Dem Schüler muss nun der grundlegende Unterschied zwischen dem System des Leibnitz [36] und dem der occulten Philosophie in Bezug auf die Monadenfrage gezeigt werden und dies mag geschehen mit seiner Monadologie vor uns. Es mag die Behauptung richtig sein, daß, wenn die Systeme des Leibnitz und Spinoza versöhnt würden, das Wesen und der Geist der esoterischen Philosophie zum Vorschein gebracht würden. Aus dem Anpralle der beiden – als im Gegensatze zu dem Kartesischen System stehend – tauchen die Wahrheiten der archaischen Lehre empor. Beide bekämpfen die Metaphysik des Descartes. Seine Idee von dem Gegensatze der beiden Substanzen – der Ausdehnung und des Denkens – welche von einander wesentlich verschieden und aufeinander nicht zurückführbar sind, ist für jene zu willkürlich und zu unphilosophisch. So machte Leibnitz aus den zwei Kartesischen Substanzen zwei Attribute der einen universalen Einheit, in der er Gott sah. Spinoza anerkannte nur eine universale unteilbare Substanz, ein absolutes All gleich Parabrahman. Leibnitz im Gegenteile sah das Dasein einer Vielheit von Substanzen. Daher war für Spinoza nur EINES; für Leibnitz eine Unendlichkeit von Wesen aus und in dem Einen. Während daher beide nur Eine Reale Wesenheit zuließen, teilte Leibnitz, während Spinoza sie unpersönlich und unteilbar machte, seine persönliche Gottheit in eine Anzahl von göttlichen und halbgöttlichen Wesen; Spinoza war ein subjektiver, Leibnitz ein objektiver Pantheist, aber beide waren große Philosophen in ihren intuitiven Wahrnehmungen.

Wenn nun diese beiden Lehren miteinander verbunden und jede derselben durch die andere berichtigt wird – und vor allem anderen die Eine Wirklichkeit von ihrer Persönlichkeit gesäubert wird – so würde als Gesamtsumme ein wahrer Geist esoterischer Philosophie in ihnen übrigbleiben; die unpersönliche, eigenschaftslose, unbedingte göttliche Wesenheit, welche kein „Wesen“ ist, sondern die Wurzel von allem Wesen. Ziehet in euren Gedanken eine starke Scheidelinie zwischen der immer unerkennbaren Wesenheit und der ebenso unsichtbaren, jedoch erfassbaren Gegenwart, Mûlaprakriti oder Shekinah, hinter der hervor und durch die hindurch der Ton des Verbums schwingt, und aus der die zahllosen Hierarchien intelligenter Egos evolvieren, bewusster, sowie halbbewusster, „apperceptiver“ und „perceptiver“ Wesen, deren Wesenheit geistige Kraft ist, deren Substanz die Elemente und deren Körper (wenn solche benötigt werden) die Atome sind – und unsere Lehre ist da. Denn, sagt Leibnitz:

Da das ursprüngliche Element eines jeden materiellen Körpers Kraft ist, die keines der Merkmale der (objektiven) Materie hat, so kann es begrifflich gedacht werden, aber niemals der Gegenstand irgend einer imaginativen Darstellung sein.

Das, was für ihn das ursprüngliche und schließliche Element in einem jeden Körper und Gegenstande war, waren somit nicht die materiellen Atome oder Moleküle, die notwendigerweise mehr oder weniger ausgedehnt sind, wie die des Epikur oder Gassendi, sondern, wie Mertz zeigt, immaterielle und metaphysische Atome, „mathematische Punkte“ oder wirkliche Seelen – wie von Henri Lachelier (Professeur Agrégé de Philosophie), seinem französischen Biographen, erklärt wird.

Was außerhalb von uns auf eine absolute Weise existiert, das sind Seelen, deren Wesenheit Kraft ist. [37]

Somit ist die Wirklichkeit in der geoffenbarten Welt zusammengesetzt aus einer Einigkeit von Einheiten, sozusagen, immateriell – von unserem Standpunkt – und unendlich. Diese nennt Leibnitz Monaden, die östliche Philosophie Jîvas, indes der Occultismus, mit den Kabalisten und allen Christen, ihnen verschiedenartige Namen gibt. Für uns sind sie, so wie für Leibnitz, „der Ausdruck des Weltalls“, [38] und jeder physische Punkt ist nur der phänomenale  Ausdruck des noumenalen, metaphysischen Punktes. Seine Unterscheidung zwischen „Perception“ und „Apperception“ ist der philosophische, wenn auch undeutliche Ausdruck der esoterischen Lehren. Seine „reduzierten Universen“, deren „es so viele gibt, als Monaden sind“ – sind die chaotische Darstellung unseres siebenfältigen Systems mit seinen Teilungen und Unterteilungen.
Was die Beziehung anbelangt, in der seine Monaden zu unseren Dhyân Chohans, kosmischen Geistern, Devas und Elementalen stehen, so können wir kurz die Meinung eines gelehrten und gedankenvollen Theosophen, Herrn C. H. A. Bjerregaard über diesen Gegenstand wiedergeben. In einer ausgezeichneten Vorlesung „Über die Elementale, die Elementargeister, und die Beziehung zwischen ihnen und den menschlichen Wesen“, den er in der Âryan Theosophical Society von New York hielt, formuliert Herr Bjerregaard seine Meinung auf folgende klare Weise:

Für Spinoza ist die Substanz tot und untätig, aber für Leibnitzens durchdringende Verstandeskraft ist Alles lebendige Tätigkeit und tätige Energie. In der Behauptung seiner Anschauung kommt er dem Orient unendlich näher als irgend ein anderer Denker seiner Zeit oder nach ihm. Seine Entdeckung, daß eine aktive Energie die Wesenheit der Substanz bildet, ist ein Prinzip, daß ihn in unmittelbare Verwandtschaft mit den Sehern des Ostens bringt. [39]


[36] Die Orthographie des Namens – so wie er sich selbst schrieb – ist Leibniz. Er war von slawischer Abstammung obwohl in Deutschland geboren.

[37] Monadologie, Einleitung.

[38] „Leibnitzens Dynamismus“, sagt Professor Lachelier, „würde nur geringe Schwierigkeiten bieten, wenn für ihn die Monade ein einfaches Atom blinder Kraft geblieben wäre. Aber ...“ Man versteht vollkommen die Verwirrung des modernen Materialismus!

[39] The Path, I. 10, p. 297