Das obige wird in allen großen Theogonien klar gemacht, insbesondere in den griechischen, so in der des Hesiod. Die Verstümmelung des Uranos durch seinen Sohn Kronos, der ihn so zur Zeugungsunfähigkeit verurteilt, ist von den modernen Mythographen niemals verstanden worden. Und doch ist sie sehr klar; und da sie universal war, [83] so muß sie eine große abstrakte und philosophische Idee enthalten haben, die jetzt unseren modernen Weisen verloren gegangen ist. Diese Bestrafung in der Allegorie kennzeichnet in der That ,,eine neue Periode, eine zweite Phase in der Entwicklung der Schöpfung,“ wie von Decharme [84] richtig bemerkt, welcher jedoch nicht den Versuch macht, sie zu erklären. Uranos versuchte, jener Entwicklung oder natürlichen Evolution ein Hindernis entgegenzusetzen, indem er alle seine Kinder, sobald sie geboren waren, vernichtete. Uranos, welcher alle schöpferischen Mächte vom und im Chaos - dem Raume oder der ungeoffenbarten Gottheit - personificiert, zahlt nach dieser Darstellung das Sühngeld; denn diese Mächte sind es, welche die Pitris veranlassen, die ursprünglichen ,,Menschen“ aus sich selbst zu entwickeln - wie späterhin diese Menschen ihrerseits ihre Nachkommenschaft entwickeln - ohne irgend welchen Sinn oder Verlangen nach Zeugung. Das Zeugungswerk, für einen Augenblick unterbrochen, geht in die Hände des Kronos (Chronos), der Zeit [85] über, welcher sich mit Rhea (der Erde - in der Esoterik Materie im allgemeinen) vereinigt und so himmlische und irdische Titanen hervorbringt. Die Gesamtheit dieser Symbolik bezieht sich auf die Geheimnisse der Entwicklung.

Diese Allegorie ist die exoterische Lesart der in diesem Teile unseres Werkes gegebenen esoterischen Lehre. Denn in Kronos sehen wir dieselbe Geschichte wiederholt. Wie Uranos seine Kinder von Gea (eins in der Welt der Offenbarung mit Aditi oder der großen kosmischen Tiefe) vernichtete, indem er sie in den Schoß der Erde Titaea einschloß, so vernichtete Kronos, in diesem zweiten Stadium der Schöpfung, seine Kinder von der Rhea - indem er sie verschlang. Dies ist eine Anspielung auf die fruchtlosen Versuche der Erde, oder Natur, allein wirkliche menschliche ,,Menschen“ zu schaffen. [86] Die Zeit verschlingt ihr eigenes fruchtloses Werk. Dann kommt Zeus, Jupiter, welcher seinerseits seinen Vater entthront. [87] Jupiter, der Titan, ist in einem Sinne Prometheus, [88] und ist von Zeus, dem großen ,,Vater der Götter“ verschieden. Er ist der ,,unehrerbietige Sohn“ im Hesiod. Hermes nennt ihn den ,,himmlischen Menschen“ im Pymander; und selbst in der Bibel findet er sich wieder unter dem Namen Adam, und späterhin - durch Transmutation - unter dem von Ham. Doch sind diese alle Personifikationen der „Söhne der Weisheit“. Die notwendige Bestätigung, daß Jupiter zu dem rein menschlichen atlantischen Cyklus gehört - wenn Uranos und Kronos, welche ihm vorausgehen, für ungenügend befunden werden - kann im Hesiod gelesen werden, welcher uns sagt:

Die Unsterblichen machten die Rasse des goldenen und des silbernen Zeitalters (die erste und zweite Rasse); Jupiter machte die Generation der Bronze (eine Mischung von zwei Elementen), jene der Heroen, und des eisernen Zeitalters. [89]

Hierauf sendet er sein verderbliches Geschenk, Pandora, an Epimetheus. [90] Hesiod nennt dieses Geschenk des ersten Weibes ,,eine verderbliche Gabe“. Es war eine Bestrafung, erklärt er, die den Menschen gesendet wurde ,,wegen des Diebstahls des (göttlichen schöpferischen) Feuers.“ Ihr Erscheinen auf Erden ist das Signal für jede Art von Übel. Vor ihrem Auftreten lebten die Menschenrassen glücklich, frei von Krankheit und leiden - wie dieselben Rassen dargestellt werden als unter Yimas Herrschaft lebend, im altpersischen Vendîdâd.


[83] Uranos ist ein abgeänderter Varuna, der „universale Umschließer“, der „Allumfasser“, und eine der ältesten der vedischen Gottheiten - der Raum, der Schöpfer von Himmel und Erde, da beide aus seinem (des Gottes oder des Raumes) Samen geoffenbart sind. Erst später wurde Varuna das Haupt der Âdityss und eine Art von Neptun, der auf dem ,,Leviathan“ reitet - dem Makara, jetzt dem heiligsten und geheimnisvollsten der Tierkreiszeichen. Varuna, ohne den ,,kein Geschöpf auch nur blinzeln kann“, wurde gleich Uranos erniedrigt und verfiel gleich ihm in die Zeugung; seine Funktionen - ,,die erhabensten kosmischen Funktionen“, wie Muir sie nennt - wurden durch exoterischen Anthropomorphismus vom Himmel zur Erde erniedrigt Wie derselbe Orientalist sagt: ,,Die dem Varuna (in den Veden) zugeschriebenen Attribute und Funktionen verleihen seinem Charakter eine moralische Höhe und Heiligkeit, welche die irgend einer anderen vedischen Gottheit zugeschriebene weit übertrifft.“ Um aber den Grund seines Falles, sowie von jenem des Uranos, richtig zu verstehen, hat man in jeder exoterischen Religion das unvollkommene und sündhafte Werk der menschlichen Einbildungskraft zu sehen, und auch die Geheimnisse zu studieren, welche Varuna dem Vasishtha mitgeteilt haben soll. Nur ,,sollen seine Geheimnisse und jene des Mitra den Thörichten nicht enthüllt werden.“

[84] Mythologie de la Grèce Antique, p. 7.

[85] Kronos ist nicht nur [korrekter Abdruck siehe Buch] Zeit, sondern kommt auch, wio Bréal in seinem Hercule et Cacus (p. 57) zeigte, von der Wurzel kar, ,,machen, schaffen“. Ob Bréal, und Decharme, der ihn citiert, ebenso recht haben, wenn sie sagen, daß in den Veden Krânan (sic) ein schöpferischer Gott ist, bezweifeln wir. Bréal meinte wahrscheinlich Karma, oder vielmehr Visvakarman, den schöpferischen Gott, den ,,allmächtigen“ und den ,,großen Baumeister der Welt“.

[86] Siehe Strophen III—X ff., und auch den Bericht des Berosus über die ursprüngliche Schöpfung.

[87] Der Titanenkampf, zum mindesten in der Theogonie, ist der Kampf. um die Oberherrschaft zwischen den Kindern des Uranos und der Gea (oder Himmel und Erde in ihrem abstrakten Sinne), den Titanen, und den Kindern des Kronos, deren Haupt Zeug ist. Es ist in einem Sinne der immerwährende Kampf, der bis zum heutigen Tage zwischen dem geistigen inneren Menschen und dem Menschen von Fleisch vor sich geht.

[88] Geradeso wie ,,Gott der Herr“‘, oder Jehovah. esoterisch Kain ist, und die ,,verführende Schlange“ desgleichen; der männliche Teil der androgynen Eva - vor ihrem ,,Fall“, dem weiblichen Teile von Adam Kadmon - der linken Seite oder Binah, von der rechten Seite Chokmah in der ersten sephirothischen Dreiheit.

[89] Decharme, a. a. O., p. 284.

[90] In der ägyptischen Legende, genannt die ,,Zwei Brüder“, übersetzt von Herrn Maspero (dem gewesenen Direktor des Museums zu Boulak), ist das Urbild der Pandora gegeben. Num, der berühmte himmlische Künstler, schafft eine wunderbare Schönheit, ein Mädchen, welches er dem Batau sendet, worauf das Glück des letzteren zer­stört ist. Natürlich ist Batau der Mensch, und das Mädchen Eva. (Siehe Revue Archéologique, März 1878 und auch Decharme, a. a. O., p. 285.)