STROPHE I. - Fortsetzung.

8. ALLEIN, ERSTRECKTE SICH DIE EINE FORM DES SEINS (a) UNBEGRENZT, UNENDLICH, UNVERURSACHT, IN TRAUMLOSEM SCHLAFE (b); UND DAS LEBEN PULSIERTE UNBEWUSST IM WELTENRAUME, DURCH JENE ALLGEGENWART, WELCHE NUR DEM GEÖFFNETEN AUGE DES DANGMA1 WAHRNEHMBAR IST.

(a) Die moderne Denkweise ist geneigt, zu der uralten Idee einer einheitlichen Grundlage für scheinbar weit auseinanderliegende Dinge zurückzukehren - zur Entwicklung der Heterogenität aus Homogenität. Die Biologen sind jetzt auf der Suche nach ihrem homogenen Protoplasma und die Chemiker nach ihrem Urstoff, während die physikalische Wissenschaft die Kraft sucht, deren verschiedene Äußerungen Elektrizität, Magnetismus, Wärme u. s. w. sind. Die Geheimlehre überträgt diesen Gedanken auf das Gebiet der Metaphysik und fordert die "Eine Daseinsform" als Grundlage und Quelle aller Dinge. Doch ist vielleicht der Ausdruck: die "Eine Daseinsform" nicht ganz richtig. Das Sanskritwort ist Prabhavâpyaya, "der Ort (oder vielmehr die Ebene), woraus die Hervorbringung und wohin die Auflösung aller Dinge erfolgt," wie ein Kommentator erklärt. Er ist nicht die "Mutter der Welt" nach Wilsons Übersetzung;2 denn Jagad Yoni ist, wie Fitzedward Hall zeigt, kaum so sehr die "Mutter der Welt" oder der "Schoß der Welt", als die "materielle Ursache der Welt." Die Purâna-Kommentatoren erklären es als Kârana - "Ursache" - die esoterische Philosophie aber als den ideellen Geist dieser Ursache. Es ist, in seinem sekundären Zustand das Svabhâvat des buddhistischen Philosophen, die ewige Ursache und Wirkung, allgegenwärtig, doch abstrakt, die selbstexistierende plastische Essenz und die Wurzel aller Dinge, in demselben doppelten Lichte gesehen, wie der Vedântist sein Parabrahman und Mûlaprakriti, das eine unter zwei Aspekten, betrachtet. Es erscheint in der That merkwürdig, große Gelehrte über die Möglichkeit dessen spekulieren zu sehen, daß der Vedânta, und insbesondere die Uttaramîmânsâ, "durch die Lehren der Buddhisten hervorgerufen" seien; während im Gegenteil der Buddhismus, die Lehre von Gautama Buddha, "hervorgerufen" und auf den Sätzen der Geheimlehre gänzlich aufgebaut ist, von der hier eine teilweise Skizze versucht ist, und auf der desgleichen die Upanishads beruhen.3 Nach den Lehren des Shrî Shankarâchârya ist unsere Behauptung unbestreitbar.4

(b) "Traumloser Schlaf" ist einer von den sieben Bewußtseinszuständen, welche in der orientalischen Esoterik bekannt sind. In jedem dieser Zustände tritt ein anderer Teil des Gemütes in Thätigkeit; oder, wie ein Vedântist sich ausdrücken würde, ist das Individuum auf einer anderen Ebene seines Seins bewußt. Der Ausdruck "traumloser Schlaf`` ist in diesem Fall allegorisch auf das Weltall angewendet, um einen Zustand auszudrücken, der diesem Bewußtseinszustand im Menschen einigermaßen analog ist, der deshalb leer erscheint, weil man sich im wachenden Zustand nicht daran erinnert, gerade so wie der Schlaf des mesmerisierten Subjektes demselben als eine bewußtlose Leere erscheint, wenn es in seinen normalen Zustand zurückgekehrt, während es doch wie ein bewußtes Individuum gesprochen und gehandelt hat.

1) In Indien heißt es das "Auge des Shiva", aber jenseits der großen Bergkette ist es in esoterischer Ausdrucksweise als "Dangmas geöffnetes Auge" bekannt. Dangma bedeutet eine geläuterte Seele, eine, die ein Jivanmukta, der höchste Adept, oder vielmehr ein sogenannter Mahâtmâ geworden ist. Sein "geöffnetes Auge" ist das innere geistige Auge des Sehers, und die Fähigkeit, welche sich mittelst derselben offenbart, ist nicht das, was man gewöhnlich unter Hellsehen versteht, nämlich die Kraft, in die Ferne zu sehen, sondern vielmehr die Fähigkeit der geistigen Intuition, durch welche unmittelbare und sichere Erkenntnis erhalten werden kann. Diese Fähigkeit steht in innigem Zusammenhange mit dem "dritten Auge", welches die mythologische Überlieferung gewissen Menschenrassen zuschreibt. zurück zum Text

2) Vishnu Purâna, I. 21. zurück zum Text

3) Und doch hat jemand, der Autorität beansprucht, nämlich Sir Monier Williams, Boden Professor des Sanskrit zu Oxford, gerade diese Thatsache geleugnet. In seiner Jahresansprache vom 9. Juni 1888 vor dem Victoria Institute of Great Britain belehrte er seine Zuhörerschaft wie folgt: "Ursprünglich wendete sich der Buddhismus gegen alle einsame Askese . . , zur Erlangung der erhabenen Höhen der Erkenntnis. Er hatte kein occultes, kein esoterisches Lehrsystem . . . das den gewöhnlichen Menschen vorenthalten worden wäre.' (! !) Und wiederum ! ,. . . Als Gautama Buddha seine Laufbahn begann, scheint die spätere und niedere Form des Yoga wenig bekannt gewesen zu sein." Gleich darauf aber teilt der gelehrte Vortragende, sich selbst widersprechend, seinem Auditorium mit: "Wir erfahren aus dem Lalita-Vistara, daß verschiedene Formen körperlicher Peinigung, Selbstkasteiung und Abtötung in Gautamas Zeit gewöhnlich waren." (!!) Dem Vortragenden scheint es gänzlich unbekannt zu sein, daß diese Art von Peinigung und Selbstkasteiung gerade die niedere Form des Yoga ist, der Hatha Yoga, welcher in Gautamas Zeit "wenig bekannt" und doch so "gewöhnlich" war. zurück zum Text

4) Es wird sogar behauptet, daß alle sechs Darshanas (philosophische Schulen) Spuren von Buddhas Einfluß zeigen, die entweder dem Buddhismus entnommen oder griechischer Lehre zuzuschreiben seien! (Siehe Weber, Max Müller, etc.) Wir befinden uns unter dem Eindrucke, daß Colebrooke, "die höchste Autorität" in solchen Dingen, schon seit langer Zeit die Streitfrage durch den Beweis beigelegt hat, daß "die Indier in diesem Falle die Lehrer, nicht die Schüler, waren." zurück zum Text