Die zahlreichen und außerordentlich interessanten Deutungen, die Erklärungen
und Thatsachen über die Schlangenverehrung, welche in Herrn Gerald Masseys
Natural Genesis gegeben sind, sind sehr geistreich und wissenschaftlich
richtig. Aber sie sind sehr weit entfernt davon, der Gesamtheit
der darin enthaltenen Bedeutungen gerecht zu werden. Sie enthüllen bloß
die astronomischen und physiologischen Mysterien, einschließlich einiger
kosmischer Erscheinungen. Auf der niedrigsten Ebene der Materialität war
die Schlange ohne Zweifel das „große Emblem des Geheimnisses der Geheimnisse“,
und war sehr wahrscheinlich „angenommen als Sinnbild der weiblichen Geschlechtsreife,
wegen ihres Hautabwerfens und ihrer Wiedererneuerung“. Es war so jedoch
bloß mit Beziehung auf die Geheimnisse, welche das irdische tierische
Leben betreffen, denn als das Symbol der „Neubekleidung und Wiedergeburt
in den (universalen) Mysterien“, war ihre „schließliche Phase“,
[3] oder sollen wir lieber sagen, die Phasen ihres Anbeginns
und ihres Höhepunkts, nicht von dieser Ebene. Diese Phasen entstanden
in dem reinen Bereiche des idealen Lichtes, und nachdem sie die Runde
des ganzen Cyklus von Anwendungen und Symbolik vollendet hatten, kehrten
die Mysterien dorthin zurück, woher sie gekommen waren, in die Wesenheit
unstofflicher Ursächlichkeit. Sie gehörten der höchsten Gnosis
an. Und sicherlich hätte diese ihren Namen und Ruhm niemals einzig auf
Grund ihres Eindringens in physiologische und insbesondere weibliche Verrichtungen
erhalten können!
Als Symbol hatte die Schlange ebensoviele Aspekte
und okkulte Bedeutungen wie der Baum selbst; der „Baum des Lebens“, mit
dem sie emblematisch und nahezu unauflöslich verbunden war. Einerlei ob
als metaphysisches oder als physisches Symbol betrachtet, sind Baum und
Schlange, zusammen oder einzeln, im Altertume niemals so erniedrigt worden
wie jetzt, in diesem unsern Zeitalter des Zerbrechens der Idole - nicht
der Wahrheit zu Liebe, sondern um den allergröblichsten Stoff zu verherrlichen.
Die Enthüllungen und Erklärungen in General Forlongs Rivers of Life
hätten das Erstaunen der Verehrer von Baum und Schlange in den Tagen archaischer,
chaldäischer und ägyptischer Weisheit hervorgerufen; und selbst die ersten
Shaivas würden entsetzt zurückgeschrocken sein vor von den Theorien und
Anregungen des Verfassers des genannten Werkes. „ Die Idee von Payne Knight
und Inman, daß das Kreuz oder Tau einfach eine Kopie der männlichen Organe
in einer triadischen Form ist, ist von Grund aus falsch,“ schreibt G.
Massey, welcher beweist, was er sagt. Dieser Satz. aber könnte ebenso
richtig auf nahezu alle modernen Erklärungen alter Symbole angewendet
werden. The Natural Genesis, ein großartiges Werk von Forschung
und Gedanken, das vollständigste, welches jemals über diesen Gegenstand
veröffentlicht worden ist das thatsächlich ein weites Gebiet umfaßt und
viel mehr erklärt, als alle Symbologen, welche bisher geschrieben haben,
geht doch nicht über das ,,psycho-theistische“ Stadium des alten Denkens
hinaus. Auch waren Payne Knight und Inman nicht vollständig im Unrecht;
ausgenommen darin, daß sie gänzlich verfehlten zu sehen, daß ihre Erklärungen
des Baumes des Lebens, als Kreuz und Phallus, dem Symbole bloß in dem
niedersten und spätesten Zustande der evolutionären Entwicklung der Idee
des Gebers des Lebens gerecht wurden. Es war die letzte und gröbste körperliche
Umwandlung der Natur, im Tiere, Insekte, Vogel und selbst der Pflanze;
denn der zweieinige, schöpferische Magnetismus, in der Form der Anziehung
der Gegensätze, oder der geschlechtlichen Polarisation, wirkt in der Bildung
des Kriechtieres oder Vogels ebenso, wie in der des Menschen. Weiter können
die neuzeitlichen Symbologen und Orientalisten vom ersten bis zum letzten
in ihrer Unkenntnis der wirklichen Geheimnisse, welche durch den Okkultismus
enthüllt werden, notwendigerweise nur diesen letzten Zustand sehen. Wenn
man ihnen sagen würde, daß diese Art der Fortpflanzung, welche jetzt der
ganzen Daseinswelt auf dieser Erde gemein ist, bloß eine vorübergehende
Wandlung, ein körperliches Mittel ist, um die Bedingungen für die Erscheinungen
des Lebens zu liefern und diese selbst hervorzubringen, und daß sie sich
mit dieser Wurzelrasse ändern und mit der nächsten verschwinden werde,
so würden sie über einen derartig abergläubischen und unwissenschaftlichen
Gedanken lachen. Aber die gelehrtesten Okkultisten behaupten dies, weil
sie es wissen. Die Gesamtheit aller jener lebenden Wesen, welche
ihre Art fortpflanzen, ist der lebendige Zeuge für die verschiedenen Arten
der Fortpflanzung in der Entwicklung der tierischen und menschlichen Arten
und Rassen; und der Naturforscher sollte den Sinn dieser Wahrheit intuitiv
fühlen, auch wenn er noch nicht im stande ist, sie zu beweisen. Wie könnte
er dies jedoch mit den gegenwärtigen Denkgewohnheiten! Die Marksteine
der archaischen Geschichte der Vergangenheit sind wenige und selten, und
jene, welche den Männern der Wissenschaft in die Quere kommen, werden
für Wegezeichen unserer kleinen Ära gehalten. Selbst die sogenannte „universale
(?) Geschichte“ umfaßt bloß ein winziges Feld in dem nahezu schrankenlosen
Raume der unerforschten Gebiete unserer letzten, der fünften Wurzelrasse.
Daher wird jeder nette Wegweiser, jede neue Glyphe der altersgrauen Vorzeit,
welche entdeckt wird, dem alten Bestande der Lehre hinzugefügt, um nach
denselben Regeln vorgefaßter Vorstellungen erklärt zu werden, und ohne
irgend welche Rücksichtnahme auf den besonderen Gedankencyklus, welchem
diese besondere Glyphe angehören mag. Wie kann die Wahrheit jemals ans
Licht kommen, wenn diese Methode niemals geändert wird!
[3] Gerald Massey, The Natural Genesis, I. 340
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