STROPHE II. - Fortsetzung.

3. DIE STUNDE HATTE NOCH NICHT GESCHLAGEN; DER STRAHL WAR NOCH NICHT IN DEN KEIM GEBLITZT (a); DER MATRIPADMA1 WAR NOCH NICHT GESCHWOLLEN (b).2

(a) Der "Strahl" aus dem "ewigen Dunkel" wird, sobald er ausgesandt ist, zum Strahle glänzenden Lichtes oder Lebens, und blitzt in den "Keim" - den Punkt in dem Weltenei, repräsentiert durch die Materie in abstrakter Auffassung. Aber der Ausdruck "Punkt" darf nicht so aufgefaßt werden, als ob damit irgend ein bestimmter Punkt im Raume gemeint sei, denn ein Keim existiert im Mittelpunkt eines jeden Atoms, und diese in ihrer Gesamtheit bilden den "Keim"; oder vielmehr, da kein Atom unserem körperlichen Auge sichtbar gemacht werden kann: es bildet die Gesamtheit derselben (wenn dieser Ausdruck von etwas gebraucht werden darf, das grenzenlos und unendlich ist) das Ding an sich des ewigen und unzerstörbaren Stoffes.
(b) Eine der symbolischen Figuren für die duale schöpferische Kraft in der Natur (auf der materiellen Ebene Kraft und Stoff) ist "Padma", die indische Wasserlilie.
Der Lotus ist das Erzeugnis von Hitze (Feuer) und Wasser (Dunst oder Ether); das Feuer ist in jedem philosophischen und religiösen System, selbst im Christentum, eine Darstellung des Geistes der Gottheit, des thätigen, männlichen, zeugenden Prinzipes; und Ether, oder die Seele des Stoffes, das Licht des Feuers, eine Darstellung des passiven weiblichen Prinzipes, aus dem alles in diesem Weltall hervorgegangen ist. Somit ist Ether oder Wasser die Mutter, und Feuer der Vater. Sir William Jones - und vor ihm die archaische Botanik -zeigten, daß die Samen des Lotus (selbst bevor sie keimen) vollkommen geformte Blätter enthalten, mit denselben Formen im kleinen, welche sie eines Tages als vollendete Pflanzen haben werden. Die Natur giebt uns auf diese Art ein Beispiel der Vorausformung ihres Erzeugnisses . . . die Samen aller phanerogamen, eigentlichen Blüten hervorbringenden, Pflanzen enthalten ein fertig ausgebildetes embryonales Pflänzchen.3 Dies erklärt den Satz: "Der Mâtri-Padma war noch nicht geschwollen" - indem in der archaischen Symbolik die Form gewöhnlich der inneren oder Grundidee geopfert ist.
Der Lotus, oder Padma, ist übrigens ein sehr altes und beliebtes Symbol für den Kosmos selbst, und ebenso für den Menschen. Die populären Gründe dafür sind erstens die eben erwähnte Thatsache, daß der Lotussamen ein vollkommenes Kleinbild der zukünftigen Pflanze einschliefst, was die Thatsache versinnlicht, daß die geistigen Vorbilder aller Dinge in der unkörperlichen Welt existieren, bevor diese Dinge auf Erden verkörpert werden. Zweitens der Umstand, daß die Lotuspflanze durch das Wasser emporwächst, während sie ihre Wurzel in der Ilys oder dem Schlamme hat, und ihre Blüte aufwärts in die Luft ausbreitet. Der Lotus versinnbildlicht somit das Leben des Menschen und auch das des Kosmos, denn die Geheimlehre lehrt, daß die Elemente beider dieselben sind und daß beide sich in derselben Richtung entwickeln. Die in den Schlamm versenkte Wurzel stellt das stoffliche Leben dar, der durch das Wasser aufsteigende Stengel das Dasein in der Astralwelt. und die Blume, die auf dem Wasser schwimmt und sich dem Himmel eröffnet, bedeutet das geistige Sein.

STROPHE Il. -- Fortsetzung.

4. SEIN HERZ HATTE SICH DEM EINEN STRAHLE NOCH NICHT ERÖFFNET, UM DENSELBEN ALS DREIHEIT IN DIE VIERHEIT, IN DEN SCHOSS DER MAYA FALLEN ZU LASSEN.

Die ursprüngliche Substanz war noch nicht aus ihrer vorweltlichen Verborgenheit in die differenzierte Objektivität getreten, ja nicht einmal zu der (dem Menschen nämlich) unsichtbaren Protyle der Wissenschaft geworden. Aber wenn "die Stunde schlägt" und sie den fohatischen Eindruck des göttlichen Gedankens empfängt - des Logos, oder des männlichen Aspektes der Anima mundi, des Alaya - so öffnet sich ihr "Herz". Sie differenziert sich, und die Drei (Vater, Mutter, Sohn) werden verwandelt in die Vier. Hierin liegt das doppelte Geheimnis der Dreieinigkeit und der unbefleckten Empfängnis. Das erste und grundlegende Dogma des Occultismus ist die universelle Einheit (oder Homogenëität) unter drei Aspekten. Dies führt zur Möglichkeit einer Vorstellung der Gottheit, welche als eine absolute Einheit den endlichen Intellekten ewig unerfaßbar bleiben muß.
Wenn du glauben würdest an die Kraft, die in der Wurzel einer Pflanze thätig ist, oder dir die unter der Seele verborgene Wurzel vorstellen würdest, dann hast du über ihren Stengel oder Stamm nachzudenken, und über ihre Blätter und Blüten. Du kannst dir diese Kraft nicht unabhängig von diesen Gegenständen vorstellen. Das Leben kann nur durch den Bauen des Lebens erkannt werden .... 4

Die Idee einer absoluten Einheit würde in unserer Vorstellung gänzlich zerbrochen. wenn wir nichts Konkretes vor unseren Augen hätten, das diese Einheit enthielte. Und da die Gottheit absolut ist, so muß sie allgegenwärtig sein, daher giebt es kein Atom, das sie nicht in sich enthielte. Die Wurzeln, der Stamm, und seine vielen Äste sind drei verschiedene Gegenstände, und doch sind sie ein Baum.

1) Mutter-Lotus zurück zum Text

2) Ein unpoetischer Ausdruck, jedoch sehr anschaulich. zurück zum Text

3) Gross, The Heathen Religion, p. 195. zurück zum Text

4) Vorschriften für Yoga. zurück zum Text