(c) Wenn der „Schatten“ sich zurückzieht, d. i. wenn der Astralkörper mit festerem Fleische überdeckt wird, entwickelt der Mensch einen physischen Körper. Der „Flügel“ oder die ätherische Form, welche ihren Schatten und Bild hervorbrachte, wurde der Schatten des Astralkörpers und seiner eigenen Nachkommenschaft. Die Ausdrucksweise ist sonderbar, aber originell.
Da keine Gelegenheit sein dürfte, auf dieses Geheimnis später Bezug zu nehmen, ist es ebenso gut, sogleich die doppelte Bedeutung zu erklären, welche in der griechischen Mythe, die sich auf diese besondere Entwicklungsphase bezieht, enthalten ist. So findet sich in den verschiedenen Abarten der Allegorie von der Leda und ihren zwei Söhnen Kastor und Pollux, von welchen Abarten eine jede eine besondere Bedeutung hat. So spricht Buch XI der Odysse von Leda als von der Gemahlin des Tyndareus, welche ihrem Gatten „zwei Söhne von mutigen Herzen“ gebar - Kastor und Pollux. Jupiter verleiht ihnen ein wundervolles Geschenk und Vorrecht. Sie sind halb unsterblich; sie leben und sterben, jeder der Reihe nach, und jeden Tag [korrekter Abdruck siehe  Buch] [28] . Als die Tyndariden sind die Zwillingsbrüder ein astronomisches Symbol und stehen für Tag und Nacht; ihre beiden Weiber, Phoebe und Hilaeira, die Töchter des Apollo oder der Sonne, personifizieren die Morgendämmerung und das Zwielicht. [29] Hinwieder in der Allegorie, in der Zeus als der Vater der beiden Heroen gezeigt wird - die aus dem Ei geboren sind, welches Leda hervorbringt -, ist der Mythos gänzlich theogonisch. Er bezieht sich auf jene Gruppe kosmischer Allegorieen, worin die Welt als aus dem Eie geboren beschrieben wird. Denn Leda nimmt in ihm die Gestalt eines weißen Schwanes an, während sie sich mit dem Göttlichen Schwane oder Brahma-Kalahamsa vereinigt. Leda ist dann der mythische Vogel, welchem in den Überlieferungen der verschiedenen Völker der ârischen Rasse verschiedene ornithologische Formen von Vögeln zugeschrieben werden, welche alle goldene Eier legen. [30] In der Kalewala, dem epischen Gedichte von Finnland, schafft die schöne Tochter des Ether, die „Wassermutter“, die Welt in Verbindung mit einer „Ente“ - einer andern Form des Schwanes oder der Gans, Kalahamsa - welches sechs goldene Eier, und das siebente, ein „Ei von Eisen“, in ihren Schoß legt. Aber die Abart der Leda-Allegorie, welche eine unmittelbare Beziehung auf den mystischen Menschen hat, findet sich nur bei Pindar, [31] mit einer schwächern Anspielung darauf in den homerischen Hymnen. [32] Kastor und Pollux sind darin nicht mehr die Dioskuren des Apollodor, [33] sondern werden das hochbedeutsame Symbol des doppelten Menschen, des sterblichen und des unsterblichen. Nicht nur das, sondern, wie man jetzt sehen wird, sind sie auch das Symbol der dritten Rasse und ihrer Umformung aus dem Tiermenschen in einen Gottmenschen, der bloß einen tierischen Körper hat.
Pindar zeigt Leda als sich in derselben Nacht mit ihrem Gatten und auch mit dem Vater der Götter - mit Zeus - vereinigend. Auf diese Art ist Kastor der Sohn des Sterblichen, Pollux der Nachkomme des Unsterblichen. In der aus diesem Anlasse zugerichteten Allegorie heißt es, daß in einem Rachestreite gegen die Aphariden [34] Pollux den Lynceus tötet - „den der von allen Sterblichen das schärfste Auge hatte“ - daß aber Kastor von Idas verwundet wird, „welcher sieht und weiß“. Zeus macht dem Kampf ein Ende, indem er seinen Blitz schleudert, und die letzten zwei Kämpfer tötet. Pollux findet seinen Bruder sterbend. [35] In seiner Zerzweiflung ruft er Zeus an, auch ihn zu erschlagen. „Du kannst überhaupt nicht sterben,“ antwortet der Meister der Götter; „du bist von göttlicher Abstammung.“ Aber er lässt ihm die Wahl: Pollux wird entweder unsterblich bleiben und ewig im Olymp leben; oder wenn er seines Bruders Schicksal in allen Dingen teilen will, muß er die Hälfte seines Daseins unterirdisch verbringen, und die andere Hälfte in den goldenen himmlischen Räumen. Diese Halbunsterblichkeit, welche auch von Kastor geteilt werden soll, wird von Pollux angenommen. [36] Und somit leben die Zwillingsbrüder abwechselnd, der eine während des Tages und der andere während der Nacht. [37]

Ist dies bloß eine poetische Erdichtung? Eine Allegorie, eine von jenen „Sonnenmythen“-Erklärungen, die das Höchste zu sein scheinen, bis wohin sich ein moderner Orientalist aufschwingen kann? In der That, es ist viel mehr. Hier haben wir eine Anspielung auf die „Eigeborene“ dritte Rasse, deren erste Hälfte sterblich ist, d. i. unbewusst in ihrer Persönlichkeit und nichts in sich habend, das überleben könnte, [38] und deren spätere Hälfte unsterblich wird in ihrer Individualität, auf Grund ihres fünften Prinzipes, welches durch die beseelenden Götter ins Lebens gerufen wurde, und so die Monade mit dieser Erde verknüpft. Dies ist Pollux; während Kastor den persönlichen sterblichen Menschen repräsentiert, ein Tier von nicht einmal höherer Art, wenn es von der göttlichen Individualität losgelöst ist. „Zwillinge“ fürwahr; aber durch den Tod für immer geschieden, wenn nicht Pollux, bewegt durch die Stimme der Zwillingsschaft, seinem weniger begünstigten sterblichen Bruder Anteil gewährt an seiner eigenen göttlichen Natur, und ihn so mit seiner eigenen Unsterblichkeit vereinigt.

Dies ist die occulte Bedeutung des metaphysischen Aspektes der Allegorie. Ihre weit verbreitete moderne Erklärung - so berühmt im Altertum, wie uns Plutarch sagt, [39] als symbolisch für brüderliche Hingabe - nämlich, daß sie ein dem Schauspiele der Natur entlehntes Bild von Sonne und Mond war, ist schwach und ungenügend, die geheime Bedeutung zu erklären. Abgesehen von der Thatsache, daß der Mond bei den Griechen in der exoterischen Mythologie weiblich war und daher kaum als Kastor betrachtet, und zur selben Zeit mit Diana identifiziert werden konnte, würden alte Symbologen, welche die Sonne, den König aller Gestirne, für das sichtbare Bild der höchsten Gottheit hielten, ihn nicht in Pollux, der bloß ein Halbgott war, personifiziert haben. [40]
Wenn wir von der griechischen Mythologie zu den mosaischen Allegorieen und Symbolik übergehen, werden wir eine noch auffallendere Bestätigung desselben Lehrsatzes unter einer andern Form finden. Nicht imstande, in ihnen die „Eigeborenen“ nachzuweisen, werden wir doch unverkennbar in den ersten vier Kapiteln der Genesis die Androgynen und die ersten drei Rassen der Geheimlehre finden, verborgen unter höchst sinnreicher Symbologie.


[28] Odyssee, XI. 298-305; Ilias, III. 243.

[29] Hyg., Fab., 80. Ovid., Fast., 700 ff. Siehe Decharme´s Mythologie de la Grèce Antique, p. 653.

[30] Siehe Decharme, ebenda, p. 652.

[31] Nem., X. 80 ff. Theokr., XXIV. 131.

[32] XXXIV v. 5. Theokr., XXII. 1.

[33] III. 10, 7.

[34] Apollodorus, III. 1.

[35] Kastors Grabmal wurde in Sparta in alter Zeit gezeigt, sagt Pausanias (III. 13, 1) und Plutarch sagt, daß er zu Argos der Halbsterbliche oder Halbheros, [korrekter Abdruck siehe  Buch], genannt wurde (Quest. Gr., 23).

[36] Pindar, Nem., X. 60 ff., Dissen.

[37] Schol. Eurip., Orest., 463. Dindorf. Siehe Decharme, a. a. O., p. 654.

[38] Die Monade ist unpersönlich und ein Gott an sich, wenn auch auf dieser Ebene unbewusst. Denn geschieden von ihrem dritten (oft sogenannten fünften) Prinzip, dem Manas, welches die Horizontallinie des ersten geoffenbarten Dreiecks oder Dreieinigkeit ist, kann sie auf dieser irdischen Ebene kein Bewusstsein oder Wahrnehmung der Dinge haben. „Das Höchste sieht durch das Auge des Niedrigsten“ in der geoffenbarten Welt, Purusha (Geist) bleibt blind ohne Hilfe von Prakriti (Materie) in den materiellen Sphären; und dasselbe gilt von Âtmâ-Buddhi ohne Manas.

[39] Moral., p. 484 f.

[40] Diese seltsame Idee und Erklärung ist von Decharme in seiner Mythologie de la Grèce Antique (p. 655) angenommen. „Kastor und Pollux“, sagt er, „sind nichts als die Sonne und der Mond, vorgestellt als Zwillinge . . . . Die Sonne, das unsterbliche und mächtige Wesen, welches jeden Abend vom Horizonte verschwindet und unter die Erde hinabsteigt, als ob sie dem brüderlichen Gestirne Platz machen wollte, welches mit der Nacht zum Leben kommt, ist Pollux, welcher sich für Kastor aufopfert; Kastor, welcher geringer ist als sein Bruder, verdankt diesem seine Unsterblichkeit: Denn der Mond, sagt Theophrastus, ist nur eine andre, aber schwächere Sonne (De Ventis, 17)“.