Herr Gaston Maspero, der große französische Ägyptologe und der Nachfolger von Mariette Bey, schreibt:

So oft ich Leute reden höre von der Religion Ägyptens, so bin ich immer versucht zu fragen, von welcher der ägyptischen Religionen sie sprechen? Sprechen sie von der ägyptischen Religion der vierten Dynastie, oder von der ägyptischen Religion der Ptolemäischen Periode? Sprechen sie von der Religion des Pöbels oder von der der Gelehrten? Von der Religion, wie sie in den Schulen von Heliopolis gelehrt wurde, oder von der, die sich in den Gemütern und Ideen der thebaischen Priesterklasse aussprach? Denn zwischen dem ersten memphitischen Grabmal, welches das Königsschild eines Königs der dritten Dynastie trägt, und den letzten Steinen, die zu Esneh unter Cäsar Philippus, dem Araber, graviert wurden, liegt ein Zwischenraum von mindestens fünftausend Jahren. Wenn wir auch die Invasion der Hirten, die äthiopischen und assyrischen Dynastieen, die persische Eroberung, die griechische Kolonisation, und die tausend Umwälzungen seines politischen Lebens außerachtlassen, so hat doch Ägypten während dieser fünftausend Jahre zahlreiche Wandlungen des moralischen und intellektuellen Lebens durchgemacht.

Das siebzehnte Kapitel des Totenbuches, welches die Darlegung des Weltsystems, wie man es zu Heliopolis zur Zeit der ersten Dynastieen auffaßte, zu enthalten scheint, ist uns nur durch einige wenige Kopieen aus der elften und zwölften Dynastie bekannt. Jeder von den dasselbe zusammensetzenden Versen wurde bereits auf drei oder vier verschiedene Arten erklärt; so verschieden in der That, daß nach dieser oder jener Schule der Demiurg entweder zum Sonnenfeuer - Ra-Shu - wurde, oder zum Urwasser. Fünfzehn Jahrhunderte später hatte die Zahl der Deutungen erheblich zugenommen. Die Zeit hatte in ihrem Verlaufe die Ideen der Ägypter über das Weltall und die Kräfte, welche dasselbe beherrschen, geändert.

In den kurzen achtzehn Jahrhunderten, seit welchen das Christentum besteht, hat dasselbe die meisten seiner Dogmen ausgearbeitet, entwickelt und umgewandelt; wie oft mag da nicht die ägyptische Priesterschaft ihre Dogmen geändert haben während der fünfzig Jahrhunderte, welche Theodosius von den königlichen Erbauern der Pyramiden trennen. [1]

Wir glauben, daß der hervorragende Ägyptologe hierin zu weit geht. Die exoterischen Dogmen mögen oft geändert worden sein, die esoterischen aber niemals. Er zieht nicht in Betracht die geheiligte Unveränderlichkeit der ursprünglichen Wahrheiten, die bloß während der Mysterien der Initiiation geoffenbart wurden. Die ägyptischen Priester haben viel vergessen, aber nichts geändert. Der Verlust eines großen Teiles der ursprünglichen Lehre war die Folge plötzlicher Todesfälle unter den großen Hierophanten, welche dahingingen, bevor sie Zeit hatten, alles ihren Nachfolgern zu offenbaren, hauptsächlich, wenn es an würdigen Erben des Wissens fehlte. Doch haben sie in ihren Ritualen und Dogmen die Hauptsätze der Geheimlehre erhalten.

So finden wir in dem von Maspero erwähnten Kapitel des Totenbuches folgendes: (1) Osiris sagt, daß er Tum ist - die schöpferische Kraft in der Natur, die allen Wesen, Geistern und Menschen die Form giebt, selbst erzeugt und selbst existierend - hervorgegangen aus Nun, dem himmlischen Flusse, genannt Vater-Mutter der Götter, der ursprünglichen Gottheit, welche Chaos ist oder die Tiefe, geschwängert von dem unsichtbaren Geiste. (2) Er fand Shu, die Sonnenkraft., auf der Treppe in der Stadt der Acht (der zwei Quadrate des Guten und des Bösen), und vernichtete die Kinder des Aufruhrs, die bösen Principien in Nun (Chaos). (3) Er ist das Feuer und das Wasser, Nun, der ursprüngliche Vater, und er schuf die Götter aus seinen Gliedern - vierzehn Götter (zweimal sieben), sieben dunkle und sieben lichte Götter - bei den Christen die sieben Geister der Gegenwart und die sieben dunklen Geister. (4) Er ist das Gesetz des Daseins und Seins, der Bennu, oder Phönix, der Vogel der Auferstehung in Ewigkeit, in welchem Nacht dem Tage und Tag der Nacht folgt - eine Anspielung auf die periodischen Cyklen der kosmischen Wiederauferstehung und menschlichen Reinkarnation. Denn was anderes kann dies bedeuten? „Der Wanderer, welcher Millionen von Jahren durchschreitet, ist der Name des einen und der Grosse Grüne (Urwasser oder Chaos) ist der Name des anderen“, der eine erzeugt Millionen von Jahren in Aufeinanderfolge, der andere verschlingt dieselben, um sie wieder zurückzubringen. (5) Er spricht von den Sieben Leuchtenden, welche ihrem Herrn Osiris folgen, der in Amenti Recht spricht.

All dieses war, wie jetzt gezeigt wird, die Quelle und der Ursprung christlicher Dogmen. Was die Juden durch Moses und andere Initiierte aus Ägypten hatten, war in späteren Tagen verwirrt und entstellt genug; aber was die Kirche von beiden übernommen hat, ist noch viel falscher ausgelegt.

Doch ist das System der ersteren auf diesem besonderen Gebiete der Symbologie - der Schlüssel nämlich zu den Mysterien der Astronomie in ihrem Zusammenhange mit jenen von Zeugung und Empfängnis - jetzt als identisch erwiesen mit jenen Ideen in alten Religionen, welche sich zu dem phallischen Elemente in der Theologie entwickelt haben. Das jüdische System der heiligen Maße in Anwendung auf religiöse Symbole ist dasselbe, soweit als geometrische und numerische Kombinationen gehen, wie die Systeme von Griechenland, Chaldäa und Ägypten, denn es wurde von den Israêliten während der Jahrhunderte ihrer Sklaverei und Gefangenschaft unter den beiden letzteren Nationen angenommen. [2] Was war dieses System? Es ist die innerste Überzeugung des Verfassers von The Source of Measures, daß: „Die mosaischen Bücher beabsichtigten, durch eine Art von Kunstsprache, ein geometrisches und numerisches System von exakter Wissenschaftlichkeit aufzustellen, welches als eine Quelle von Maßen dienen sollte.“ Piazzi Smyth ist einer ähnlichen Ansicht. Dieses System und diese Maße werden von einigen Gelehrten für identisch mit jenen gehalten, die bei der Erbauung der großen Pyramide benutzt wurden: aber dies ist nur teilweise so. „Die Grundlage dieser Maße war das Parkersche Verhältnis“, sagt Ralston Skinner in The Source of Measures.


[1] Guide au Musee de Boulaq, pp. 148, 149.

[2] Wie wir in Isis Unveiled, (II. 436-9) gesagt haben: „Bis zum gegenwärtigen Augenblick bleiben, trotz aller Kontroversen und Untersuchungen, Geschichte und Wissenschaft so sehr wie je im Dunkeln in Bezug auf den Ursprung der Juden. Sie können ebensogut die vertriebenen Chandâlas des alten Indiens, die von Veda-Vyâsa und Manu erwähnten ,Ziegelmaurer‘ sein, wie die Phönizier des Herodot, oder die Hyksos des Josephus, oder die Nachkommen der Pali-Schäfer, oder eine Mischung von allen diesen. Die Bibel nennt die Tyrier ein verwandtes Volk und beansprucht Herrschaft über dieselben . . . Doch was immer sie gewesen sein mögen, sie wurden nicht lange nach den Tagen des Moses ein Mischvolk, denn die Bibel zeigt sie uns in freier Mischheirat nicht bloß mit den Kanaaniten, sondern auch mit jeder andern Nation oder Rasse, mit der sie in Berührung kamen.“