Und hier kommt (zwischen den Versen 825 und 835) ein Rätsel für alle europäischen Ausleger. Der Titan sagt:

Bleib ihnen (den Arimaspen und Greifen) fern; du kommst zum weiten Lande
Des schwarzen Volks am Quell des Helios‘,
Der Äthiopenflut; an ihrem Ufer
Zieh‘ weiter bis zum Wasserfall, wo hoch
Von Byblos‘ Bergen seinen heil‘gen Strom
Der segensreiche Nil ergießt . . . .

Dort sollte Io eine Niederlassung für sich und ihre Söhne finden. Wir müssen nun sehen, wie die Stelle erklärt wird. Der Io wird gesagt, daß sie ostwärts zu wandern habe, bis sie zu dem Flusse Aithiops kommt, dem sie zu folgen hat, bis er sich in den Nil ergießt - daher die Verwirrung. ,,Nach den geographischen Theorien der frühesten Griechen“, wird uns von der Verfasserin der Übersetzung des ,,Gefesselten Prometheus“ mitgeteilt:

wurde diese Bedingung durch den Fluß Indus erfüllt. Arrian (VI. 1) erwähnt, daß Alexander der Große, als er sich vorbereitete, den Indus hinabzufahren, (da er Krokodile im Indusstrome gesehen hatte, und in keinem anderen Strome, ausgenommen den Nil . . .) meinte, die Quellen des Nil entdeckt zu haben; als ob der Nil, an irgend einem Orte in Indien entspringend, und durch viel Wüstenland fließend und dabei seinen Namen Indus verlierend, zunächst . . . durch unbewohntes Land flösse, wobei er nun von den Äthiopiern jener Gebiete und hierauf von den Ägyptern Nil genannt werde. Virgil im vierten Georgicum wiederholt den veralteten Irrtum. [194]

Alexander sowie Virgil mögen sich in ihren geographischen Vorstellungen beträchtlich geirrt haben; aber die Prophezeiung des Prometheus hat diesen Fehler nicht im mindesten begangen - auf jeden Fall nicht in ihrem esoterischen Geiste. Wenn eine gewisse Rasse symbolisiert wird, und ihrer Geschichte angehörende Ereignisse allegorisch wiedergegeben werden, so darf keine topographische Genauigkeit in dem ihrer Personifikation vorgezeichneten Reisewege erwartet werden. Doch ist es zufällig so, daß der Fluß Aithiops sicherlich der Indus ist, und auch der Nîl oder die Nîlâ. Er ist der Fluß, entsprungen auf dem Himmelsberge Kailâsa, der Wohnung der Götter - 22000 Fuß über der Meeresfläche. Er war der Fluß Aithiops, und wurde so von den Griechen genannt, lange vor den Tagen des Alexander, weil seine Ufer, von Attock hinab bis Sind, von Stämmen bewohnt waren, die gewöhnlich als die östlichen Aethiopier bezeichnet wurden. Indien und Aegypten waren zwei verwandte Nationen, und die östlichen Aethiopier - die mächtigen Baumeister - sind aus Indien gekommen, wie, so hofft man, in Isis entschleiert ziemlich gut bewiesen ist. [195]

Warum denn konnten nicht Alexander, und auch der gelehrte Virgil, das Wort Nil oder Neilos gebraucht haben, wenn sie vom Indus sprachen, nachdem es einer seiner Namen ist? Bis zum heutigen Tage wird der Indus in der Umgebung von Kalabagh Nîl, der ,,Blaue“, und Nîlâ, der ,,blaue Fluß“ genannt. Das Wasser ist dort von so dunkelblauer Farbe, daß ihm dieser Name seit unvordenklichen Zeiten gegeben wurde; eine kleine Stadt an seinen Ufern ist mit demselben Namen so benannt und existiert bis zum heutigen Tage. Offenbar hat Arrian, der viel später als zur Zeit des Alexander schrieb, und dem der alte Name des Indus unbekannt war, unbewußterweise den griechischen Eroberer verleumdet. Auch unsere modernen Geschichtsschreiber sind so, wie sie urteilen, nicht viel weiser, denn sie geben oft die unbedingtesten Erklärungen auf bloßen Anschein hin, so sehr, wie es ihre alten Kollegen nur je in alter Zeit thaten, da noch keine Encyklopädien für sie bereit lagen.

Die Rasse der Io, der ,,kuhhörnigen Maid“, ist dann einfach die bahnbrechende Rasse der Aethiopier, die von ihr vom Indus an den Nil gebracht wurde, der seinen Namen in Erinnerung an den mütterlichen Fluß der Kolonisten aus Indien erhielt. [196] Daher sagt Prometheus zur Io, [197] daß der heilige Neilos - der Gott, nicht der Fluß - sie zu dem „dreigespitzten Land“, nämlich zum Delta hinunterleiten werde, wo ihren Söhnen jenen ,,fernen Sitz“ zu finden beschieden ist. (838 ff.)

Dort wird eine neue Rasse (die Ägypter) beginnen, und eine ,,weibliche Rasse“ (873), welche, ihrer Abstammung nach vom dunklen Epaphos -

Das „fünfte“, fünfzigsprossige Geschlecht
Kehrt wider Willen erst nach Argos heim.

Dann wird eine von den fünfzig Jungfrauen aus Liebe fehlen -

Und sie gebiert den Königsstamm von Argos.
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Aus diesem Samen wird ein hehrer Held,
Der Fürst des Bogens, einst erblüh‘n, der mich
Aus meinen Leiden löst . . . . .

Wann diese Helden erstehen werden, offenbart der Titan nicht; denn, wie er bemerkt:

Doch lange Zeit gebraucht‘s, das Wie und Wann
Euch zu erklären.

Aber ,,Argos“ ist Arghyavarsha, das Land der Libationen der alten Hierophanten, woher der Erlöser der Menschheit erscheinen wird, ein Name, der Zeitalter später der seines Nachbarlandes Indien wurde - des alten Aryâvarta.


[194] a. a. O., p 385, Anm.

[195] I. 569, 570.

[196] Alexander, der besser mit Attock als mit Indien bekannt war - denn er hatte niemals das eigentliche Indien betreten - konnte nicht verfehlt haben, den Indus gerade in der Nähe seiner Quellen Nîl und Nîlâ genannt zu hören. Der Irrtum - wenn es ein Irrtum ist - ist somit leicht zu erklären.

[197] Daß Io allegorisch mit Isis und dem Mond wesensgleich ist, zeigt sich dadurch, daß sie ,,kuhhörnig“ ist. Die Allegorie erreichte Griechenland unleugbar aus Indien, wo Vâch - die ,,melodische Kuh“ des Rig Veda, ,von der die Menschheit hervorgebracht wurde“ (Bhâgavata Purâna) im Aitareya Brâhmana als von ihrem Vater Brahmâ verfolgt dargestellt wird, der von einer unerlaubten Leidenschaft bewegt war und sie in eine Hirschkuh verwandelte. Daher wurde le, da sie sich weigerte, der Leidenschaft Jupiters Gehör zu geben, ,,gehörnt“. Die Kuh war in jedem Lande das Symbol der passiven Zeugungskraft der Natur, Isis, Vâch, Venus - der Mutter des fruchtbaren Liebesgottes Kupido, aber gleichzeitig jenes des Logos, dessen Symbol bei den Ägyptern und den Indern der Stier wurde, wie durch den Apis und die indischen Stiere in den ältesten Tempeln bezeugt. In der esoterischen Philosophie ist die Kuh das Symbol der schöpferischen Natur, und der Stier (ihr Kalb) der Geist der sie belebt, oder der ,,heilige Geist“, wie Dr. Kenealy zeigt. Daher das Symbol der Hörner. Diese waren auch den Juden heilig, weiche auf den Altar Hörner von Sittimholz setzten, durch deren Ergreifung ein Verbrecher sich Unverletzlichkeit gewann.