A.
KREUZ UND KREIS.

In den Gemütern der alten Philosophen wurde der Gestalt des Kreises immer etwas vom Göttlichen und Geheimnisvollen zugeschrieben. Die alte Welt, folgerichtig in ihrer Symbolik und in Übereinstimmung mit ihren pantheistischen Intuitionen, welche die sichtbaren und die unsichtbaren Unendlichkeiten in eine vereinigten, stellten die Gottheit und ihren äußeren Schleier auf gleiche Weise dar - durch einen Kreis. Dieses Verschmelzen der beiden in eine Einheit, und der Name Theos, welcher ohne Unterschied beiden gegeben wird, sind erklärt, und werden dadurch noch wissenschaftlicher und philosophischer. Platos etymologische Definition des Wortes theos ([korrekter Abdruck siehe Buch]) ist anderwärts gegeben worden. In seinem Kratylos leitet er es von dem Zeitworte the-ein ([korrekter Abdruck siehe Buch]) „sich bewegen“ ab, angeregt durch die Bewegung der Himmelskörper, die er mit der Gottheit in Verbindung bringt. Nach der esoterischen Philosophie ist diese Gottheit, während ihrer „Nächte“ und „Tage“ oder Cyklen der Ruhe und der Thätigkeit, die „ewige beständige Bewegung“, das „Immer-Werdende sowie die immer universelle Gegenwart, und das Immer-Existierende“. Das letztere ist die Wurzel-Abstraktion; das erstere ist die einzig mögliche Vorstellung im menschlichen Gemüte, wenn es diese Gottheit von jeder Gestalt oder Form trennt. Es ist eine beständige, niemals aufhörende Entwicklung, welche in ihrem unablässigen Fortschritte durch Äonen der Dauer zu ihrem ursprünglichen Zustand - zur Absoluten Einheit - zurückkreist.
Es waren nur die kleineren Götter, welche man die symbolischen Attribute der höheren tragen ließ. So wurde der Gott Shu, die Personifikation des Ra, welcher erscheint als die „große Katze des Beckens von Persaea in An“ [25] , oft auf den ägyptischen Denkmälern dargestellt, wie er sitzt und ein Kreuz hält, das Symbol der vier Weltgegenden oder der Elemente das mit einem Kreise verbunden ist.

In jenem sehr gelehrten Werke, The Natural Genesis, von Gerald Massey, ist unter der Überschrift „Typologie des Kreuzes“ mehr Belehrung über das Kreuz und den Kreis zu finden, als in irgend einem anderen Werke, das wir kennen. Wer gerne Beweise für das Altertum des Kreuzes haben möchte, wird auf diese beiden Bände verwiesen. Der Verfasser sagt:

Der Kreis und das Kreuz sind untrennbar. . . . Die Crux Ansata vereinigt den Kreis und das Kreuz mit den vier Ecken. Nach diesem Ursprunge wurden der Kreis und das Kreuz zeitweilig vertauschbar. Zum Beispiel ist das Chakra oder die Wurfscheibe des Vishnu ein Kreis. Der Name bedeutet das Kreisen, das Herumwirbeln, die Periodicität, das Rad der Zeit. Dieses benützt der Gott als eine Waffe, um es auf den Feind zu schleudern. Auf gleiche Weise wirft Thor seine Waffe, den Fylfot, eine Form des vierfüßigen Kreuzes (Svastika), und einen Typus der vier Himmelsgegenden. So ist das Kreuz gleichbedeutend mit dem Kreise des Jahres. Das Rademblem vereinigt Kreuz und Kreis in einem, ebenso wie der hieroglyphische Kuchen und die Ankh-schleife [Symbolabbildung siehe Buch]. [26]

Auch war die doppelte Glyphe nicht bei den Profanen heilig, sondern nur bei den Initiierten. Denn Raoul Rochette zeigt: [27]

Das Zeichen [Symbolabbildung siehe Buch] kommt vor als die Rückseite einer phönizischen Münze, mit einem Widder als Vorderseite. . . . Dasselbe Zeichen, welches manchmal Venusspiegel genannt wird, weil es die Fortpflanzung versinnbildlichte, wurde zur Bezeichnung der Hinterviertel wertvoller Zuchtstuten aus korinthischen und anderen schönen Pferderassen verwendet.

Dies beweist, daß bereits in jenen frühen Tagen das Kreuz schon zum Symbol der menschlichen Zeugung geworden war, und daß das Vergessen des göttlichen Ursprungs von Kreis und Kreuz begonnen hatte.


[25] Siehe Totenbuch, XVII. 45-47.

[26] a. a. O., I. 421, 422.

[27] De la Croix Ansée, Mém. de l`Académie des Sciences, Tfl. 2, No. 8, 9, auch 16, 2, p. 320; angeführt in Natural Genesis, p. 423.