Das Geheimnis des menschlichen Auges ist derart, daß einige Gelehrte gezwungen waren, bei ihren vergeblichen Versuchen, alle Schwierigkeiten, welche seine Thätigkeit umgeben, zu erklären und zu begründen, zu occulten. Erklärungen ihre Zuflucht zu nehmen.
Die Entwicklung des menschlichen Auges bestätigt mehr die occulte Anthropologie als jene der materialistischen Physiologen. ,,Die Augen des menschlichen Embryo wachsen von innen nach außen“ - aus dem Gehirn heraus, anstatt einen Teil der Haut zu bilden, wie bei den Insekten und beim Tintenfisch. Professor Lankester - welcher meint, daß das Gehirn ein sonderbarer Ort für das Auge ist, und die Erscheinung nach darwinistischen Grundsätzen zu erklären versucht - schlägt die seltsame Anschauung vor, daß ,,unser“ frühester mit Rückenwirbeln versehener Ahne ein „durchsichtiges“ Geschöpf war und sich daher nicht darum bekümmerte, wo das Auge lag! Und so war der Mensch einstmals, wird uns gelehrt, ein ,,durchsichtiges Geschöpf“ und daher bewährt sich unsere Theorie. Aber wie reimt sich die Lankesterhypothese mit der Haeckelschen Ansicht, daß das Wirbeltierauge in Veränderungen in der Epidermis seinen Ursprung hatte? Wenn es von innen ausging, so fällt die letztere Theorie in dem Papierkorb. Dies scheint durch die Embryologie erwiesen zu. sein. Obendrein ist Professor Lankester‘s außerordentlicher Vorschlag - oder sollen wir sagen Zugeständnis? - vielleicht durch evolutionistische Notwendigkeiten notwendig gemacht. Der Occultismus mit seiner Lehre von der allmählichen Entwicklung der Sinne ,,von innen nach außen“, aus astralen Vorbildern, ist viel befriedigender. Das dritte Auge zog sich nach einwärts zurück, als seine Laufbahn beendet war — ein anderer Punkt zu Gunsten des Occultismus.

Der allegorische Ausdruck der indischen Mystiker, welche von dem ,,Auge des Shiva“, des Tri-lochana oder ,,Dreiäugigen“ sprechen, erhält so ihre Rechtfertigung und ihren Daseinsgrund; die Verlegung der Zirbeldrüse (einstmals jenes dritte Auge) nach der Stirne ist eine exoterische Freiheit. Dies wirft auch ein Licht auf das Geheimnis - das manchen unbegreiflich ist - von dem Zusammenhange zwischen abnormer oder geistiger Seherschaft und der physiologischen Reinheit des Sehers. Die Frage wird oft gestellt: Weshalb soll Ehelosigkeit und Keuschheit eine unerläßliche Bedingung der regelmäßigen Chelâschaft oder der Entwicklung psychischer und occulter Kräfte sein? Die Antwort ist im Kommentare enthalten.. Wenn wir lernen, daß das dritte Auge einstmals ein physiologischen Organ war und späterhin, infolge des allmählichen Schwindens der Geistigkeit und Zunehmens der Stofflichkeit, indem die geistige Natur durch die physische erlöscht wurde, dasselbe ein verkümmertes Organ wurde, das jetzt von den Physiologen ebensowenig verstanden wird als die Milz - wenn wir dies lernen, so wird der Zusammenhang klar. Während des menschlichen Lebens ist das größte Hindernis auf dem Wege der geistigen Entwicklung, und insbesondere für die Erlangung von Yogakräften, die Thätigkeit unserer physiologischen Sinne. Da die Geschlechtsthätigkeit durch Wechselwirkung auch eng verknüpft ist mit dem Rückenmark und der grauen Gehirnsubstanz, so ist es unnütz, irgend welche längere Erklärung zu geben. Natürlich wirkt der normale und abnormale Zustand des Gehirns und der Grad aktiver Thätigkeit in der Medulla Oblongata mächtig auf die Zirbeldrüse zurück, denn infolge der Anzahl der ,,Centren“ in jener Region, welche weitaus die größte Zahl der physiologischen Thätigkeiten der tierischen Oekonomie kontrolliert, und auch infolge der engen und innigen Nachbarschaft der beiden muß eine sehr mächtige ,,induktive“ Einwirkung von der Medulla auf die Zirbeldrüse ausgeübt werden.

All dies ist dem Occultisten ganz klar, aber sehr unbestimmt in den Augen des gewöhnlichen Lesers. Dem letzteren muß also die Möglichkeit eines dreiäugigen Menschen in der Natur, in jenen Zeiten, als seine Formung noch in einem verhältnismäßig chaotischen Zustand war, gezeigt werden. Eine solche Möglichkeit kann vor allem aus anatomischer und zoologischer Erkenntnis geschlossen werden, und kann sodann auf den Annahmen der materialistischen Wissenschaft selbst ruhen.

Es wird auf Grund der Autorität der Wissenschaft und des Augenscheins, was diesmal nicht bloß eine Erdichtung theoretischer Spekulation ist, behauptet, daß viele von den Tieren - insbesondere unter den niederen Ordnungen der Wirbeltiere - ein drittes Auge haben, welches jetzt verkümmert ist, welches aber in seinem Ursprunge notwendigerweise thätig war. [155] Die Art Hatteria, eine Eidechse aus der Ordnung der Lacertilien, die vor kurzem in Neuseeland - einem Teil des alten sogenannten Lemuriens, man bemerke das wohl - entdeckt wurde, bietet diese Eigentümlichkeit auf eine höchst außerordentliche Weise; und nicht bloß die Hatteria punctata, sondern auch das Chamäleon und gewisse Reptilien und sogar Fische. Man glaubte zuerst, daß dies nichts weiter sei, als die Verlängerung des Gehirns, welche mit einem kleinen Vorsprunge endete, genannt Epiphysis, ein kleiner, von dem Hauptknochen durch einen Knorpel getrennter Knochen, und sich in jedem Tiere vorfand. Aber es fand sich bald, daß es mehr als dies war. Wie seine Entwicklung und anatomischer Bau zeigte, bot es eine solche Analogie mit jenen des Auges, daß man es für unmöglich fand, irgend etwas anderes darin zu sehen. Es giebt Paläontologen, welche sich bis zum heutigen Tag überzeugt fühlen, daß dieses dritte Auge ursprünglich funktionierte, und sie haben sicherlich Recht. Denn folgendes wird in Quain‘s Anatomy über die Zirbeldrüse gesagt:


[155] ,,Tief im Innern des Kopfes, von dicker Haut und Muskeln überzogen, finden wir bei einzelnen Tieren verschiedener Klassen wirkliche Augen, welche nicht sehen,“ sagt Haeckel. ,,Unter den Wirbeltieren giebt es blinde Maulwürfe und Wühlmäuse, blinde Schlangen und Eidechsen . . . Sie meiden das Tageslicht und wohnen . . . unter der Erde . . . Sie sind nicht ursprünglich blind, sondern stammen von Vorfahren ab, die im Lichte lebten und wohlentwickelte Augen besaßen. Das verkümmerte Auge unter dem undurchsichtigen Felle ist bei diesen blinden Tieren auf allen Stufen der Rückbildung zu finden.“ (Haeckel, ,,Über Ursprung und Entwicklung der Sinneswerkzeuge“, Populäre Vorträge, Heft II. p. 161). Und wenn zwei Augen bei niederen Tieren so vor kümmern konnten, warum nicht ein Auge - die Zirbeldrüse - beim Menschen, welcher seinem physischen Aspekt nach bloß ein höheres Tier ist