ABTEILUNG VIII.

DER LOTUS ALS EIN UNIVERSALES SYMBOL.

Es giebt keine alten Symbole ohne einen damit verbundenen tiefen und philosophischen Sinn, und ihre Wichtigkeit und Bedeutsamkeit nimmt mit ihrem Alter zu. Ein solches ist der Lotus. Er ist die der Natur und ihren Göttern geweihte Blume und stellt das abstrakte und das konkrete Weltall dar, indem er als das Emblem der hervorbringenden Kräfte sowohl der geistigen als auch der körperlichen Natur steht. Er wurde vom entferntesten Altertum her gleichermaßen heilig gehalten von den ârischen Hindûs, den Ägyptern, und nach ihnen den Buddhisten. Er wurde in China und Japan verehrt und als ein christliches Emblem von der griechischen und lateinischen Kirche angenommen, welche aus ihm einen Sendboten machten, sowie jetzt die Christen, die ihn durch die Wasserlilie ersetzt haben.
In der christlichen Religion erscheint auf jedem Bilde der Verkündigung Gabriel, der Erzengel, der Jungfrau Maria, indem er in seiner Hand einen Zweig von Wasserlilien hält. Dieser Zweig, welcher Feuer und Wasser versinnbildlicht, oder die Idee der Schöpfung und der Zeugung. symbolisiert genau dieselbe Idee wie der Lotus in der Hand des Bodhisattva, welcher der Mahâ-Mâyâ, der Mutter Gautamas, die Geburt des Buddha, des Weltheilands ankündigt. So wurden auch Osiris und Horus beständig von den Ägyptern in Verbindung mit der Lotusblume dargestellt indem beide Sonnengötter oder Götter des Feuers waren; geradeso wie der heilige Geist noch jetzt durch „feurige Zungen“ in der Apostelgeschichte bildlich dargestellt wird.
Er hatte, und hat noch, seine mystische Bedeutung, welche bei jeder Nation auf Erden dieselbe ist. Wir verweisen den Leser auf Sir William Jones. [1] Bei den Hindus ist der Lotus das Emblem der hervorbringenden Kraft der Natur, durch die Thätigkeit von Feuer und Wasser, oder Geist und Stoff. „O du Ewiger! Ich sehe Brahmâ, den Schöpfer, thronend in dir auf dem Lotus!“ sagt ein Vers in der Bhagavad Gîtâ. Und Sir W. Jones zeigt, wie bereits bei den Strophen angemerkt, daß die Samen des Lotus, selbst bevor sie keimen, vollkommen ausgebildete Blätter enthalten, die Kleinbilder von dein, was sie eines Tages als vollendete Pflanzen werden sollen. Der Lotus, in Indien, ist das Symbol der fruchtbaren Erde und, was mehr ist, des Berges Meru. Die vier Engel oder Genien der vier Viertel des Himmels, die Mahârâjahs der Strophen, stehen ein jeder auf einem Lotus. Der Lotus ist das zweifache Sinnbild des göttlichen und menschlichen Hermaphroditen, da er sozusagen von doppeltem Geschlecht ist.

Bei den Indern evolvierte der Geist des Feuers oder der Wärme - welche alles, was aus dem Wasser oder der ursprünglichen Erde geboren ist, aus seinem idealen Vorbilde zu konkreter Form aufrüttelt, befruchtet und entwickelt - den Brahma. Die Lotosblume, dargestellt, wie sie hervorwächst aus dem Nabel des Vishnu, des Gottes, der in den Wassern des Raumes auf der Schlange der Unendlichkeit ruht, ist das anschaulichste Symbol, das je gemacht wurde. Es ist das Weltall, das sich aus der Centralsonne, dem Punkte, dem immer verborgenen Keime, entwickelt. Lakshmî, die der weibliche Aspekt des Vishnu ist und welche auch Padma, der Lotus, genannt wird, im Râmâyana, wird ebenfalls auf einer Lotusblume schwimmend dargestellt bei der „Schöpfung“ und während des „Butterns des Ozeans“ des Raumes, sowie auch aus dem „Milchmeer“ hervorgehend, wie Venus-Aphrodite aus dem Schaume des Ozeans.

. . . Dann auf dem Lotus sitzend
Erhebt der Schönheit Göttin, Shrî, die Unvergleichliche
Sich aus den Wassern . . .

singt ein englischer Orientalist und Dichter, Sir Monier Williams.


[1] Siehe Dissertations Relating to Asia.