Auch die „natürliche Zuchtwahl“ selbst wird mit jedem
Tag mehr bedroht. Der Fahnenflüchtigen aus dem Darwinschen Lager sind
viele, und jene, die einstmals die eifrigsten Schüler waren, bereiten sich
infolge neuer Entdeckungen langsam, aber stetig vor, ein neues Blatt
aufzuschlagen. Im Journal of the Royal Microscopical Society vom
Oktober 1886 können wir wie folgt lesen: PHYSIOLOGISCHE
ZUCHTWAHL. - Herr G. J. Romanes findet gewisse Schwierigkeiten darin, die
natürliche Zuchtwahl als eine Theorie über den Ursprung der Arten zu
betrachten, da sie vielmehr eine Theorie über den Ursprung
anpassungsfähiger Strukturen ist. Er schlägt vor, sie durch die von ihm
sogenannte physiologische Zuchtwahl, oder Absonderung des Tauglichen zu
ersetzen. Seine Ansicht beruht auf der außerordentlichen Empfindlichkeit
des Fortpflanzungssystem gegen kleine Veränderungen in den
Lebensbedingungen, und er glaubt, daß Variationen in der Richtung größerer
oder geringerer Unfruchtbarkeit häufig bei wilden Arten vorkommen müssen.
Wenn die Variation eine solche ist, daß das Fortpflanzungssystem, während
es einigen Grad von Unfruchtbarkeit bei der väterlichen Form zeigt,
innerhalb der Grenzen der Variationsform fruchtbar zu sein fortfährt, so
würde die Variation weder durch Kreuzbefruchtung verwischt werden, noch
infolge von Unfruchtbarkeit aussterben. Wenn eine Variation dieser Art
stattfindet, so muß die physiologische Schranke die Art in zwei Teile
teilen. Der Verfasser betrachtet schließlich gegenseitige Unfruchtbarkeit
nicht als eine der Wirkungen specifischer Differentiation, sondern als die
Ursache derselben. [3]
Es wird ein Versuch gemacht, zu zeigen, daß das Obige eine
Ergänzung zu, und eine Folge von der Darwinschen Theorie ist. Das ist im
besten Falle ein plumper Versuch. Die Öffentlichkeit wird bald
aufgefordert werden, zu glauben, daß Herrn C. Dixons Evolution ohne
Natürliche Zuchtwahl auch Darwinismus ist - erweiterter, wie der
Verfasser sicherlich davon behaupten wird! Aber das ist dasselbe, als
würde man den Körper eines Menschen in drei Teile zerstückeln, und dann
behaupten, daß jedes Stück der gleiche Mensch ist wie zuvor, nur -
erweitert. Doch der Verfasser sagt: Man möge deutlich
verstehen, daß nicht eine einzige Silbe auf den vorhergehenden Blättern im
Gegensatze zu Darwins Theorie von der natürlichen Zuchtwahl geschrieben
worden ist. Alles, was ich gethan habe, war, gewisse Erscheinungen
zu erklären. . . . Jemehr man Darwins Werke studiert, destomehr wird man
überzeugt von der Wahrheit seiner Hypothese (!!). [4]
Und zuvor spielt er an auf: die
überwältigende Reihe von Thatsachen, die Darwin zur Unterstützung seiner
Hypothese gab, und welche die Theorie der natürlichen Zuchtwahl im
Triumphe über alle Hindernisse und Einwendungen trug. [5]
Dies hindert den gelehrten Verfasser jedoch nicht, diese
Theorie ebenso „im Triumphe“ umzustoßen, und sogar offen sein Werk
Evolution ohne Natürliche Zuchtwahl zu nennen, oder, in
ebensovielen Worten, mit Darwins Fundamentalidee in Staub darin
zerschmettert. Was die Natürliche Zuchtwahl selbst anbelangt, so
herrscht das äußerste Mißverständnis bei vielen Denkern des heutigen
Tages, welche stillschweigend die Schlußfolgerungen des Darwinismus
annehmen. Es ist z. B. ein bloßer rhetorischer Kunstgriff, der
natürlichen Zuchtwahl die Kraft, Arten entstehen zu lassen,
zuzuschreiben. Die natürliche Zuchtwahl ist keine Wesenheit; sie ist
lediglich eine bequeme Phrase zur Beschreibung der Art, auf welche das
Überleben des Tauglichen und die Ausmerzung des Untauglichen unter den
Organismen durch den Kampf ums Dasein hervorgebracht wird. Jede Gruppe von
Organismen strebt sich über die Subsistenzmittel hinaus zu vermehren; der
beständige Kampf ums Leben - der „Kampf, genug zu essen zu erhalten, und
dem Aufgegessenwerden zu entrinnen,“ abgesehen von den Bedingungen der
Umgebung - macht ein beständiges Ausjäten des Untauglichen notwendig. Die
Auslese irgend eines Stammes, die auf diese Art ausgesucht ist, pflanzt
die Art fort und überliefert ihre organischen Merkmale ihren Nachkommen.
Alle nützlichen Abänderungen werden so fortbestehend erhalten, und eine
fortschreitende Vervollkommnung wird bewirkt. Aber die natürliche
Zuchtwahl - nach der bescheidenen Meinung der Verfasserin, „Zuchtwahl
als eine Kraft“ - ist in Wirklichkeit eine reine Mythe; namentlich
wenn man zu ihr als zu einer Erklärung des Ursprungs der Arten seine
Zuflucht nimmt. Sie ist lediglich ein bildlicher Ausdruck zur Darstellung
der Art und Weise, wie „nützliche Abänderungen“ stereotypiert werden, wenn
sie hervorgebracht sind. Aus sich selbst kann „sie“ - nichts
hervorbringen, und bearbeitet nur das „ihr“ dargebotene rohe Material.
Die wirkliche Frage, um die es sich handelt, ist die: Welche
Ursache - in Verbindung mit anderen sekundären Ursachen - bringt
die „Abänderungen“ in den Organismen selbst hervor? Viele von diesen
sekundären Ursachen sind rein physikalisch - klimatisch, diätetisch u. s.
w. Sehr gut. Aber hinter den sekundären Aspekten der organischen
Entwicklung muß ein tieferes Prinzip gesucht werden. Die „spontanen
Variationen“ und „zufälligen Divergenzen“ des Materialisten sind
sich selbst widersprechende Ausdrücke in einem Weltalle von „Stoff, Kraft
und Notwendigkeit.“ Bloße Veränderlichkeit des Typus ohne die
beaufsichtigende Gegenwart eines quasi-intelligenten Antriebes ist
ohnmächtig, beispielsweise die erstaunliche Zusammengesetztheit und die
Wunder des menschlichen Körpers zu erklären. Die Unzulänglichkeit der
mechanischen Theorie der Darwinisten ist ausführlich von Dr. v. Hartmann
entlarvt worden, zugleich mit andern rein negativen Denkern. Es ist eine
Kränkung der Intelligenz des Lesers, wenn man, wie es Haeckel thut, von
blinden indifferenten Zellen spricht, „die sich selbst zu Organen
anordnen.“ Die esoterische Erklärung des Ursprungs der Tierarten ist
anderwärts gegeben.
[3]
Serie II, Bd. VI, p. 769 (Aush. 1886).
Eine Bemerkung des Herausgebers fügt dem hinzu, daß ein „F.
J. B.“ im Athenaeum (No. 3069, Ausg. 21, 1886, pp. 242-3) darauf
hinweist, daß die Naturforscher seit langem erkannt haben, daß es
„morphologische“ und „physiologische“ Arten giebt. Die ersteren haben
ihren Ursprung in den Gedanken des Menschen, die letzteren in einer Reihe
von Veränderungen, die hinreichend sind, sowohl die inneren, als auch die
äußeren Organe einer Gruppe verwandter Individuen zu afficieren. Die
„physiologische Zuchtwahl“ der morphologischen Spezies ist eine Vermengung
der Ideen; jene der physiologischen Spezies eine Weitschweifigkeit des
Ausdrucks.
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