ABTEILUNG XII

DIE THEOGONIE DER SCHÖPFERISCHEN GÖTTER.

Zum vollkommenen Verständnisse der einer jeden alten Kosmologie zu Grunde liegenden Idee ist das Studium und die vergleichende Untersuchung aller großen Religionen des Altertums nötig; denn nur durch dieses Verfahren kann die Wurzelidee klar gemacht werden. Die exakte Wissenschaft würde, wenn sie sich so hoch aufschwingen könnte, die Thätigkeiten der Natur bis zu ihren letzten und ursprünglichen Quellen zu verfolgen, diese Idee die Hierarchie der Kräfte nennen. Die ursprüngliche, transcendentale und philosophische Vorstellung war eine einzige. Aber als die Systeme mit jedem Zeitalter mehr und mehr die Idiosynkrasien der Völker wiederzuspiegeln begannen, und als sich die letzteren nach der Trennung in unterschiedlichen Gruppen niederließen, von denen eine jede sich nach ihrer eigenen nationalen oder tribalen Schablone entwickelte, wurde die Grundidee allmählich durch das Überwuchern der menschlichen Phantasie verschleiert. Während in einigen Ländern die Kräfte oder vielmehr die intelligenten Mächte der Natur, göttliche Ehren erfuhren, auf die sie schwerlich Anspruch machen konnten, erscheint in anderen - wie jetzt in Europa und den anderen civilisierten Landen - der bloße Gedanke, daß solche Kräfte mit Intelligenz begabt seien, widersinnig und wird für unwissenschaftlich erklärt. Man fühlt sich daher erleichtert durch solche Sätze, wie sie sich in der Einleitung zu Asgard und the Gods finden; in „Sagen und Überlieferungen unserer nördlichen Vorfahren“ herausgegeben von W. S. W. Anson, welcher sagt:

Obwohl in Centralasien, oder an den Ufern des Indus, im Lande der Pyramiden, und auf der griechischen und italienischen Halbinsel, und gerade im Norden, wohin die Kelten, Teutonen und Slaven gewandert sind, die religiösen Vorstellungen des Volkes verschiedene Formen angenommen haben, so ist doch ihr gemeinsamer Ursprung noch wahrnehmbar. Wir weisen hin auf diesen Zusammenhang zwischen den Göttergeschichten, auf die in ihnen enthaltenen tiefsinnigen Gedanken und auf ihre Wichtigkeit, damit der Leser einsehen möge, daß sich vor ihm nicht eine magische Welt ausschweifender Einbildungskraft eröffnet, sondern daß . . . Leben und Natur die Grundlage für das Dasein und das Wirken dieser Gottheiten bildeten. [1]

Und obwohl es keinem Occultisten oder Schüler der östlichen Esoterik möglich sein wird, mit der seltsamen Idee übereinzustimmen, daß „die religiösen Begriffe der berühmtesten Nationen des Altertums im Zusammenhang stehen mit dem Beginne der Civilisation unter den germanischen Rassen“, [2] so wird ein solcher doch sehr erfreut sein, Wahrheiten ausgedrückt zu finden wie die folgende: „Diese Feenmärchen sind nicht bloß sinnlose Geschichten, die zu müßiger Unterhaltung geschrieben sind; sie verkörpern vielmehr die tiefsinnige Religion unserer Vorväter“. [3]
Ganz genau so. Nicht bloß ihre Religion, sondern desgleichen ihre Geschichte. Denn eine Mythe, im Griechischen [korrekter Abdruck siehe  Buch], bedeutet eine mündliche Überlieferung, die von Mund zu Mund von einer Generation zur anderen übergegangen ist, und selbst in der modernen Etymologie steht das Wort für eine fabelartige Erzählung, die irgend eine bedeutende Wahrheit mitteilt; eine Geschichte einer außerordentlichen Persönlichkeit, deren Lebensbild infolge der Verehrung der aufeinander folgenden Geschlechter von reicher volkstümlicher Phantasie überwachsen ist, aber das nicht vollständig ins Gebiet der Fabel gehört. Ebenso wie unsere Vorfahren, die ursprünglichen hier, glauben auch wir fest an die Persönlichkeit und Intelligenz von mehr als einer der Erscheinungen hervorbringenden Kräfte in der Natur.
Wie die Zeit dahinrollte, wurde die archaische Lehre immer verschwommener, und die Völker verloren mehr oder weniger das höchste und Eine Prinzip aller Dinge aus den Augen und begannen die abstrakten Attribute der ursachenlosen Ursache auf die verursachten Wirkungen zu übertragen, welche ihrerseits ursächlich wurden, als die schöpferischen Kräfte des Weltalls; die großen Nationen handelten so aus Furcht, die Idee zu profanieren; die kleineren entweder, weil sie dieselbe zu erfassen verfehlten, oder weil ihnen die philosophische Vorstellungskraft mangelte, die notwendig ist, um sie in all ihrer unbefleckten Reinheit zu erhalten. Aber alle insgesamt, mit Ausnahme der späteren Ârier, die jetzt Europäer und. Christen geworden sind, zeigen diese Verehrung in ihren Kosmogonien. Wie Thomas Taylor, [4] der intuitivste aller Übersetzter der griechischen Fragmente, zeigt, hat sich keine Nation jemals das Eine Prinzip als den unmittelbaren Schöpfer des sichtbaren Weltalls vorgestellt, denn kein geistig Gesunder würde von dem Anfertiger des Planes und Architekten vermuten, daß derselbe mit eigenen Händen das Gebäude erbaut habe, welches er bewundert. Nach dem Zeugnisse des Damascius in seinem Werke über die ersten Anfänge ([korrekter Abdruck siehe  Buch]), bezeichneten sie es als die „Unbekannte Dunkelheit“. Die Babylonier übergingen dieses Prinzip mit Stillschweigen. „An jenen Gott,“ sagt Porphyrius in seinem Werke über Enthaltsamkeit ([korrekter Abdruck siehe  Buch]), „der über allen Dingen ist, sollte man sich weder in äußerer Rede wenden, noch in der, welche innerlich ist“. Hesiod beginnt seine Theogonie mit den Worten: „Von allen Dingen wurde als erstes das Chaos hervorgebracht“, [5] und gestattet so den Schluß, daß über seine Ursache oder seinen Hervorbringer mit ehrfurchtsvollem Stillschweigen hinweggegangen werden muß. Homer erhebt sich in seinen Gedichten nicht höher als bis zur Nacht und läßt dieselbe von Zeus verehrt werden. Nach allen alten Theologen und nach den Lehren von Pythagoras oder Plato ist Zeus oder der unmittelbare Erbauer des Weltalls nicht der höchste Gott; nicht mehr, als Sir Christopher Wren in seinem körperlichen, menschlichen Aspekt der in ihm befindliche Geist ist, welcher die großen Kunstwerke geschaffen hat. Homer schweigt daher nicht bloß mit Bezug auf das erste Prinzip, sondern ebenso auch mit Bezug auf jene zwei Prinzipien, welche unmittelbar hinter dem ersten stehen, den Äther und das Chaos des Orpheus und Hesiod, und das Begrenzte und die Unendlichkeit des Pythagoras und Plato. [6] Proklus sagt von dem höchsten Prinzip: es ist „die Einheit der Einheiten, und jenseits der ersten Adyta . . . unaussprechlicher als alles Schweigen und verborgener als alle Wesenheit . . . geheim inmitten der erkennbaren Götter. [7]


[1] P. 3.

[2] Ebenda, p. 2.

[3] Ebenda, p. 21.

[4] Siehe The Monthly Magazine, April 1797.

[5] “[korrekter Abdruck siehe  Buch] (I. 166); [korrekter Abdruck siehe  Buch] wurde im Altertum die Bedeutung beigelegt von „wurde erzeugt“ und nicht einfach von „war“. (Siehe Taylors „Introd. to the Parmenides of Plato,“ p. 260.)

[6] Diese Verwechslung des „Begrenzten“ mit dem „Unbegrenzten“ überschüttet Kapila mit Spott in seinen Disputationen mit den brahmânischen Yogis, welche behaupteten, in ihren mystischen Visionen das „Allerhöchste“ zu sehen.

[7] Ebenda