STROPHE I. - Fortsetzung.

4. DIE SIEBEN WEGE ZUR SELIGKEIT1 EXISTIERTEN NICHT (a). DIE GROSSEN URSACHEN DES LEIDENS2 WAREN NICHT VORHANDEN, DENN ES WAR NIEMAND DA, SIE HERVORZUBRINGEN ODER IN SIE VERSTRICKT ZU WERDEN (b).

(a) Es giebt "sieben Pfade" oder "Wege" zur "Wonne" der Nichtexistenz, welche absolutes Sein, Dasein und Bewußtsein ist. Sie existierten nicht, weil das Weltall bis dahin leer war und nur im göttlichen Gedanken existierte. (b) Denn da sind . . . die zwölf Nidânas oder Ursachen des Seins. Jedes ist die Wirkung seiner vorangehenden Ursache, und seinerseits eine Ursache seines Nachfolgers; die Gesamtheit der Nidânas beruht auf den Vier Wahrheiten - eine für das Hînayâna-System speziell charakteristische Lehre.3 Sie gehören zu der Theorie von dem Strome des verketteten Gesetzes, welches Verdienst und Schuld bewirkt und schließlich Karma in vollen Schwung bringt. Dieses System beruht auf der großen Wahrheit, daß Reinkarnation etwas zu Fürchtendes ist, da eine Existenz in dieser Welt dem Menschen nur Leiden, Elend und Schmerz aufbürdet, und der Tod selbst nicht, im stande ist, den Menschen davon zu befreien, da der Tod nichts als das Thor ist, durch welches er in ein anderes Leben auf Erden eintritt, nach einer kurzen Rast an der Schwelle davon - in Devachan. Das Hînayâna-System, oder die Schule des kleinen Fahrzeuges, ist von sehr altem Ursprung; während das Mahâyâna, oder die Schule des großen Fahrzeuges, einer späteren Periode angehört, indem es erst nach dem Tode des Buddha entstanden ist. Doch sind die Lehrsätze des letzteren so alt als die Berge, welche solche Schulen seit unvordenklichen Zeiten enthalten haben, und die Hînayâna - und Mahâyâna-Schule lehren beide in Wirklichkeit dieselbe Lehre. Yâna, oder Fahrzeug, ist eine mystische Ausdrucksweise, indem beide "Fahrzeuge" einprägen, daß der Mensch den Leiden der Wiedergeburt und selbst der falschen Wonne von Devachan dadurch entkommen kann, daß er Weisheit und Erkenntnis erlangt, welche allein die Früchte der Illusion und Unkenntnis verbannen können.
Mâyâ oder Illusion ist ein Element, das in alle endlichen Dinge eintritt, denn alles, was existiert, hat nur eine relative, keine absolute Realität, da die Erscheinung, die das verborgene Ding an sich für irgend einen Beobachter annimmt, von dessen Erkenntniskraft abhängt. Für das ungeübte Auge eines Wilden ist ein Gemälde vorerst ein sinnloser Wirrwarr von Farbenstrichen und Klecksen, während das gebildete Auge sofort ein Gesicht oder eine Landschaft sieht. Nichts ist dauernd außer der einen verborgenen absoluten Existenz, welche in sich die Dinge an sich von allen Realitäten enthält. Die Existenzen einer jeden Daseinsebene, bis hinauf zu den höchsten Dhyân-Chohans, sind gewissermaßen Schatten, wie sie eine magische Laterne auf einen farblosen Schirm wirft; nichts destoweniger sind alle Dinge relativ real, denn der Erkennende ist selbst eine Reflexinn, und die erkannten Dinge sind daher für ihn ebenso wirklich als er selbst. Was immer für eine Wirklichkeit die Dinge besitzen, muß an ihnen untersucht werden, bevor oder nachdem sie blitzartig durch die materielle Welt gegangen sind. Eine solche Existenz können wir aber nicht direkt erkennen, so lange wir nur Sinnesinstrumente haben, welche bloß materielle Existenz in das Gesichtsfeld unseres Bewußtseins bringen. Auf welcher Ebene auch unser Bewußtsein thätig sein möge, so sind wir und die Dinge, die dieser Ebene, angehören, für die betreffende Zeit unsere einzigen Wirklichkeiten. In gleichem Maße, als wir die Stufenleiter der Entwicklung emporsteigen, erfahren wir aber, daß wir während der Zustände, durch welche wir hindurchgegangen sind, Schatten fälschlich für Wirklichkeiten gehalten haben, und daß der aufwärts gerichtete Fortschritt des Ego eine Reihe fortschreitender Erwachungen ist, wobei jeder Fortschritt die Idee mit sich bringt, daß wir nunmehr endlich "Wirklichkeit" erreicht haben; aber erst, wenn wir das absolute Bewußtsein erreicht und unser eigenes mit demselben verschmolzen haben werden, werden wir frei sein von den Täuschungen der Mâyâ.

STROPHE I. - Fortsetzung.

5. DUNKELHEIT ALLEIN ERFÜLLTE DAS UNENDLICHE ALL (a). DENN VATER, MUTTER UND SOHN WAREN WIEDER EINMAL EINS, UND DER SOHN WAR NOCH NICHT ERWACHT FÜR DAS NEUE RAD4 UND SEINE WANDERUNG AUF DEMSELBEN (b).

(a) "Dunkelheit ist Vater-Mutter: Licht ihr Sohn" sagt ein altes Sprüchwort des Ostens. Licht ist unvorstellbar außer als von einer Quelle kommend, die seine Ursache ist; und da im Falle des uranfänglichen Lichtes diese Quelle unbekannt ist, eine solche jedoch von Vernunft und Logik mit Nachdruck verlangt wird, so nennen wir sie "Dunkelheit", von einem intellektuellen Gesichtspunkte aus. Das erborgte oder sekundäre Licht kann, was immer seine Quelle sei, nur von zeitlichem, mâyâvischem Charakter sein. Dunkelheit ist also die ewige Matrix, in der die Quellen des Lichtes erscheinen und verschwinden. Auf dieser unserer Ebene kommt nichts zur Finsternis hinzu, um Licht aus ihr zu machen, oder zum Licht, um es zur Finsternis zu machen. Beide sind vertauschbar, und wissenschaftlich ist Licht bloß eine Art Finsternis und umgekehrt. Beide sind Erscheinungen desselben Dinges an sich, welches für ein wissenschaftliches Gemüt absolute Dunkelheit, für die Wahrnehmung eines Durchschnittsmystikers bloß graues Zwielicht, für das geistige Auge des Initiierten aber absolutes Licht ist. Wie weit wir dieses Licht, das in der Dunkelheit scheint, wahrnehmen, hängt von unseren Kräften des Schauens ab. Was für uns Licht ist, ist Finsternis für gewisse Insekten, und das Auge des Hellsehers sieht Beleuchtung, wo das normale Auge nur Schwärze wahrnimmt. Als das ganze Weltall in Schlaf versunken, in sein eines Urelement zurückgekehrt war, da war weder ein Lichtcentrum, noch ein Auge, das Licht wahrzunehmen, und Dunkelheit erfüllte notwendigerweise das unendliche All.
(b) "Vater" und "Mutter" sind das männliche und weibliche Prinzip in der Wurzelnatur; die entgegengesetzten Pole, die sich in allen Dingen auf jeder Ebene des Kosmos manifestieren; oder Geist und Substanz in einem weniger allegorischen Aspekt, deren Resultierende das Weltall, oder der "Sohn", ist. Sie waren "wieder einmal Eins", als in der Nacht des Brahmâ, während Pralaya, alles im objektiven Universum zu seiner einen, ursprünglichen und ewigen Ursache zurückgekehrt war, um in der darauf folgenden Dämmerung wieder zu erscheinen - wie es periodisch geschieht. Kârana - die ewige Ursache - war alleinig. Um es klarer auszudrücken: Kârana ist alleinig während der Nächte des Brahmâ. Das frühere objektive Universum hat sich in seine eine, ursprüngliche und ewige Ursache aufgelöst, und ist so zu sagen im Raum gelöst enthalten, um sich wieder zu differenzieren und von neuem herauszukrystallisieren und der folgenden manvantarischen Dämmerung, welche der Beginn eines neuen Tages oder einer neuen Thätigkeit von Brahmâ ist - dem Symbol eines Universums. In esoterischer Redeweise ist Brahmâ Vater-Mutter-Sohn, oder Geist, Seele und Körper zugleich; jede Person ist dabei symbolisch für ein Attribut, und jedes Attribut oder Qualität eine stufenweise Ausströmung des göttlichen Atems in seiner cyklischen Differentiation, involutorisch und evolutorisch. Im kosmophysischen Sinn ist es Weltall, Planetenkette und Erde; im rein geistigen: die unbekannte Gottheit, Planetengeist und Mensch - der Sohn der beiden, die Kreatur von Geist und Stoff, und eine Manifestation derselben in seinen periodischen Erscheinungen auf der Erde während der "Räder" oder der Manvantaras.

1) Nirväna, Nippang im Chinesischen; Neibban im Birmesischen; Moksha in Indien. zurück zum Text

2) Nidâna und Mâyâ. Die "zwölf" Nidânas (im Tibetanischen Ten-brel Chug-nyi) sind die Hauptursachen des Daseins - Wirkungen, die durch eine Verkettung erzeugter Ursachen herbeigeführt sind. zurück zum Text

3) Siehe Wassilief: "Der Buddhismus'', p.97-128. zurück zum Text

4) Der Ausdruck "Rad" symbolisiert eine Welt oder Weltkugel, und zeigt somit, daß die Alten wußten, daß unsere Erde eine sich drehende Kugel und nicht ein bewegungslosen Viereck ist, wie einige christliche Väter lehrten. Das "große Rad" ist die Gesamtdauer unseres Daseinscyklus, oder Mahâkalpa, d. i. der ganze Kreislauf unserer speziellen Kette von sieben Globen oder Sphären vom Anfang bis zum Ende; die "kleinen Räder" bedeuten die Runden, deren es ebenfalls sieben giebt. zurück zum Text