ABTEILUNG XV.

ÜBER KWAN-SHI-YIN- UND KWAN­-YIN.

Gleichwie Avalokiteshvara hat auch Kwan-Shi-Yin verschiedene Umwand­lungen durchgemacht; aber es ist ein Irrtum, von ihm zu sagen, er sei eine moderne Erfindung der nördlichen Buddhisten, denn unter einer anderen Be­zeichnung ist er seit den ältesten Zeiten bekannt gewesen. Die Geheimlehre sagt: „Er, der als erster bei der Erneuerung erscheinen wird, wird als letzter vor der Wiederaufsaugung (dem Pralaya) kommen.“ So sind die Logoi aller Nationen, von dem vedischen Vishvakarman der Mysterien bis zum Heilande der gegenwärtigen zivilisierten Nationen, das „Wort“, welches im „Anbeginne“ oder beim Wiedererwachen der mit Leben erfüllenden Kräfte der Natur bei dem Einen ABSOLUTEN war. Geboren aus Feuer und Wasser, bevor diese zu getrennten Elementen wurden, war es der „Schöpfer“, der Bildner und Ge­stalter aller Dinge. „Ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen,“ das schließlich, wie es auch immer geschehen ist, das Alpha und Omega der geoffenbarten Natur genannt werden kann. „Der große Drache der Weisheit ist geboren aus Feuer und Wasser, und in Feuer und Wasser wird alles mit ihm wieder aufgesaugt werden.“ [1] Da es von diesem Bodhisattva heißt, daß er „jede ihm beliebige Form annimmt,“ vom Anbeginne eines Manvantara bis zu dessen Ende, so sind, wenn auch sein eigener Geburtstag oder Gedächtnistag nach dem Kin-kwang-ming-king oder dem „leuchtenden Sûtra des goldenen Lichtes“ im zweiten Monate am neunzehnten Tage gefeiert wird und der des Maitreya Buddha im ersten Monate am ersten Tage, doch die beiden eins. Er wird erscheinen als Maitreya Buddha, als letzter der Avatâre oder Buddhas in der siebenten Rasse. Dieser Glaube und diese Erwartung sind im ganzen Osten allgemein verbreitet. Nur kann im Kali Yuga, unserem gegenwärtigen furchtbar materialistischen Zeitalter der Finsternis, dem „schwarzen Zeitalter“, ein neuer Heiland der Menschheit niemals erscheinen. Das Kali Yuga ist „l‘Age d‘Or“ (!) bloß in den mystischen Schriften einiger französischen Pseudo-­Occultisten. [2]
Daher beruhte das Ritual in der exoterischen Verehrung dieser Gottheit auf Magie. Die Mantras sind alle besonderen Büchern entnommen, die von den Priestern geheim gehalten werden, und von einem jeden heißt es, daß er eine magische Wirkung hervorbringe, da der Vortragende oder Leser durch einfaches Singen derselben eine geheime Ursache setzt, aus der unmittelbare Wirkungen hervorgehen. Kwan-Shi-Yin ist Avalokiteshvara, und beide sind Formen des siebenten universalen Prinzipes; indess ihrem höchsten metaphy­sischen Charakter nach diese Gottheit die zusammenfassende Schar aller Pla­netengeister oder Dhyân Chohans ist. Er ist der „Selbst-geoffenbarte“; kurz gesagt der „Sohn des Vaters“. Bekrönt von sieben Drachen, erscheint ober seiner  Statue die Inschrift: Pu-tsi-k‘iun-ling, „der universale Heiland aller lebenden Wesen“.
Natürlich ist der in dem archaischen Buche der Strophen gegebene Name ein ganz anderer, aber Kwan-Yin ist eine vollkommen gleichwertige Bezeich­nung. In einem Tempel von P‘u-to‘ der heiligen Insel der Buddhisten in China, ist Kwan-Shi-Yin dargestellt, wie er auf einem schwarzen Wasservogel (dem Kâlahamsa) schwimmt und über die Häupter der Sterblichen das Lebens­elixir ausgießt, welches sich während seines Dahinfließens in einen der her­vorragendsten Dhyâni-Buddhas verwandelt, in den Regenten des Sternes, der der „Stern der Erlösung“ genannt wird. In seiner dritten Umwandlung ist Kwan-Yin der beseelende Geist oder Genius des Wassers. In China wird der Dalai-Lama für eine Inkarnation des Kwan-Shi-Yin gehalten, der in seiner dritten Erscheinung auf Erden ein Bodhisattva war, während der Teshu-Lama eine Inkarnation des Amitâbha Buddha oder Gautama ist.


[1] Fa-hwa-king.

[2] Siehe La Mission des Juifs