4. Der Stoff ist ewig. Er ist der Upâdhi oder die körperliche Grundlage für das Eine unendliche Universalgemüt, um auf derselben seine Ideen auszubauen. Daher behaupten die Esoteriker, daß es keine anorganische oder „tote“ Materie in der Natur giebt, und daß die Unterscheidung zwischen den beiden Materieen, welche die Wissenschaft macht, ebenso unbegründet als willkürlich und unvernünftig ist. Was immer jedoch die Wissenschaft denken mag – und die exakte Wissenschaft ist eine wankelmütige Dame, wie wir alle aus Erfahrung wissen – der Occultismus weiß und lehrt es anders, wie er es auch seit unvordenklichen Zeiten gethan, von Manu und Hermes herab bis zu Paracelsus und seinen Nachfolgern.           

So sagt Hermes, der dreimal Große:

O mein Sohn, die Materie wird; früher war sie; denn die Materie ist der Träger des Werdens. Das Werden ist die Art der Thätigkeit des unerschaffenen und vorhersehenden Gottes. Nachdem sie mit dem Keime des Werdens ausgestattet worden, wird die (objektive) Materie geboren, denn die schöpferische Kraft formt sie entsprechend den idealen Formen. Die noch nicht geschwängerte Materie hatte keine Form; sie wird, wenn sie in Bewegung gesetzt ist. [5]

Hierzu bemerkt die verstorbene Dr. Anna Kingsford, die begabte Übersetzerin und Sammlerin der Hermetischen Fragmente in einer Fußnote:

Dr. Mênard bemerkt, daß im Griechischen ein und dasselbe Wort geboren werden und werden bedeutet. Die Idee ist hier die, daß das Material der Welt in seiner Wesenheit ewig ist, daß es aber vor der Schöpfung oder dem „Werden“ sich in einem passiven und bewegungslosen Zustand befindet. Somit „war“ es, bevor es in Bewegung gesetzt wurde; jetzt „wird“ es, das heißt, es ist beweglich und fortschreitend.

Und sie fügt die rein vedântistische Lehre der hermetischen Philosophie bei:

Schöpfung ist somit die Periode der Thätigkeit (das Manvantara) Gottes, welcher nach der hermetischen Anschauung (oder welches nach der vedântistischen) zwei Erscheinungsweisen hat – Thätigkeit oder Existenz, den evolvierten Gott (Deus explicitus); und Passivität des Seins (Pralaya), den involvierten Gott (Deus implicitus). Beide Erscheinungsweisen sind vollkommen und vollständig, wie es die Zustände des Wachens und Schlafens beim Menschen sind. Der deutsche Philosoph Fichte unterschied das Sein als ein Eines, welches wir bloß durch das Dasein als das Vielfältige erkennen. Diese Ansicht ist vollständig hermetisch. Die „idealen Formen“ . . . sind die urbildlichen und formengebenden Ideen der Neuplatoniker; die ewigen und subjektiven Vorstellungen der Dinge, die im göttlichen Gemüte vorhanden sind, vor der „Schöpfung“ oder dem Werden.

Oder nach der Philosophie des Paracelsus:

Alles ist das Produkt von einem universellen schöpferischen Streben . . . Es giebt nichts Totes in der Natur. Alles ist organisch und lebendig, und daher erscheint die ganze Welt als ein lebendiger Organismus. [6]

5. Das Weltall wurde nach seinem idealen Plan entwickelt, welcher von Ewigkeit in dem Unbewußtsein dessen, was die Vedântisten Parabrahman nennen, enthalten war. Dies ist praktisch identisch mit den Schlussfolgerungen der höchst entwickelten Philosophie, „den eingeborenen, ewigen, und selbstexistierenden Ideen“ des Plato, welche jetzt sich v. Hartmann wiederspiegeln. Das „Unerkennbare“ des Herbert Spencer zeigt nur eine schwache Ähnlichkeit mit der transcendentalen Realität, an die Occultisten glauben, indem es oft bloß als Personifikation einer „Kraft hinter den Phänomenen“ erscheint – eine unendliche und ewige Energie, aus der alle Dinge hervorgehen, während der Verfasser der Philosophie des Unbewußten (zwar nur in dieser Hinsicht) der Lösung des großen Geheimnisses so nahe gekommen ist, als es einem sterblichen Menschen möglich ist. Nur wenige, sowohl in der alten als in der mittelalterlichen Philosophie haben es gewagt, sich diesem Gegenstande zu nähern, oder ihn auch nur anzudeuten. Paracelsus erwähnt ihn in seinen Schlussfolgerungen, und seine Ideen wurden auf bewunderungswerte Weise zusammengefaßt von Dr. F. Hartmann, F. T. S., in seinem Paracelsus, aus dem wir soeben citiert haben.
Alle christlichen Kabbalisten verstanden richtig die östliche Grundidee. Die thätige Kraft, die „beständige Bewegung des großen Atems“ erweckt nur den Kosmos bei dem Heraufdämmern einer jeden neuen Periode, setzt ihn in Bewegung mit Hilfe der zwei entgegengesetzten Kräfte, der centripetalen und der centrifugalen Kräfte, die da sind männlich und weiblich, positiv und negativ, körperlich und geistig, und welche zwei die eine ursprüngliche Kraft sind, und welche das Objektiv werden des Kosmos auf der Ebene der Illusion bewirken. Mit anderen Worten, diese doppelte Bewegung überträgt den Kosmos von der Ebene des ewig Idealen auf die der endlichen Offenbarung, oder von der Ebene des Dings an sich auf die der Erscheinungen. Alles, was ist, war und sein wird, IST ewig, selbst die zahllosen Formen, welche endlich und vergänglich bloß in ihrer objektiven, aber nicht ihrer idealen Form sind. Sie existieren als Ideen in der Ewigkeit, und wen sie vergehen, werden sie als Reflexionen existieren. Der Occultismus lehrt, daß keinem Dinge eine Form gegeben werden kann, weder von der Natur noch vom Menschen, deren idealer Typus nicht bereits auf der subjektiven Ebene existiert: Ja, noch mehr; daß keine Form oder Gestalt irgendwie in das Bewußtsein des Menschen eintreten oder sich in seiner Einbildung entwickeln kann, welche nicht in einem Vorbilde oder wenigstens als eine Annäherung besteht.

Weder die Form des Menschen, noch die eines Tieres, einer Pflanze oder eines Steines ist jemals „erschaffen“ worden, und bloß auf dieser unserer Ebene hat sie angefangen zu „werden“, d. h.: sich zur gegenwärtigen Stofflichkeit zu vergegenständlichen, oder sich von innen nach außen auszubreiten, von der allerverfeinertsten übersinnlichsten Wesenheit zu ihrer gröbsten Erscheinung. Daher haben  unsere menschlichen Formen in der Ewigkeit als astrale oder ätherische Vorbilder existiert: nach diesen Modellen entwickelten die geistigen Wesen oder Götter, deren Pflicht es war, sie in gegenständliches Dasein und irdisches Leben zu bringen, die protoplasmischen Formen der zukünftigen Egos aus ihrer eigenen Wesenheit. Nachdem hierauf dieser menschliche Upâdhi oder Grundform fertig war, begannen die natürlichen irdischen Kräfte auf diese übersinnlichen Formen einzuwirken, welche außer ihrer eigenen, die Elemente aller vergangenen pflanzlichen und zukünftigen tierischen Formen dieser Kugel enthielten. Daher durchlief die äußere menschliche Schale jeden pflanzlichen und tierischen Körper, bevor sie die menschliche Gestalt annahm. Aber da alles dieses in Band II in den Kommentaren vollständig beschrieben werden wird, so ist es nicht nötig, hier mehr darüber zu sagen.


[5] The Virgin of the World, pp. 134-135.

[6] Paracelsus, Franz Hartmann, M. D., p. 44.