Hier ist sie.
Parâshara, der ârische „Hermes“, unterrichtet Maitreya, den indischen
Asklepios, und ruft Vishnu in seiner dreifachen Person an:
Ehre dem wandellosen, heiligen, ewigen, allerhöchsten
Vishnu, ihm von der einen universalen Natur; dem Mächtigen über alles;
ihm, der da ist Hiranyagarbha, Hari, und Shankara (Brahmâ, Vishnu, und
Shiva), dem Schöpfer, dem Erhalter, und Zerstörer der Welt; dem Vâsudeva,
dem Befreier (seiner Verehrer); ihm, dessen Wesenheit sowohl einfach als
mannigfach ist; der sowohl fein als körperlich, ungeschieden als geschieden
ist; dem Vishnu, der Ursache der schließlichen Befreiung. Ehre sei dem
allerhöchsten Vishnu, der Ursache der Schöpfung, des Daseins, und des
Endes dieser Welt; ihm, welcher die Wurzel der Welt ist, und der
aus der Welt besteht. [17]
Das ist eine große Anrufung, der eine tiefe philosophische Bedeutung
zu Grunde liegt; aber für die profanen Massen deutet es ebenso wie das
hermetische Gebet auf ein anthropomorphisches Wesen. Wir müssen das Gefühl
achten, das beide eingegeben hat; wir könne aber nicht umhin, es in vollem
Widerspruche mit seiner inneren Bedeutung zu finden, selbst mit derjenigen,
die in derselben hermetischen Abhandlung vorkommt, wo es heißt:
Trismegistos: Wirklichkeit findet
sich nicht auf der Erde, mein Sohn, und kann nicht auf derselben sein
. . . . Nichts auf Erden ist wirklich, es giebt dort nur Erscheinungen
. . . Er (der Mensch) ist nicht wirklich, mein Sohn, als Mensch. Das Wirkliche
besteht bloß in sich selbst und bleibt, was es ist . . . Der Mensch ist
vergänglich, daher ist er nicht wirklich, er ist bloß eine Erscheinung,
und Erscheinung ist die größte Täuschung.
Tatios: Dann sind die Himmelskörper selbst nicht wirklich,
mein Vater, da sie sich auch verändern?
Trismegistos: Das, was
der Geburt und dem Wechsel unterworfen ist, ist nicht wirklich . . . .
. es ist in ihnen eine gewisse Falschheit, da man sieht, daß auch sie
veränderlich sind . . . . .
Tatios: Und was ist nun die ursprüngliche Wirklichkeit, o
mein Vater?
Trismegistos: Er, Welcher
(Es, Welches) eins und allein ist, o Tatios; Er, Welcher (Es, Welches)
nicht aus Stoff gemacht ist, noch in irgend einem Körper. Welcher (Welches)
weder Farbe noch Form hat, Welcher (Welches) weder wechselt noch fortgepflanzt
wird, sonder Welcher (Welches) immer IST. [18]
Dies ist voller Übereinstimmung mit der Vedântalehre. Der leitende Gedanke
ist occult; und es finden sich viele Stellen in den hermetischen Fragmenten,
welche völlig der Geheimlehre angehören.
Diese Lehre besagt, daß das ganze Weltall von intelligenten und halbintelligenten
Kräften und Mächten beherrscht wird, wie wir vom allerersten Anfang an
festgestellt haben. Die christliche Theologie gestattet und befiehlt
sogar den Glauben an solche, aber sie macht eine willkürliche Unterscheidung
und nennt sie „Engel“ und „Teufel“. Die Wissenschaft leugnet das Dasein
von beiden und verspottet die Idee selbst. Die Spiritisten glauben an
die „Geister der Toten“ und leugnen außer diesen vollständig jede andere
Art oder Klasse von unsichtbaren Wesen. Die Occultisten oder Kabbalisten
sind somit die einzigen vernünftigen Ausleger der alten Überlieferungen,
welche jetzt im dogmatischen Glauben auf der einen Seite und im dogmatischen
Unglauben auf der anderen Seite gipfeln. Denn beide, Glauben und Unglauben,
umfassen bloß eine kleine Ecke der unendlichen Horizonte der geistigen
und körperlichen Offenbarungen. Und so haben beide recht von ihren diesbezüglichen
Standpunkten, aber auch beide unrecht, wenn sie glauben, daß sie das Ganze
in ihre eigenen, besonderen und engen Schranken einschließen können, denn
– das können sie niemals. In dieser Hinsicht zeigen Wissenschaft, Theologie
und Spiritismus nicht viel mehr Weisheit als der Strauß, wenn er den Kopf
in den Sand zu seinen Füßen versteckt und sich sicher fühlt, daß nunmehr
nichts außerhalb seines eigenen Beobachtungsortes und des engen Bereiches,
den sein thörichter Kopf einnimmt, existieren könne.
Da die einzigen Werke, die jetzt über den in Betrachtung stehenden Gegenstand
vorhanden sind – erreichbar für die Profanen der westlichen „civilisierten“
Rassen – die oben erwähnten hermetischen Bücher oder richtiger hermetischen
Fragmente sind, so wollen wir dieselben im gegenwärtigen Falle den Lehren
der esoterischen Philosophie gegenüberstellen. Zu diesem Zwecke irgendwelche
andere zu citieren, wäre nutzlos, denn die Öffentlichkeit weiß nichts
von den chaldäischen Werken, welche ins Arabische übersetzt und von einigen
initiierten Sufis aufbewahrt sind. Daher müssen wir uns zum Zwecke des
Vergleiches an die „Definitionen des Asklepios“ halten, wie sie jüngst
von Dr. Anna Kingsford, F. T. S., gesammelt und kommentiert worden sind,
von denen einige Aussprüche in bemerkenswerter Übereinstimmung zur östlichen
esoterischen Lehre stehen. Obwohl nicht wenige Stellen stark das Gepräge
einer christlichen Hand tragen, so sind doch im ganzen die Eigenschaften
der Genien und Götter dieselben, wie in den östlichen Lehren, wenn auch
in Bezug auf andere Dinge sich Stellen finden, die von unseren Lehrsätzen
höchst verschieden sind.
Was die Genien anbelangt, so nannten die hermetischen Philosophen Theoi
(Götter), Genii und Daimones, jene Weisheiten, welche wir Devas (Götter),
Dhyân Chohans, Chitkala (die Kwan-Yin der Buddhisten), und mit verschiedenen
anderen Namen benennen. Die Daimones sind – im sokratischen Sinne, und
selbst in dem der orientalischen und lateinischen Theologie – die Schutzgeister
der menschlichen Rasse; „jene, welche in der Nachbarschaft der Unsterblichen
wohnen, und von dort aus die menschlichen Angelegenheiten überwachen,“
wie Hermes sagt. In der esoterischen Ausdrucksweise heißen sie Chitkala,
von denen einige den Menschen mit seinem vierten und fünften Prinzipe
aus ihrer eigenen Wesenheit versehen haben, und andere die sogenannten
Pitris sind. Dies wird erklärt werden, wenn wir zur Hervorbringung des
vollständigen Menschen kommen. Die Wurzel des Namens ist Chit,
„das, durch welches die Folgen der Handlungen und die Arten der Erkenntnis
für den Gebrauch der Seele ausgewählt werden,“ oder das Gewissen, die
innere Stimme im Menschen. Bei den Yogins ist Chit gleichbedeutend
mit Mahat, dem ersten und göttlichen Intellekte; aber in der esoterischen
Philosophie ist Mahat die Wurzel von Chit, ihr Keim; und Chit ist eine
Eigenschaft des Manas in Vereinigung mit Buddhi, eine Eigenschaft, welche
durch geistige Verwandtschaft einen Chitkala an sich zieht, wenn sie im
Menschen genügend entwickelt ist. Dies ist der Grund, warum es heißt,
daß Chit eine Stimme ist, welche mystisches Leben erlangt und Kwan-Yin
wird.
[17] Vishnu Purâna, I. II., Wilson, I. 13-15.
[18] a. a. O., pp 135-138.
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