Das Wort Upanishad wird gewöhnlich übersetzt mit „esoterischer Lehre“. Diese Abhandlungen bilden einen Teil der Shruti, oder der „geoffenbarten“ Erkenntnis, kurz gesagt der Offenbarung, und sind gemeiniglich dem Brâhmanateile der Veden als ihre dritte Abteilung angehängt.

(Nun) haben die Veden ausgesprochenermaßen eine doppelte Bedeutung – die eine wird durch den buchstäblichen Sinn der Worte dargestellt, die andere durch das Metrum und den Svara (die Intonation) angezeigt, welche das Leben der Veden sind . . . . Gelehrte Pandits und Philologen leugnen natürlich, dass der Svara irgend etwas mit Philosophie oder alten esoterischen Lehren zu thun hat; aber der geheimnisvolle Zusammenhang zwischen Svara und Licht ist eines der tiefsten Geheimnisse. [2]

Es werden über 150 Upanishads von den Orientalisten aufgezählt, nach deren Meinung die ältesten derselben wahrscheinlich ungefähr 600 Jahre v. Chr. geschrieben worden sind; aber an echten Texten existiert nicht der fünfte Teil dieser Zahl. Die Upanishads verhalten sich zu den Veden, wie die Kabalah zur jüdischen Bibel. Die behandeln und erklären die geheime und mystische Bedeutung der vedischen Texte. Sie sprechen von dem Ursprunge des Weltalls, der Natur der Gottheit und von Geist und Seele, sowie auch vom metaphysischen Zusammenhang von Gedanke und Stoff. Mit wenigen Worten gesagt: Sie ENTHALTEN den Anfang und das Ende aller menschlichen Erkenntnis, aber sie haben aufgehört, dieselbe zu ENTHÜLLEN, seit den Tagen Buddhas. Wenn es anders wäre, so könnten die Upanishads nicht esoterisch genannt werden, da sie jetzt offen den heiligen brâhmanischen Büchern hinzugefügt sind, welche in unserem gegenwärtigen Zeitalter selbst den Mlechchhas (den kastenlosen) und den europäischen Orientalisten zugänglich wurden. Ein Ding weist in ihnen – und zwar in allen Upanishads – ausnahmslos und beständig auf ihren alten Ursprung hin, und beweist (a), daß sie in einigen ihrer Teile geschrieben wurden, bevor das Kastensystem zu der tyrannischen Einrichtung geworden war, die es jetzt noch ist; und (b), daß die Hälfte ihres Inhaltes ausgemerzt worden ist, während einige von ihnen aufs neue geschrieben und abgekürzt worden sind. „Die großen Lehrer der höheren Erkenntnis und die Brâhmanen werden beständig dargestellt, wie sie zu Kshatriya- (der Kriegerkaste angehörigen) Königen gehen, um ihre Schüler zu werden.“ Wie Professor Cowell richtig bemerkt, „atmen die Upanishads einen (von anderen brâhmanischen Schriften) gänzlich verschiedenen Geist, eine Freiheit des Gedankens, wie sie in jedem älteren Werke unbekannt ist, ausgenommen in den Hymnen des Rig Veda selbst.“ Die zweite Thatsache erklärt sich durch eine Überlieferung, die in einem der Manuskripte über Buddhas Leben aufgezeichnet ist. Sie besagt, daß die Upanishads ursprünglich ihren Brâhmanas angehängt worden sind, nach dem Beginne einer Reform, welche zu der Abgeschlossenheit des gegenwärtigen Kastensystems bei den Brâhmanen führte, ein paar Jahrhunderte nach dem Eindringen der „Zweimalgeborenen“ in Indien. Zu jener Zeit waren sie vollständig und wurden zum Unterrichte der Chelâs verwendet, welche sich zur Initiation vorbereiteten.

Dies dauerte so lange, als die Veden und die Brâhmanas in der alleinigen und ausschließlichen Verwahrung der Tempelbrâhminen verblieben – während niemand anderer, außerhalb der heiligen Kaste, das Recht hatte, sie zu studieren oder auch nur zu lesen. Dann kam Gautama, der Prinz von Kapilavastu.

Nachdem er die gesamte brâhmanische Weisheit in dem Rahasya, oder den Upanishaden, gelernt hatte und fand, daß die Lehren nur wenig, wenn überhaupt, von jenen der „Lehrer des Lebens“ abwichen, welche die schneeigen Ketten der Himâlayas bewohnten, [3] beschloß der Schüler der Brâhmanen, unwillig darüber, daß die heilige Weisheit allen, außer den Brâhmanen, vorenthalten wurde, durch gemeinverständliche Darstellung derselben die ganze Welt zu erretten. Da geschah es, daß  die Brâhmanen, da sie sahen, daß ihre heilige Wissenschaft und verborgene Weisheit in die Hände der Mlechchhas falle, die Texte der Upanishaden verkürzten, welche ursprünglich den dreifachen Inhalt der Veden und Brâhmanas zusammengenommen enthielten, ohne jedoch ein einziges Wort der Texte zu ändern.

Sie schieden einfach aus den Manuskripten die wichtigsten Teile aus, welche das letzte Wort der Geheimnisse des Seins enthielten. Der Schlüssel zu dem geheimen Codex der Brâhmanen verblieb hinfort den Initiierten allein, und die Brâhmanen waren so in der Lage, öffentlich die Richtigkeit von Buddhas Lehre zu bestreiten, unter Berufung auf ihre Upanishaden, die für immer über die Hauptfragen stumm gemacht worden waren. So ist die esoterische Überlieferung jenseits der Himâlayas.

Shrî Shakarâchârya, der größte Initiierte, der in historischer Zeit lebte, schrieb gar manches Bhâshya (Kommentar) über die Upanishaden. Aber seine ursprünglichen Abhandlungen sind, wie wir zu vermuten Grund haben, noch nicht in die Hände der Philister gefallen, denn sie werden zu eifersüchtig in seinen Klöstern (Mathams) aufbewahrt. Und noch viel gewichtigere Gründe rechtfertigen den Glauben, daß die unschätzbaren Bhâshyas über die esoterische Lehre der Brâhmanen, geschrieben von ihrem bedeutendsten Ausleger, für Zeitalter noch tote Buchstaben für die meisten Inder bleiben werden, ausgenommen für die Smârtava Brâhmanen. Diese von Shankarâchârya gegründete Sekte, die jetzt noch im südlichen Indien sehr mächtig ist, ist jetzt nahezu die einzige, welche Gelehrte hervorbringt, die genügende Erkenntnis bewahrt haben, um den toten Buchstaben der Bhâshyas zu verstehen. Der Grund dafür ist, wie mir mitgeteilt wird, der, daß sie allein zeitweilig wirkliche Initiierte an der Spitze ihrer Mathams haben, wie z. B. im Shringa-Giri, in den westlichen Ghâts von Mysore. Anderseits ist keine Sekte in der verzweifelt exklusiven Kaste der Brâhmanen, die exklusiver wäre als die Smârtava; und die Verschwiegenheit ihrer Anhänger, wenn es gilt zu sagen, was sie von en occulten Wissenschaften und der esoterischen Lehre wissen, wird nur erreicht von ihrem Stolze und ihrer Gelehrsamkeit.
Daher muß die Schreiberin der vorliegenden Behauptung vorderhand bereit sein, dem größten Widerspruche zu begegnen, und selbst der Ableugnung von solchen Behauptungen, wie sie in diesem Buche vorgebracht werden. Nicht, daß irgend welcher Anspruch auf Unfehlbarkeit oder vollkommene Richtigkeit in jedem einzelnen, was hierin geschrieben ist, jemals erhoben worden wäre. Hier stehen Thatsachen, und sie können schwerlich geleugnet werden; aber infolge der inneren Schwierigkeiten der behandelten Gegenstände und der nahezu unüberwindbaren Beschränkungen unserer, sowie jeder anderen europäischen Sprache, beim Ausdrucke gewisser Ideen, ist es mehr als wahrscheinlich, daß es der Schreiberin nicht gelungen ist, die Erklärungen in der besten und klarsten Form zu geben; aber alles, was bei den schwierigsten Umständen jeder Art gethan werden konnte, ist geschehen, und das ist das Höchste, was von irgend einem Schriftsteller erwartet werden kann.


[2] T. Subba Row, Five Years of Theosophy, p. 154.

[3] Auch genannt die „Söhne der Weisheit“ und des „Feuernebels“ und die „Brüder der Sonne“ in den chinesischen Aufzeichnungen. Si-dzang (Tibet) wird in den Manuskripten der heiligen Bibliothek der Provinz von Fo-Kein erwähnt als der große Sitz der occulten Gelehrsamkeit, bestehend seit unvordenklichen Zeiten, Zeitalter vor Buddha. Der Kaiser Yu, der „Große“ (2207 v. Chr.), ein frommer Mystiker und großer Adept, soll sein Wissen von den „großen Lehrern der Schneekette“ in Si-dzang erlangt haben.