STROPHE VII. – Fortsetzung.
6. VON DEN ERSTGEBORENEN
[73] AN WIRD DER FADEN ZWISCHEN DEM SCHWEIGENDEN WÄCHTER UND
SEINEM SCHATTEN MIT JEDEM WECHSEL
[74] STÄRKER UND LEUCHTENDER. DAS LICHT DER MORGENSONNE HAT
SICH VERWANDELT IN MITTAGSHERRLICHKEIT . . . .
Dieser Satz: „der Faden zwischen dem schweigenden Wächter und seinem
Schatten (dem Menschen) wird mit jedem Wechsel stärker,“ ist ein anderes
psychologisches Geheimnis, welches seine Erklärung im Band II finden wird.
Für den Augenblick wird es genügen, zu sagen, daß der „Wächter“ und seine
„Schatten“ – die letzteren sind ebenso viele an der Zahl, als die Monade
Reinkarnationen erfährt – eins sind.
Der Wächter, oder das göttliche Vorbild, steht auf der oberen Sprosse
der Leiter des Seins; der Schatten auf der unteren. Übrigens ist die Monade
eines jeden lebenden Wesens, wenn nicht die moralische Verworfenheit desselben
den Zusammenhang abbricht und es verwildernd und vom Wege abirrend den
„lunaren Pfad“ betritt – um den occulten Ausdruck zu gebrauchen – ein
individueller Dhyân Chohan, unterschieden von den anderen, mit einer Art
von eigener geistiger Individualität, während eines besonderen Manvantara.
Ihr Grundwesen, der Geist (Âtman) ist natürlich eins mit dem Einen Universalen
Geiste (Paramâtmâ), aber das Vehikel (Vâhan), in welches es eingeschlossen
ist, die Buddhi, ist ein wesentlicher Bestandteil dieser Dhyân-Chohanschen
Wesenheit; und in diesem liegt das Geheimnis jener Allgegenwart,
welche vor einigen Seiten besprochen wurde. „Mein Vater, der im Himmel
ist, und ich – sind eins,“ sagt die christliche Schrift; und hierin ist
sie auf jeden Fall ein getreues Echo der esoterischen Lehre.
STROPHE VII. – Schluß.
7. „DIES IST DEIN GEGENWÄRTIGES RAD,“ SAGTE DIE FLAMME ZUM FUNKEN. „DU
BIST MEIN EIGENES SELBST, MEIN EBENBILD UND MEIN SCHATTEN. ICH HABE MICH
IN DICH GEKLEIDET UND DU BIST MEIN VÂHAN
[75] BIS ZUM TAGE „SEI MIT UNS“, WO DU WIEDER ICH UND ANDERE
WERDEN WIRST, DU SELBST UND ICH“ (a). DANN STEIGEN DIE BAULEUTE,
WELCHE IHR ERSTES GEWAND WIEDER ANGEZOGEN HABEN, ZUR STRAHLENDEN ERDE
NIEDER UND HERRSCHEN ÜBER MENSCHEN – WELCHE SIE SELBST SIND (b).
(a) Der Tag, an dem der Funke wieder zur Flamme werden wird, wenn
der Mensch in seinem Dhyân-Chohan versinken wird, „ich selbst und andere,
du selbst und ich,“ wie die Strophe sagt, bedeutet, daß im Paranirvâna
– wenn Pralaya nicht nur die materiellen und psychischen Körper, sondern
auch die geistigen Egos auf ihr ursprüngliches Princip reduciert haben
wird – die vergangenen, gegenwärtigen und selbst zukünftigen Menschheiten,
wie alle Dinge überhaupt, eins und dasselbe sein werden.
Alles wird in den großen Atem wieder eingegangen sein. Mit anderen Worten,
alles wird „in Brahman“, oder in die göttliche Einheit „versunken sein“.
Ist dies Vernichtung, wie einige denken? Oder Atheismus, wie andere
Kritiker – die Verehrer einer persönlichen Gottheit und die Gläubigen
eines unphilosophischen Paradieses zu vermuten geneigt sind? Keines von
beiden. Es ist schlechter als nutzlos, auf die Frage vom stillschweigenden
Atheismus dort zurückzukommen, wo es sich um Spiritualität der
verfeinertsten Art handelt. In Nirvâna Vernichtung zu sehen, läuft darauf
hinaus, zu sagen, daß in gesunden traumlosen Schlaf – der keinen
Eindruck in dem physischen Gedächtnis oder Gehirn zurückläßt, weil das
höhere Selbst des Schläfers dabei in seinem ursprünglichen Zustande unbedingten
Bewußtseins ist – versunkener Mensch gleichfalls vernichtet ist. Das
letztere Gleichnis entspricht nur der einen Seite der Frage – der allermateriellsten;
da Reabsorption durchaus keinen solchen „traumlosen Schlaf“ bezeichnet,
sondern im Gegenteile absolute Existenz, eine unbedingte Einheit,
oder einen Zustand, den zu beschreiben die menschliche Sprache gänzlich
und hoffnungslos unfähig ist. Die einzige Annäherung an irgend etwas,
was einer verständnisvollen Vorstellung davon ähnlich ist, kann bloß in
den panoramaartigen Visionen der Seele durch die geistigen Ideenbildungen
der göttlichen Monade gesucht werden. Auch geht die Individualität – ja
nicht einmal die Wesenheit der Persönlichkeit, wenn eine solche übrig
geblieben ist – nicht deshalb verloren, weil sie reabsorbiert wird.
Denn wie grenzenlos auch vom menschlichen Standpunkte aus der paranirvânische
Zustand sein mag, so hat er doch seine Grenze in der Ewigkeit. Dieselbe
Monade wird, wenn sie ihn einmal erreicht hat, als ein noch höheres Wesen,
auf einer viel höheren Ebene aus demselben wieder emportauchen,
um ihren Kreislauf von vervollkommneter Thätigkeit aufs neue zu beginnen.
Das menschliche Gemüt in seinem gegenwärtigen Entwicklungszustand kann
diese Gedankenebene nicht überschreiten, ja kaum dieselbe erreichen. Es
wankt hier an den Pforten der unerfaßbaren Unbedingtheit und Ewigkeit.
[73] Ursprünglichen oder ersten Menschen.
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