Wir citieren das Obige als Beispiel für das weite Feld, welches die Purânen für gegnerische und irrtümliche Kritik seitens eines jeden europäischen Frömmlers bieten, welcher eine fremde Religion nach dem bloßen äußeren Anblicke abschätzt. Jedermann, der gewohnt ist, das, was er liest, einer gedankenvollen Prüfung zu unterwerfen, wird auf den ersten Blick die Widersinnigkeit einsehen, welche darin liegt, das als „unerkennbar“ angenommene, das formlose und attributlose Absolute, wie die Vedântisten Brahman definieren, als „eins mit der Schlangenrasse, doppelzüngig, grausam und unersättlich“ anzurufen, und so das Abstrakte mit dem Konkreten zu verbinden, und Beiworte dem beizulegen, welches frei von allen Beschränkungen und unbedingt ist. Selbst Professor Wilson, welcher, da er durch so viele Jahre von Brahmanen und Pandits umgeben in Indien gelebt hatte, es besser hätte wissen sollen - selbst dieser Gelehrte ließ sich keine Gelegenheit entgehen, die indischen Schriften in dieser Hinsicht zu kritisieren. So ruft er aus:

Die Purânen stellen beständig unvereinbare Lehren auf! Nach dieser Stelle [12] ist das höchste Wesen nicht bloß die unthätige Ursache der Schöpfung, sondern übt die Thätigkeiten einer handelnden Vorsehung aus. Der Kommentator citiert eine Stelle aus dem Veda zur Unterstützung dieser Ansicht: „die Universalseele tritt in die Menschen ein und lenkt ihre Handlungsweise.“ Widersprüche jedoch sind ebenso häufig in den Veden wie in den Purânen.

Weniger häufig - das ist die nüchterne Wahrheit - als in der mosaischen Bibel. Aber das Vorurteil ist groß in den Herzen unserer Orientalisten, insbesondere in jenen von „hochwürdigen“ Gelehrten. Die Universalseele ist nicht die unthätige Ursache der Schöpfung oder (Para) Brahman, sondern einfach das, was wir das sechste Prinzip des intellektuellen Kosmos auf der geoffenbarten Ebene des Daseins nennen. Sie ist Mahat, oder Mahâbuddhi, die große Seele, die Trägerin des Geistes, die erste ursprüngliche Wiederspiegelung der formlosen URSACHE, und dessen, was sogar jenseits des Geistes ist. Soviel über Professor Wilsons unberufenen Hieb auf die Purânen. Was die offenbar widerspruchsvolle Anrufung des Vishnu von Seite der geschlagenen Götter betrifft, so findet sich die Erklärung ebenda im Texte des Vishnu Purâna, wenn die Orientalisten sie nur beachten wollten. Es giebt einen Vishnu als Brahma, und einen Vishnu in seinen zwei Aspekten, lehrt uns die Philosophie. Es giebt bloß ein Brahman, „seinem Wesen nach Prakriti und Geist.“
Diese Unkenntnis findet ihre wahre und schöne Bezeichnung in dem Lobgesange der Yogins an Brahmâ, „den Erhalter der Erde“, wo sie sagen:

Jene, welche nicht Andacht geübt haben, haben eine irrtümliche Vorstellung von der Natur der Welt. Die Unwissenden, welche nicht wahrnehmen, daß dieses Weltall von der Natur der Weisheit ist, und es nur als einen Gegenstand der Wahrnehmung beurteilen, sind verloren in dem Ozeane der geistigen Unwissenheit. Aber jene, welche die wahre Weisheit kennen, und deren Gemüter rein sind, erblicken diese ganze Welt als eins mit der Gottheiten Erkenntnis, als eins mit dir, o Gott! Sei gnädig, o universaler Geist! [13]

Daher ist es nicht Vishnu, „die unthätige Ursache der Schöpfung“, der die Funktionen einer thätigen Vorsehung ausübte, sondern die Universalseele, das, was Éliphas Lévi das Astrallicht nennt: Und diese Seele ist, in ihrem dualen Aspekte von Geist und Materie, der wahre anthropomorphische Gott der Theisten; denn dieser Gott ist eine Personifikation jenes universalen schöpferischen Agenten, rein sowohl als unrein, wegen seines geoffenbarten Zustandes und seiner Differentiation in dieser mâyâvischen Welt - Gott und Teufel fürwahr. Aber Professor Wilson verfehlte zu sehen, wieso Vishnu in diesem Charakter große Ähnlichkeit mit dem Herrgott von Israel hat, „insbesondere in seiner Politik der Täuschung, Versuchung und List.“
Im Vishnu Purâna ist dies so klar gemacht, wie nur möglich. Denn es heißt dort:

Beim Schlusse ihrer Gebete (stotra) erblickten die Götter die höchste Gottheit Hari (Vishnu) mit der Muschel, dem Diskus und der Keule bewaffnet, auf dem Garuda reitend.

Nun ist Garuda der manvantarische Cyklus, wie an seinem Orte gezeigt werden wird. Vishnu ist daher die Gottheit in Raum und Zeit, der besondere Gott der Vaishnavas. Solche Götter heißen in der esoterischen Philosophie Stammes- oder Rassen-Götter, das heißt, einzelne von den vielen Dhyânis oder Göttern, oder Elohim, von denen gewöhnlich einer aus irgend einem besonderen Grunde von einer Nation oder einem Stamme auserwählt wurde, und so allmählich zu einem „Gotte über allen Göttern“, [14] zum „höchsten Gotte“ wurde, wie Jehovah, Osiris, Bel, oder irgend ein anderer von den sieben Regenten.
„Den Baum erkennt man an seiner Frucht“; die Natur eines Gottes an seinen Handlungen. Wir müssen diese Handlungen entweder nach dem toten Buchstaben der Erzählung beurteilen, oder wir müssen sie allegorisch nehmen, Wenn wir die beiden vergleichen – Vishnu als den Verteidiger und Vorkämpfer der besiegten Götter; und Jehovah, den Verteidiger und Vorkämpfer des „auserwählten“ Volkes, das unzweifelhaft ironisch so benannt ist, da die Juden es waren, welche diesen „eifersüchtigen“ Gott auserwählt hatten – so werden wir finden, dass beide sich der Täuschung und List bedienen. Sie thun dies nach dem Grundsatze, dass „der Zweck die Mittel heiligt“, um über ihre beziehungsweisen Gegner und Feinde – die Dämonen – die Oberhand zu gewinnen. Während so nach den Kabbalisten Jehovah die Gestalt der versuchenden Schlange im Garten Eden annimmt, den Satan mit besonderem Auftrage aussendet, um den Hiob zu versuchen, den Pharaoh mit Sarah, dem Weibe Abrahams, abquält und ermüdet, und das Herz eines anderen Pharaohs gegen Moses „verhärtet“, damit ihm nicht die Gelegenheit benommen sei, sein Opfer „mit großen Plagen“ zu schlagen, nimmt Vishnu nach seinem Purâna zu einem Kniff seine Zuflucht, der nicht minder eines jeden anständigen Gottes unwürdig ist.


[12] Buch I. Kap. XVII (Wilson, Bd. II. 36), in der Geschichte des Prahlâda - des Sohnes des Hiranyakashipu, des purânischen Satans, des großen Feindes des Vishnu, und des Königs der drei Welten in dessen Herz Vishnu eintrat.

[13] Ebenda, I. IV (Wilson, Bd. I. 64).

[14] II Chronika, II. 5