Um das Wirken von Karma – in den periodischen Erneuerungen des Weltalles – dem Schüler einleuchtender und verständlicher zu machen, wenn er zum Ursprung und zur Entwicklung des Menschen gelangt, hat er jetzt mit uns die esoterische Bedeutung der karmischen Cyklen für die universale Ethik zu untersuchen. Die Frage ist die, ob jene geheimnisvollen Einteilungen der Zeit, genannt Yugas und Kalpas von den Hindûs, und so sehr anschaulich [korrekter Abdruck siehe Buch], Cyklen, Ringe oder Kreise von den Griechen, irgendwelche Bedeutung für, oder irgend welchen unmittelbaren Zusammenhang mit dem menschlichen Leben haben? Selbst die exoterische Philosophie erklärt, daß diese fortwährenden Kreise der Zeit immer in sich selbst wiederkehren, periodisch und intelligent, in Raum und Ewigkeit. Es gibt „Cyklen der Materie“ [4] und es gibt „Cyklen der geistigen Entwicklung“, und rassische, völkische und individuelle Cyklen. Kann uns nicht die esoterische Spekulation eine noch tiefere Einsicht in ihre Getriebe gestatten? Diese Idee ist schön ausgedrückt in einem sehr verständigen wissenschaftlichen Werk.
Die Möglichkeit, sich zu einem Verständnis eines Systemes der Koordination zu erheben, das in Zeit und Raum sich so weit über jeglichen Bereich menschlicher Beobachtungen hinaus erstreckt, ist ein Umstand, der die Kraft des Menschen verkündet, die Schranken des wechselnden und unbeständigen Stoffes zu überschreiten, und seine Erhabenheit über alle gefühllosen und vergänglichen Daseinsformen zu behaupten. Es ist eine Methode in der Aufeinanderfolge der Ereignisse, und in der Wechselbeziehung der koexistierenden Dinge, welche vom Gemüt des Menschen erfaßt wird; und mit Hilfe derselben als eines Leitfadens läuft er über Äonen materieller Geschichte zurück und vorwärts, die die menschliche Erfahrung niemals bestätigen kann. Die Ereignisse keimen und entfalten sich. Sie haben eine Vergangenheit, welche mit ihrer Gegenwart in Zusammenhang steht, und wir fühlen ein wohlgerechtfertigtes Vertrauen, daß eine Zukunft festgesetzt ist, welche in ähnlicher Weise mit der Gegenwart und der Vergangenheit verbunden ist. Diese Stetigkeit und Einheitlichkeit der Geschichte wiederholt dieselben vor unseren Augen in allen denkbaren Stadien des Fortschrittes. Die Erscheinungen versehen uns mit den Grundlagen für die Verallgemeinerung zweier Gesetze, welche in Wahrheit Prinzipien der wissenschaftlichen Wahrsagung sind, durch welche allein das menschliche Gemüt die versiegelten Aufzeichnungen der Vergangenheit und die unaufgeschlagenen Blätter der Zukunft durchdringt. Das erste von diesen ist das Gesetz der Evolution, oder, um es für unseren Zweck in Worte zu fassen, das Gesetz der in Wechselbeziehung stehenden Aufeinanderfolge oder organisierten Geschichte im Individuum, illustriert durch die wechselnden Phasen eines jedem einzelnen heranreifenden Systemes von Wirkungen. ... Diese Gedanken beschwören vor unsere unmittelbare Gegenwart die unermessliche Vergangenheit und die unermessliche Zukunft der materiellen Geschichte. Sie scheinen nahezu Ausblicke in die Unendlichkeit zu eröffnen, und den menschlichen Verstand mit einem Dasein und mit einer Sehkraft zu begaben, die den Beschränkungen der Zeit und des Raumes und der endlichen Kausalität entrückt ist, und ihn zu einer erhabenen Auffassung des allerhöchsten Verstandes emporhebt, dessen Wohnplatz die Ewigkeit ist. [5]

Nach den Lehren wechselt Mâyâ – die trügerische Erscheinung der Ordnung der Ereignisse und Handlungen auf dieser Erde – indem sie sich mit den Völkern und Orten ändert. Aber die Hauptzüge des Lebens eines Einzelnen sind immer in Übereinstimmung mit der „Konstellation“, unter der er geboren ist, oder, wie wir sagen sollten, mit den Eigentümlichkeiten des sie belebenden Prinzipes oder der Gottheit, welche ihr vorsteht, ob wir nun diese einen Dhyân Chohan nennen, wie in Asien, oder einen Erzengel, wie in der griechischen oder lateinischen Kirche. In der alten Symbolik war es immer die Sonne – allerdings war die geistige, nicht die sichtbare Sonne gemeint – von der man annahm, daß sie die wichtigsten Heilande und Avatâras aussende. Daher das Verbindungsglied zwischen den Buddhas, den Avatâras und so vielen anderen Inkarnationen der höchsten sieben. Je enger die Annäherung an sein Vorbild im „Himmel“, desto besser für den Sterblichen, dessen Persönlichkeit von seiner eigenen persönlichen Gottheit (dem siebenten Prinzipe) als ihr irdischer Aufenthalt gewählt worden war. Denn mit jeder auf Reinigung und Vereinigung mit diesem „Selbstgotte“ gerichteten Willensanstrengung bricht einer von den niedrigeren Strahlen, und die geistige Wesenheit des Menschen wird höher und immer höher zu dem Strahle emporgezogen, der den ersten unwirksam macht, bis endlich von Stahl zu Strahl der innere Mensch in den einen und höchsten Strahl der Vatersonne gezogen ist. So „laufen die Ereignisse der Menschheit tatsächlich koordiniert mit den Zahlenformen“, da die einzelnen Einheiten dieser Menschheit eine und alle aus derselben Quelle hervorgehen – aus der Centralsonne und aus ihrem Schatten, der sichtbaren. Denn die Tagundnachtgleichen und Sonnenwenden, die Perioden und verschiedenen Phasen des Sonnenlaufes, astronomisch und numerisch ausgedrückt, sind nur die konkreten Symbole der ewig lebendigen Wahrheit, obwohl sie den uneingeweihten Sterblichen als abstrakte Ideen erscheinen. Und dies erklärt die außerordentlichen zahlenmäßigen Übereinstimmungen mit geometrischen Verhältnissen, die von verschiedenen Schriftstellern gezeigt wurden.
Ja; „unser Schicksal ist in den Sternen geschrieben“! Nur, je enger die Vereinigung zwischen dem sterblichen Wiederschein Mensch und seinem himmlischen Vorbilde, desto weniger gefährlich sind die äußeren Bedingungen und folgenden Wiederverkörperungen – welchen weder Buddhas noch Christusse entgehen können. Dies ist kein Aberglaube, am allerwenigsten ist es Fatalismus. Der letztere schließt in sich ein blindes Ablaufen einer noch blinderen Kraft, aber der Mensch ist ein freier Handelnder während seines Verweilens auf Erden. Er kann seinem herrschenden Schicksal nicht entrinnen, aber er hat die Wahl zwischen zwei Pfaden, die ihn in dieser Richtung führen, und er kann das Ziel des Elendes – wenn ein solches ihm bestimmt ist – entweder in den schneeweißen Gewanden des Märtyrers erreichen, oder in den beschmutzten Kleidern eines Freiwilligen auf dem bösen Wege; denn es gibt äußere und innere Bedingungen, die die Bestimmung unseres Willens auf unsere Handlungen beeinflussen, und es liegt in unserer Macht, dem einen oder den anderen von beiden zu folgen. Jene, welche an Karma glauben, müssen an das Schicksal glauben, welches von er Geburt bis zum Tode ein jeder Mensch Faden um Faden um sich selbst webt, wie eine Spinne ihr Gewebe; und dieses Schicksal ist gelenkt entweder von er himmlischen Stimme des unsichtbaren Vorbildes außerhalb von uns, oder von unserem mehr vertrauten astralen oder inneren Menschen, welcher nur zu oft der böse Genius der verkörperten Wesenheit, genannt Mensch, ist. Diese beiden locken den äußeren Menschen, aber einer von ihnen muß vorherrschen; und von dem ersten Anfange des unsichtbaren Aufruhrs an setzt das strenge und unerbittliche Gesetz der Wiedervergeltung ein und nimmt seinen Lauf, getreulich verfolgend das Hinundherwogen des Kampfes. Wenn der letzte Faden gesponnen und der Mensch anscheinend in das Netzwerk seiner eigenen Tat verwickelt ist, dann findet er sich vollständig unter der Herrschaft seines selbstgemachten Geschickes. Dasselbe heftet ihn dann entweder wie die schwerfällige Muschel an den unbeweglichen Felsen oder es trägt ihn wie eine Feder hinweg in dem durch seine eigenen Handlungen erregten Wirbelwind, und dies ist – KARMA.


[4] „Die Cyklen der Materie“, ein Name, den Professor Winchell einem im Jahre 1860 geschriebenen Aufsatze gab.

[5] World-Life, pp. 535, 548