STROPHE IV. – Fortsetzung.

4.  DIES WAR DIE HEERSCHAR DER STIMME, DER GÖTTLICHEN MUTTER DER SIEBEN. DER FUNKEN DER SIEBEN SIND UNTERGEBEN UND DIENEND DEM ERSTEN, DEM ZWEITEN, DEM DRITTEN, DEM VIERTEN, DEM FÜNFTEN, DEM SECHSTEN UND DEM SIEBENTEN DER SIEBEN (a). DIESE [15] WERDEN SPHÄREN, DREIECKE, WÜRFEL, LINIEN UND BILDNER GENANNT; DENN SO STEHT DAS EWIGE NIDÂNA – DER DER OI-HA-HOU (b). [16]

a) Diese Strophe giebt wieder eine kurze Analyse der Hierarchien der Dhyân-Chohans, die in Indien Devas (Götter) genannt werden, oder der bewußten intelligenten Kräfte in der Natur. Dieser Hierarchie entsprechen die thatsächlichen Typen, nach denen die Menschheit eingeteilt werden kann; denn die Menschheit als Ganzes ist in Wirklichkeit ein materialisierter, allerdings noch unvollkommener Ausdruck derselben. Die „Heerschar der Stimme“ ist ein Ausdruck, welcher in enger Beziehung zu dem Geheimnis von Ton und Rede als einer Wirkung und einem Corollar der Ursache – des göttlichen Gedankens – steht. Wie es P. Christian, der gelehrte Verfasser von der Historie de la Magie und von L’Homme Rouge des Tuileriers, so schön dargelegt, bestimmen die von jedem Individuum gesprochenen Worte, sowie sein Name, in großem Maße sein zukünftiges Schicksal? Warum? Aus folgendem Grunde:

Wenn unsere Seele (Gemüt) einen Gedanken schafft oder emporruft, so gräbt sich das sinnbildliche Zeichen dieses Gedankens in die Astralflüssigkeit ein, welche der Aufnahmeort und sozusagen der Spiegel aller Manifestationen des Seins ist.

Das Zeichen ist der Ausdruck des Dinges; das Ding ist die (verborgene oder occulte) Kraft des Zeichens.

Ein Wort aussprechen heißt einen Gedanken hervorrufen und ihm gegenwärtig machen: die magnetische Kraft der menschlichen Sprache ist der Anfang einer jeden Manifestation in der occulten Welt. Einen Namen aussprechen heißt nicht bloß ein Wesen (eine Entität) definieren, sondern auch, es durch die Aussprechung des Wortes (Verbum) unter den Einfluß einer oder mehrerer occulten Kräfte zu stellen oder zu verdammen. Für jeden von uns sind die Dinge das,  wozu sie das Wort macht, während wir sie nennen. Das Wort (Verbum) oder die Rede eines jeden Menschen ist, ihm selbst ganz unbewußt, ein  Segen oder ein Fluch; darum ist unsere gegenwärtige Unkenntnis betreffs der Eigenschaften und Attribute der Idee, sowie betreffs der Attribute und Eigenschaften der Materie, oft verderblich für uns.

Jawohl, Namen (und Worte) sind entweder wohlthätig oder übelthätig; sie sind, in gewissem Sinn, entweder vergiftend oder gesundmachend, entsprechend den verborgenen Einflüssen, die von der höchsten Weisheit in ihre Elemente gelegt wurden, das heißt, in die Buchstaben, die sie zusammensetzen, und in die Zahlen, welche diesen Buchstaben entsprechen.

Dies ist streng richtig als eine esoterische Lehre, die von allen östlichen Schulen des Occultismus angenommen ist. Im Sanskrit, sowie im Hebräischen und in allen anderen Alphabeten, hat jeder Buchstabe seine occulte Bedeutung und seinen Daseinsgrund: er ist eine Ursache und eine Wirkung einer vorhergegangenen Ursache, und eine Verbindung von solchen bewirkt oft einen höchst magischen Effekt. Die Vokale insbesondere enthalten die occultesten und furchtbarsten Kräfte.

Die Mantras (esoterisch  viel mehr magische als religiöse Anrufungen) werden von den Brâhmanen gesungen, und ebenso das übrige der Veden und anderer Schriften.
„Die Heerschar der Stimme“ ist das Vorbild der „Schar des Logos“ oder des „Wortes“ im Sepher Jetzirah, das in der Geheimlehre die „Eine Zahl hervorgegangen aus der Nichtzahl“ – dem Einen ewigen Prinzip – heißt. Die esoterische Theogonie beginnt mit dem Einen Geoffenbarten (daher in Gegenwart und Dasein nicht ewig, wenn auch ewig seiner Wesenheit nach), mit der Zahl der Zahlen und des Gezählten – letzteres geht hervor aus der Stimme, der weiblichen Vâch, „der mit den hundert Formen“, der Shatarûpâ, oder Natur. Aus diese Zahl, 10, oder der schöpferischen Natur, der Mutter (im Occulten die Null, oder „O“, die immer hervorbringt und vermehrt in Vereinigung mit der Einheit „I“ oder dem Geiste des Lebens), entspringt das ganze Weltall.
In der Anugîtâ [17] wird ein Gespräch zwischen einem Brâhmana und seinem Weibe über den Ursprung der Sprache und ihre occulten Eigenschaften gegeben. Das Weib fragt, wie die Sprache ins Dasein trat, und was von beiden früher war, die Sprache oder der Verstand. Der Brâhmane sagt ihr, daß der Apâna (Inspirationsatem), wenn er die Oberhand gewinnt, jene Intelligenz, welche Sprache und Worte nicht versteht, in den Zustand von Apâna verwandelt, und dadurch den Verstand eröffnet. Dann erzählt er ihr eine Geschichte, ein Zwiegespräch zwischen Sprache und Verstand. Beide kamen zum Selbst des Seins (d. h. zu dem individuellen höheren Selbst, wie Nîlakantha meint; zu Prajâpati, nach dem Kommentator Arjuna Mishra), und baten es, ihre Zweifel zu zerstören, und zu entscheiden, welches von ihnen dem anderen voranging und welches höher stehe als das andere. Darauf sprach der Herr: „Verstand  (ist höherstehend).“ Aber die Sprache antwortete dem Selbst des Seins und sagte: „Ich gewähre wahrhaftig (euch) eure Wünsche,“ womit sie meinte, daß er durch die Sprache erlange, was er begehre. Darauf hinwiederum sagte ihr das Selbst,  daß es zwei Verstande gebe, einen „beweglichen“ und einen „unbeweglichen“.  „Der unbewegliche ist bei mir,“ sprach er, „der bewegliche ist in deiner Gewalt“ (nämlich der Sprache), auf der Ebene des Stoffes. „Diesem bist du vorgesetzt.“

Aber insofern, o Schöne, als du kamst, um persönlich mit mir zu sprechen (auf die Art, wie du es thatest, d. h. stolz), deshalb sollst du; o Sarasvatî! niemals nach einer (starken) Ausatmung sprechen. Die Göttin Sprache (Sarasvatî, eine spätere Form oder Aspekt von Vâch, auch die Gottheit des Geheimstudiums, oder der esoterischen Weisheit) blieb thatsächlich immer zwischen Prâna und Apâna stecken. Aber, o Edle! indem sie mit dem Apâna-Wind (der Lebensluft) ging, obwohl gedrängt, . . . ohne den Prâna  (Exspirationsatem), lief sie empor zu Prajâpati (Brahmâ), und sprach: „Sei gnädig, o ehrwürdiger Herr!“ Dann erschien Prâna wieder und ernährte die Sprache.  Und daher spricht die Sprache niemals nach einer (starken) Ausatmung. Sie ist immer geräuschvoll oder geräuschlos. Von diesen beiden steht die geräuschlose höher als die geräuschvolle (Sprache) . . . .  Die  (Sprache), welche im Körper mit Hülfe von Prâna hervorgebracht wird, und die dann zu Apâna geht (verwandelt wird) und dann dem Udâna (den physischen Organen der Sprache) assimiliert wird . . .  verweilt schließlich im Samâna („beim Nabel in der Form des Tones, als der materiellen Ursache aller Worte,“ sagt Arjuna Mishra). So sprach früher die Sprache.  Daher ist der Verstand dadurch ausgezeichnet, daß er unbeweglich ist, und die Göttin (Sprache) dadurch, daß sie beweglich ist.

Die obige Allegorie betrifft den Ursprung des occulten Gesetzes, welches Schweigen in Bezug auf gewisse geheime und unsichtbare Dinge vorschreibt, die bloß dem geistigen Verstande (dem sechsten Sinne) wahrnehmbar sind, und welche nicht durch „geräuschvolle“ oder ausgesprochene Rede ausgedrückt werden können.
Dieses Kapitel der Anugîtâ erklärt, nach Arjuna Mishra, Prânâyâma oder die Regelung des Atems bei Yogaübungen. Dieses Verfahren, ohne vorhergehende Erlangung von, oder mindestens volles Verständnis für die zwei höheren Sinne ( deren es sieben giebt, wie gezeigt werden wird), gehört jedoch vielmehr zum niederen Yoga.

Der sogenannte Hatha ward und wird noch von den Arhats mißbilligt.

Er ist der Gesundheit schädlich, und kann allein sich niemals zu Râja Yoga entwickeln. Die Geschichte wurde vorgebaracht, um zu zeigen, wie untrennbar in der Metaphysik des Altertums intelligente Wesen, oder vielmehr „Intelligenzen“ mit allen Sinnen oder Funktionen, sowohl körperlichen als geistigen, verbunden sind.


[15] Die Funken.

[16] Die Umstellung von Oeaohoo. Die buchstäbliche Bedeutung des Wortes ist, bei den östlichen Occultisten des Nordens, ein kreisender  Wind, ein Wirbelsturm; aber in diesem Falle soll damit die unaufhörliche und ewige kosmische Bewegung oder vielmehr die Kraft, die den Kosmos bewegt, bezeichnet werden, welche Kraft stillschweigend für die Gottheit angenommen, aber niemals genannt wird. Es ist das ewige Kârana, die immerwirkende Ursache.

[17] VI. 15. Die Anugîtâ bildet einen Teil des Ashvamedha Parvan des Mahâbhârata. Der Übersetzer der Bhagavadgîtâ in der Ausgabe Max-Müllers hält sie für eine Fortsetzung der Bhagavadgîtâ. Ihr Original ist eine der ältesten Upanishads.