Die besiegten Götter wenden sich an Vishnu wie folgt:

Habe Mitleid mit uns, o Herr, und schütze uns, die wir dir gekommen sind um Hilfe gegen die Daityas (Dämonen)! Sie haben sich der drei Welten bemächtigt, und sich die Opfer angeeignet, welche unser Anteil sind, indem sie Sorge tragen, die Vorschriften des Veda nicht zu verletzen. Obwohl wir, ebenso gut wie sie, Teile von dir sind, [15] . . . . da sie (thatsächlich) innehalten . . . . . die in der heiligen Schrift vorgeschriebenen Pfade . . . . . so ist es uns unmöglich, sie zu vernichten. O du, dessen Weisheit unermesslich ist (Ameyâtman), unterrichte uns in einer List, durch die wir im stande sind, die Feinde der Götter zu vertilgen!

Als der mächtige Vishnu ihre Bitte hörte, entsendet er aus seinem Körper eine illusive Form (Mâyâmoha, den „Bethörer durch Illusion“), und diese gab er den Göttern und sprach also: „Dieser Mâyâmoha soll die Daityas vollständig bestricken, so daß sie, vom Pfade der Veden abgelenkt, getötet werden können . . . . So gehet denn und fürchtet euch nicht. Lasset diese trügerische Erscheinung euch voranschreiten. Sie soll euch an diesem Tage von großem Dienste sein, o Götter!“

Hierauf ging diese große Täuschung (Mâyâmoha) hin (zur Erde), erblickte die mit asketischen Büßungen beschäftigten Daityas, näherte sich ihnen in der Gestalt eines Digambara (eines nackten Bettelmönches) mit geschorenem Haupte . . . und sprach mit sanfter Stimme also zu ihnen: „O ihr Herren vom Daityastamme, warum führet ihr diese Bußübungen aus?“ u. s. w. [16]

Schließlich wurden die Daityas durch die arglistige Rede des Mâyâmoha verführt, wie Eva durch den Rat der Schlange verführt wurde. Sie wurden Abtrünnige an den Veden. Dr. Muir übersetzt die Stelle wie folgt:

Der große Betrüger bestrickte zunächst durch seine Täuschung andere Daityas mittelst vieler anderer Arten von Häresie. Nach sehr kurzer Zeit fielen diese Asuras (Daityas), getäuscht von dem Betrüger (welcher Vishnu war), von dem ganzen System, welches auf den Anordnungen des dreifachen Veda begründet ist, ab. Einige schmähten die Veden; andere das Opferceremoniell; und andere die Brâhmanen. Dies (riefen sie aus) ist eine Lehre, welche einer Prüfung nicht Stand hält; das Sch]achten (der Tiere beim Opfer) ist religiösem Verdienste nicht förderlich. (Zu sagen, dass) Darbringungen von Butter, die im Feuer verbrannt werden, irgendwie zukünftigen Lohn bringen, ist die Behauptung eines Kindes . . . . Wenn es Thatsache ist, das ein beim Opfer geschlachtetes Tier in den Himmel erhoben wird, warum schlachtet der Opfernde nicht seinen eigenen Vater? . . . . Unfehlbare Aussprüche, ihr großen Asuras, fallen nicht vom Himmel; bloß Behauptungen, die auf Vernunftschlüssen begründet sind, werden von mir und anderen (intelligenten) Personen, wie von euch, angenommen! So wurden die Daityas auf mannigfache Art von dem großen Betrüger (der Urteilskraft) zum Wanken gebracht . . . . Als die Daityas den Pfad des Irrtums betreten hatten, sammelten die Götter alle ihre Kräfte und zogen in die Schlacht. Hierauf folgte ein Kampf der Götter und der Asuras; und die letzteren, welche den rechten Pfad verlassen hatten, wurden von den ersteren geschlagen. In früherer Zeit wurden sie durch die Rüstung der Rechtschaffenheit, mit welcher sie angethan waren, geschützt; aber nachdem diese zerstört war, gingen auch sie selbst zu Grunde. [17]

Was immer man auch von den Indern denken möge, keiner ihrer Feinde kann sie für Narren halten. Ein Volk, dessen heilige Männer und Weisen der Welt die größten und erhabensten Philosophien hinterlassen haben, die jemals dem menschlichen Denken entsprungen sind, muß den Unterschied zwischen Recht und Unrecht gekannt haben. Selbst ein Wilder kann weiß von schwarz, gut von böse und Betrug von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit unterscheiden. Jene, die dieses Ereignis in der Biographie ihres Gottes erzählt haben, müssen eingesehen haben, daß in diesem Falle der Gott der Erzbetrüger war, und daß die Daityas, welche „niemals die Vorschriften der Veden übertraten“, auf der sonnigen Seite dieser That gestanden und die wahren „Götter“ gewesen sind. Es muß daher eine geheime Bedeutung unter dieser Allegorie verborgen gelegen sein, und das ist sie auch. Bei keiner Gesellschaftsklasse, bei keiner Nation werden Betrug und List für göttliche Tugenden gehalten - ausgenommen vielleicht bei den klerikalen Klassen der Theologen und beim modernen Jesuitismus.
Das Vishnu Purâna [18] ging, wie alle anderen Werke dieser Art, in einer späteren Periode in die Hände der Tempel-Brahmanen über, und die alten Manuskripte sind fernerhin ohne Zweifel von Sektierern passend umgestaltet worden. Es hat aber eine Zeit gegeben, in denen die Purânen esoterische Werke waren, und das sind sie auch jetzt noch für die Initiierten, die sie mit dem Schlüssel lesen können, der in ihrem Besitze ist.
Ob die brâhmanischen Initiierten jemals die volle Bedeutung dieser Allegorien veröffentlichen werden, ist eine Frage, mit deren Beantwortung die Schreiberin sich nicht zu befassen hat. Zweck des vorliegenden ist es, zu zeigen, daß bei aller Verehrung der schöpferischen Kräfte in ihren vielfachen Formen kein Philosoph die Allegorie für den wahren Geist nehmen konnte, noch jemals dafür genommen hat, ausgenommen vielleicht einige Philosophen, die den gegenwärtigen „hohen und civilisierten“ christlichen Rassen angehören. Denn, wie gezeigt worden ist, ist Jehovah nicht im geringsten erhabener als Vishnu auf der Ebene der Ethik. Dies ist der Grund, warum die Occultisten und selbst einige Kabbalisten, einerlei ob sie jene schöpferischen Kräfte als lebende und bewußte Wesenheiten betrachten oder nicht - und man sieht nicht ein, warum sie nicht dafür genommen werden sollten - niemals die Ursache mit der Wirkung verwechseln und den Geist der Erde für Parabrahman oder Ain Suph nehmen werden. Auf jeden Fall kennen sie genau die wahre Natur dessen, was die Griechen Vater - Äther, Jupiter - Titan u. s. w. nannten. Sie wissen, daß die Seele des Astrallichtes göttlich ist, und sein Körper - die Lichtwellen auf den niederen Ebenen - teuflisch. Dieses Licht wird symbolisiert durch das „magische Haupt“ im Zohar, durch das doppelte Gesicht auf der doppelten Pyramide; die schwarze Pyramide erhebt sich gegen einen reinen weißen Grund, mit einem weißen Haupte und Gesichte innerhalb ihres schwarzen Dreieckes; die weiße Pyramide ist verkehrt - als Widerschein der ersten in den dunkeln Wassern - und zeigt den dunklen Reflex des weißen Gesichtes.
Dies ist das Astrallicht, oder Demon est Deus inversus.

[15] “Es gab sich aber des Tages, da die Kinder Gottes kamen, und traten vor den Herrn, daß Satan kam mit seinen Brüdern, und auch vor den Herrn trat”. (Hiob, II., Abyss.-Äthiopischer Text.)

[16] Ebenda, Bd. III. 205-7.

[17] Journal of the Royal Asiat. Society, XIX. 302.

[18] Wilsons Meinung, daß das Vishnu Purâna eine Hervorbringung unserer Ära und in seiner gegenwärtigen Form nicht älter ist als aus der Zeit zwischen dem 8. und 17. (!) Jahrhundert. ist zu widersinnig, als daß sie Beachtung verdiente.