Diese Ansprüche werden aber einer um den andern zugestanden, da ein Gelehrter nach dem andern gezwungen ist, die von der Geheimlehre ausgegebenen Thatsachen anzuerkennen; obwohl er selten wenn überhaupt eingesteht, daß man ihm seine Behauptungen vorweggenommen hat. So war in den glorreichen Tagen von Herrn Piazzi Smyths Autorität betreffs der Pyramide von Gizeh seine Theorie die, daß der Porphyrsarkophag in der Königskammer „die Maßeinheit für zwei der erleuchtetsten Nationen der Erde, England und Amerika, wurde“, und dabei nichts Besseres war als eine „Kornlade“. Dem wurde von uns in Isis Unveiled, welche zu jener Zeit soeben veröffentlicht worden, heftig widersprochen. Da erhob sich die New Yorker Presse in Waffen (vor allem die Zeitungen Sun und World) gegen unsere Anmaßung, einen solchen Stern von Gelehrsamkeit zu korrigieren oder Fehler in ihm zu finden. In jenem Werke hatten wir gesagt, daß Herodot, wo er von dieser Pyramide handelt:

. . . hätte hinzufügen können, daß sie äußerlich das schöpferische Prinzip der Natur symbolisierte, und auch die Prinzipien der Geometrie, Mathematik, Astrologie und Astronomie illustrierte. Im Innern war sie ein majestätisches Heiligtum, in dessen düsterer Abgeschiedenheit die Mysterien vollzogen wurden, und dessen Mauern oft Zeugen der Initiationsscenen von Mitgliedern der königlichen Familie gewesen waren. Der Porphyrsarkophag, den Professor Piazzi Smyth, königlicher Astronom von Schottland, zu einer Kornlade degradiert, war das Taufbecken, aus den emporgestiegen der Neophyt „wiedergeboren“ war und zum Adepten wurde. [5]

Unsere Behauptung wurde zu jener Zeit verlacht. Wir wurden beschuldigt, unsere Ideen der „Schrulle“ des Shaw entnommen zu haben, eines englischen Schriftstellers, der behauptet hatte, daß der Sarkophag für die Feier der Mysterien des Osiris benützt wurde, obwohl wir niemals von diesem Schriftsteller gehört hatten. Und jetzt, sechs oder sieben Jahre später (1882), schreibt Herr Staniland Wake folgendes:

Die sogenannte Königskammer, von der ein enthusiasmierter Pyramidenbesucher sagt, „die geglätteten Mauern, die feinen Stoffe, die großartigen Verhältnisse und der erhabene Platz sprechen beredt von Herrlichkeiten, die noch kommen sollen“, war, wenn nicht „die Kammer der Vollkommenheiten“ von Cheops Grab, so wahrscheinlich der Ort, zu dem der Initiant zugelassen wurde, nachdem er den engen, aufwärts führenden Durchgang und die große Gallerie mit ihrem niedrigen Abschlusse hinter sich hatte, wodurch er allmählich für das letzte Stadium der heiligen Mysterien vorbereitet wurde. [6]

Wäre Herr Staniland Wake ein Theosoph gewesen, so hätte er hinzufügen können, daß der enge, aufwärts führende Durchgang, der zur Königskammer führte, thatsächlich ein „enges Thor“ hatte; dasselbe „schmale Thor“, welches „zum Leben führt“, oder zur neuen geistigen Wiedergeburt, auf die Jesus in Matthäus [7] anspielt; und daß es dieses Thor in dem Tempel der Initiation war, an das der Schreiber, welcher die angeblich von einem Initiierten gesprochenen Worte aufgezeichnet hat, gedacht hat.
So werden die größten Gelehrten der Wissenschaft, anstatt über jenen vermeintlichen „Mischmasch von widersinniger Erdichtung und Aberglauben“, wie die brahmanische Litteratur gewöhnlich genannt wird, mit Geringschätzung hinwegzugehen, versuchen, die symbolische Universalsprache mit ihren nummerischen und geometrischen Schlüsseln zu lernen. Aber auch hierin werden sie schwerlich Erfolg haben, wenn sie den Glauben teilen, daß das jüdische kabbalistische System den Schlüssel zum ganzen Geheimnis enthält; denn das ist nicht der Fall. Auch keine andere Schrift enthält ihn gegenwärtig in seiner Gänze, nachdem selbst die Veden nicht vollständig sind. Jede alte Religion bedeutet bloß ein Kapitel oder zwei aus dem ganzen Bande der archäischen ursprünglichen Mysterien; der östliche Occultismus allein kann sich rühmen, im Besitze des ganzen Geheimnisses mit seinen sieben Schlüsseln zu sein. - Vergleichungen werden angestellt und soviel als möglich in diesem Werke erklärt werden; das übrige ist der persönlichen Intuition des Schülers überlassen. Wenn die Schreiberin sagt, daß der östliche Occultismus das Geheimnis besitzt, so will sie damit nicht eine „vollständige“ oder auch nur annähernde Kenntnis desselben behaupten, was thöricht wäre. Was ich weiß, das gebe ich; was ich nicht erklären kann, muß der Schüler selbst herausfinden.
Aber, obwohl wir annehmen können, daß der ganze Kreis der universellen Mysteriensprache durch Jahrhunderte der Zukunft nicht bewältigt werden wird, so ist doch selbst das Wenige, welches bisher in der Bibel von einigen Gelehrten entdeckt wurde, vollkommen genügend, die Behauptung - mathematisch zu beweisen. Nachdem das Judentum zwei von den sieben Schlüsseln benützte und nachdem diese zwei Schlüssel jetzt neu entdeckt worden sind, so ist es nicht weiter ein Gegenstand individueller Spekulation oder Hypothese, am allerwenigsten aber des „Zufalls“, sondern einer des richtigen Verstehens der biblischen Texte, gerade so wie ein mit Arithmetik Bekannter die Summenbildung einer Addition versteht und ihre Richtigkeit prüft. Thatsächlich ist alles, was wir in Isis Unveiled gesagt haben, jetzt in dem Egyptian Mystery, or The Source of Measures durch derartige Lesung der Bibel mit Hilfe der numerischen und geometrischen Schlüssel bestätigt gefunden worden
Noch ein paar Jahre, und dieses System wird die buchstäbliche Auslegung der Bibel ebenso zerstören, wie die von allem andern exoterischen Glauben, indem es die Dogmen in ihrer wirklichen unverhüllten Bedeutung zeigt. Und dann wird diese unleugbare Bedeutung trotz ihrer Unvollständigkeit das Geheimnis des Seins enthüllen und obendrein die modernen wissenschaftlichen Systeme der  Anthropologie, Ethnologie und speciell der Chronologie gänzlich umändern. Das Element von Phallicismus, das sich in jedem Gottnamen und jeder Erzählung des alten und in gewissem Grade auch des neuen Testamentes findet, mag ebenfalls mit der Zeit die modernen materialistischen Anschauungen über Biologie und Physiologie erheblich abändern.
Ihrer modernen abstoßenden Roheit entkleidet, werden solche Betrachtungsweisen von Natur und Menschen, kraft der Autorität der Himmelskörper und ihrer Geheimnisse, die Entwicklungsgänge des menschlichen Denkens enthüllen und zeigen, wie natürlich eine solche Gedankenreihe war. Die sogenannten phallischen Symbole sind bloß durch das Element von Materialität und Tierheit in ihnen anstößig geworden. Im Anbeginn waren solche Symbole nur natürlich, da sie mit den archaischen Rassen ihren Ursprung nahmen, welche, nach ihrer persönlichen Erfahrung aus androgynen Vorfahren hervorgegangen, nach ihrer eigenen Anschauung die ersten Offenbarungen in der Erscheinungswelt von der Trennung der Geschlechter und dem darauffolgenden Mysterium einer Schöpfung von ihrer Seite waren.


[5] a. a. O., I. 519.

[6] The Origin and Significance of the Great Pyramid, p. 93.

[7] VII. 13 ff