ham-sa“ und selbst der „Kâli Hamsa“ (der schwarze Schwan). Hier ist das m und n vertauschbar, beide klingen wie das nasale französische an oder am. Wie im Hebräischen, so liefert auch im Sanskrit manch ein geheimnisvoller heiliger Name dem profanen Ohre nichts weiter als ein gewöhnliches und oft gemeines Wort, weil er anagrammatisch oder anderweise versteckt ist. Dieses Wort Hansa, oder Hamsa, bildet gerade so einen Fall. Hamsa ist so viel wie „A-ham-sa“, drei Silben mit der Bedeutung „Ich bin Er“; während nach einer noch anderen Einteilung „So-ham“, „Er [ist] Ich“, zu lesen ist. In diesem einen Wort ist für den, der die Sprache der Weisheit versteht, das universale Mysterium, die Lehre von der Identität der Menschenwesenheit mit der Gottwesenheit, enthalten. Daher die Glyphe und Allegorie vom Kâlahansa (oder Hamsa), und der Name, welcher dem Brahman (neutrum) und später dem männlichen Brahmâ gegeben wurde, nämlich Hamsa-vâhana, „er, der den Hamsa als sein Fahrzeug benützt“. Dasselbe Wort kann auch gelesen werden „Kâlaham-sa“ oder „Ich bin Ich, in der Ewigkeit der Zeit“, was dem biblischen oder richtiger zoroastrischen „Ich bin, der ich bin“ entspricht.

Dieselbe Lehre findet sich in der Kabalah, wofür der folgende Auszug aus einem unveröffentlichten Manuskript des Herrn S. Liddell McGregor Mathers, des gelehrten Kabbalisten, Zeugnis giebt.

Die drei Pronomina [korrekter Abdruck siehe Buch S.107], Hua, Atch, Ani – er, du, ich – werden gebraucht, um die Ideen des Makroprosopus und Mikrokrosopus in der hebräischen Kabalah zu symbolisieren. Hua, „er“ wird auf den verborgenen und geheimen Makroprosopus; Ateh, „du“ auf den Mikroprosopus; und Ani, „ich“ auf den letzteren, wenn er als sprechend dargestellt wird, angewendet. (Siehe Lesser Holy Assembly, 204 ff.). Es ist zu beachten, daß jeder dieser Namen aus drei Buchstaben besteht, von welchen der Buchstabe Aleph [korrekter Abdruck siehe Buch S.107], A, den Schluß des ersten Wortes Hua, und den Anfang von Ateh und Ani bildet, bildet, als ob er das Bindeglied zwischen ihnen wäre. Aber [korrekter Abdruck siehe Buch S.107] ist das Symbol der Einheit und infolgedessen der unveränderlichen Idee des Göttlichen, welches durch alle diese wirkt. Aber hinter dem [korrekter Abdruck siehe Buch S.107]in dem Namen Hua sind die Buchstaben [korrekter Abdruck siehe Buch S.107] und [korrekter Abdruck siehe Buch S.107], die Symbole der Zahlen sechs und fünf, des Männlichen und Weiblichen, des Hexagramm und Pentagramm. Und die Zahlen dieser drei Worte, Hua, Ateh, Ani, sind 12, 406 und 61, welche in die Schlüsselzahlen 3, 10 und 7 summiert werden, nach der Kabalah der neun Kammern, welche eine Form der exegetischen Regel der Temura ist.

Es ist nutzlos, eine vollständige Erklärung des Geheimnisses zu versuchen. Materialisten und Männer der modernen Wissenschaft werden es niemals verstehen, da man, um eine klare Vorstellung davon zu erhalten, vor allem andern den Grundsatz einer allgemein ausgebreiteten, allgegenwärtigen, ewigen Gottheit in der Natur anzuerkennen hat; zweitens das Geheimnis des wahren Wesens der Elektricität ergründet haben muß; und drittens, den Menschen für das siebenfache Symbol auf der irdischen Ebene von der Einen großen Einheit, dem Logos, zu halten hat, welcher selbst wieder das siebenvokalige Zeichen, der zum Wort krystallisierte Atem ist. [29] Wer an all dieses glaubt, muß auch an die vielfältige Kombination der sieben Planeten des Occultismus und der Kabalah, mit den zwölf Tierkreiszeichen glauben; und muß, wie wir es thun, jedem Planeten und jeder Konstellation einen Einfluß zuschreiben, der, nach den Worten Herrn Ely Stars (eines französischen Astrologen) „demselben eigentümlich ist, wohltätig oder übel, und dies je nach dem Planetengeist, der ihn regiert, welcher seinerseits imstande ist, Menschen und Dinge, die sich in Harmonie mit ihm befinden und mit welchen er irgendwelche Verwandtschaft hat, zu beeinflussen“.

Aus diesen Gründen, und weil nur wenige an das Vorstehende glauben, kann jetzt einzig und allein mitgeteilt werden, dass in beiden Fällen das Symbol des Hansa (einerlei ob Ich, Er, Gans oder Schwan) ein wichtiges Symbol ist, das, neben andern Dingen, göttliche Weisheit, Weisheit in der Dunkelheit, unerreichbar den Menschen, versinnbildlicht. Für alle exoterischen Zwecke ist Hansa, wie jeder Hindû weiß, ein fabelhafter Vogel, welcher (nach der Allegorie), wenn man ihm Milch mit Wasser gemischt zur Nahrung gab, die beiden trennte, die Milch trank und das Wasser übrigließ; somit innewohnende Weisheit anzeigte, da Milch Geist und Wasser Stoff symbolisiert.

Daß diese Allegorie sehr alt ist und aus der allerfrühesten archaischen Periode herstammt, zeigt die im Bhâgavata Purâna vorkommende Erwähnung einer gewissen Kaste Namens Hamsa oder Hansa, die einst die „eine Kaste“ par excellence war; als weit zurück in den Nebeln einer vergessenen Vergangenheit unter den Hindûs bloß „Ein Veda, Eine Gottheit, Eine Kaste“ war. Es giebt auch eine Kette in den Himâlayas, nach der Beschreibung in den alten Büchern nördlich vom Berge Meru gelegen, mit Namen Hamsa, und in Zusammenhang mit Ereignissen, die der Geschichte der religiösen Mysterien und Initiationen angehören. Wenn in den exoterischen Texten und Übersetzungen der Orientalisten Kâlahansa als das Fahrzeug von Brahmâ-Prajâpati angenommen wird, so ist das ein vollständiges Missverständnis. Brahman, das neutrum, heißt bei ihnen Kâla-hansa, und Brahmâ, der männliche, Hansa-vâhana, weil, wahrhaftig! „sein Fahrzeug ein Schwan oder eine Gans ist.“ [30] Das ist eine rein exoterische Erklärung. Esoterisch und logisch betrachtet: wenn Brahman, das Unendliche, all das ist, als was es die Orientalisten beschreiben, und, in Übereinstimmung mit den Vedântatexten, eine abstrakte Gottheit ist, die auf keinerlei Weise durch die Beilegung irgendwelcher menschlicher Attribute charakterisiert ist, und wenn zur selben Zeit behauptet wird, daß er oder es Kâlahansa genannt wird – wie kann es dann jemals zum Vâhan oder Brahmâ, des geoffenbarten endlichen Gottes werden? Es ist gerade das Umgekehrte. „Schwan oder Gans“ (Hansa) ist das Symbol der männlichen oder zeitlichen Gottheit, Brahmâ, der Emanation aus dem ursprünglichen Strahl, dazu bestimmt, als Vâhan oder Fahrzeug für den göttlichen Strahl zu dienen, der auf andere Art sich im Weltall nicht offenbaren könnte, da er (antiphrastisch) selbst eine Emanation der Dunkelheit ist – mindestens für unsern menschlichen Intellekt. Es ist somit Brahmâ Kâlahansa und der Strahl Hansa-vâhana.

   Was das somit gewählte seltsame Symbol anbelangt, so ist es gleichermaßen bedeutungsvoll; die wahre mystische Bedeutung ist die Idee einer universellen Matrix, gebildet von den ursprünglichen Wassern der Tiefe, oder der Öffnung für die Aufnahme, und in der Folge für die Aussendung, jenes Einen Strahles (des Logos), der in sich die andern sieben zeugenden Strahlen oder Kräfte (die Logoi oder Bildner) enthält. Daher wählten die Rosenkreuzer den Wasservogel – sei es Schwan oder Pelikan [31] - mit sieben Jungen als ein Symbol, das für die Religion eines jeden Landes abgeändert und angepasst wurde.

Ain Suph heißt die „Feurige Seele des Pelikan“ im Buche der Zahlen. [32]

  Er erscheint mit jedem Manvantara als Nârâyana, oder Svâyambhuva, der Selbstexistierende, und, in das Weltenei eindringend, taucht er am Ende der göttlichen Inkubation daraus als Brahmâ, oder Prajâpati, der Vorfahre des zukünftigen Weltalls hervor, in das er sich ausdehnt. Er ist Purusha (Geist), aber er ist auch Prakriti (Stoff). Daher wird Prajâpati erst nach erfolgter Selbstteilung in zwei Hälften – in Brahmâ-Vâch (die weibliche) und Brahmâ-Virâj (die männliche) – zum männlichen Brahmâ.


[29] Die ist wiederum ähnlich der Lehre Fichtes und deutscher Pantheisten. Ersterer verehrt Jesus als den großen Lehrer, der die Einheit des Menschengeistes mit dem Gottesgeist oder Universellen Prinzip betonte (die Advaita-Lehre). Es ist schwer, eine einzige Spekulation in der Metaphysik des Westens zu finden, die nicht schon von der archaischen östlichen Philosophie vorweggenommen wäre. Von Kant bis Herbert Spencer ist alles ein mehr oder weniger entstelltes Echo von Dvaita-, Advaita- und Vedântalehren im allgemeinen.

[30] Vergleiche Dowsons Dictonary of Hindû Mythology, p.57.

[31] Ob die Gattung des Vogels cygnus, anser, oder pelecanus ist, thut nichts zur Sache, da es ein Wasservogel ist, der auf den Wassern schwimmt und sich bewegt wie der Geist, und dann von diesen Wassern hervorkommt, um andere Wesen zu gebären. Die wahre Bedeutung des Symbols vom achtzehnten Grade der Rosenkreuzer ist genau dieselbe, obwohl sie später poetisch zu dem mütterlichen Gefühl des Pelikans gemacht wurde, der seine Brust aufreißt, um seine sieben Jungen mit seinem Blute zu ernähren.

[32] Der Grund, warum Moses verbietet, den Pelikan und Schwan zu essen (Deuteron., XIV. 16, 17), indem er beide zu den unreinen Vögeln rechnet, und es gestattet „die großen Heuschrecken, Käfer und den Grashüpfer nach seiner Art“ (Leviticus XI. 22) zu essen, ist ein rein physiologischer, und hat mit mystischer Symbologie nur insofern zu thun, als das Wort „unrein“, wie jedes andere Wort, nicht buchstäblich aufgefaßt werden sollte, denn es ist esoterisch wie alles übrige, und kann ebenso gut „heilig“ bedeuten als auch nicht. Es ist eine sehr anregende Blende in Zusammenhang mit gewissen Äußerungen des Aberglaubens – z.B. des russischen Volkes, das die Taube nicht zur Nahrung verwenden will; nicht weil sie „unrein“ ist, sondern weil der „heilige Geist“ unter der Gestalt einer Taube erschienen sein soll.