Eine Antwort auf unsere Frage findet sich in einem Bande, der soeben von Herrn Samuel Laing - dem besten Laien-Erklärer der modernen Wissenschaft [3] - herausgegeben wurde. Im achten Kapitel seines letzten Werkes, A Modern Zoroastrian, beginnt der Verfasser mit einem Tadel an „alle alten Religionen und Philosophien“, weil sie „ein männliches und weibliches Prinzip für ihre Götter annehmen“. Auf den ersten Blick, sagt er,

erscheint dieser Unterschied des Geschlechtes ebenso grundlegend wie der von Pflanze und Tier . . . Der Geist Gottes, der über dem Chaos brütet und die Welt hervorbringt, ist nur eine spätere, entsprechend den monotheistischen Ideen durchgesehene Ausgabe der viel älteren chaldäischen Legende, welche die Schöpfung des Kosmos aus dem Chaos durch das Zusammenwirken großer männlicher und weiblicher Gottheiten beschreibt. . . . So werden wir im orthodoxen christlichen Glauben gelehrt, zu wiederholen: „erzeugt, nicht geschaffen“, eine Phrase, welche unbedingter Unsinn ist, oder Nicht-Sinn - das heißt ein Beispiel dafür, daß Worte gebraucht werden wie falsche Banknoten, denen kein gediegener Wert einer Idee zu Grunde liegt. Denn „erzeugt“ ist ein sehr bestimmter Ausdruck, welcher die Verbindung von zwei entgegengesetzten Geschlechtern zur Hervorbringung eines neuen Individuums in sich begreift. [4]

Wie sehr wir auch mit dem gelehrten Verfasser in Bezug auf die Nichtratsamkeit der Benützung unrichtiger Worte, und auf das schreckliche anthropomorphische und phallische Element in den alten Schriften - insbesondere in der orthodoxen christlichen Bibel - übereinstimmen mögen, so können nichtsdestoweniger zwei mildernde Umstände in dem Falle sein. Erstens sind alle diese „alten Philosophien“ und „modernen Religionen“ - wie in diesen beiden Bänden hinlänglich gezeigt worden ist - ein über das Antlitz der Esoterischen Wahrheit geworfenen exoterischen Schleier; und - als unmittelbares Ergebnis davon - sind sie allegorisch, d. i. der Form nach mythologisch; aber sie sind doch dem Wesen nach unermeßlich philosophischer als irgend eine der neuen sogenannten wissenschaftlichen Theorien. Zweitens ist, von der orphischen Theogonie abwärts bis zu Ezras letzte Umarbeitung des Pentateuch, jede alte Schrift, die ihre Thatsachen ursprünglich dem Osten entlehnt hatte, beständigen Änderungen durch Freund und Feind unterworfen gewesen, bis von der ursprünglichen Version nur mehr der Name übrig war, eine tote Schale, aus der der Geist allmählich ausgetrieben worden war.
Dies allein sollte zeigen, daß kein gegenwärtig vorhandenes Religionswerk verstanden werden kann ohne die Hilfe der archaischen Weisheit, der ersten Grundlage, auf der sie alle aufgebaut waren.
Doch kehren wir zu der unmittelbaren Antwort zurück, die von der Wissenschaft auf unsere unmittelbare Frage erwartet wird. Sie wird von demselben Verfasser gegeben, wo er, seinen Gedankengang über die unwissenschaftliche Euhemerisation der Naturkräfte in den alten Glauben verfolgend, ein Verdammungsurteil über sie mit den folgenden Worten ausspricht:

Die Wissenschaft jedoch zerstört diesen Eindruck, daß geschlechtliche Zeugung die ursprüngliche und einzige Fortpflanzungsart sei, auf traurige Weise, und das Mikroskop und Seciermesser des Naturforschers führen uns in neue und gänzlich unerwartete (?) Lebenswelten ein.

So wenig „unerwartet“ in der That, daß die ursprünglichen ungeschlechtlichen „Fortpflanzungsarten“ auf jeden Fall den alten Hindûs bekannt gewesen sein müssen - ungeachtet der gegenteiligen Behauptung des Herrn Laing. Angesichts der von uns anderwärts angeführten Behauptung im Vishnu Purâna, daß Daksha „geschlechtlichen Verkehr als Mittel zur Vermehrung einführte“, erst nach einer Reihe von anderen „Arten“, welche alle darin aufgezählt sind, [5] wird es schwierig, die Thatsache zu leugnen. Diese Behauptung findet sich obendrein, man bemerke das wohl, in einem exoterischen Werk. Zunächst fährt Herr Laing fort, uns zu sagen:

Bei weitem der größere Teil der Lebensformen, zum mindesten an Zahl, wenn nicht an Größe sind ins Dasein gekommen ohne die Hilfe geschlechtlicher Fortpflanzung.

Er führt dann als Beispiel Haeckels „Moner“ an, das sich „durch Selbstteilung vermehrt“. Das nächste Stadium zeigt der Verfasser in der Kernzelle, „welche genau dasselbe Ding thut.“ Das folgende Stadium ist jenes,

wo der Organismus sich nicht in zwei gleiche Teile teilt, sondern ein kleiner Teil desselben hervorschwillt . . . und schließlich die Verbindung aufgiebt und eine getrennte Existenz beginnt, und zur Größe der Mutter anwächst, durch seine innewohnende Fähigkeit, frisches Protoplasma aus den umgebenden unorganischen Materialien zu erzeugen.

Hierauf folgt ein vielzelliger Organismus, welcher gebildet ist aus:

Keimknospen, die auf Sporen oder Einzelzellen reduciert sind, die von der Mutter ausgesendet werden. . . . Wir sind jetzt an der Schwelle jenes Systems geschlechtlicher Fortpflanzung, welches [jetzt] zur Regel in allen höheren Tierfamilien geworden ist. . . . Dieser Organismus, welcher im Kampfe ums Dasein Vorteile hatte, begründete sich dauernd, und besondere Organe wurden entwickelt, um den geänderten Bedingungen zu entsprechen. So würde schließlich der Unterschied fest begründet zwischen einem weiblichen Organ oder Ovarium, welches das Ei oder die ursprüngliche Zelle enthält, aus der das neue Wesen entwickelt werden soll, und einem männlichen Organ, welches die befruchtende Spore oder Zelle liefert. . . . Dies wird bestätigt durch ein Studium der Embryologie, welche zeigt, daß bei den menschlichen und höheren tierischen Arten der Geschlechtsunterschied sich nicht früher entwickelt, bevor nicht ein beträchtlicher Fortschritt im Wachstum des Embryo geschehen ist. . . . Bei der großen Mehrzahl der Pflanzen, und bei einigen niederen Tierfamilien . . . werden die männlichen und weiblichen Organe inneshalb desselben Wesens entwickelt, und sie sind sogenannte Hermaphroditen. Eine andere Übergangsform ist die Parthenogenese, oder jungfräuliche Fortpflanzung, bei welcher sich Keimzellen, die scheinbar in allen Beziehungen Eizellen ähnlich sind, ohne irgend welches befruchtende Element zu neuen Individuen entwickeln. [6]

Das ist uns alles so wohl bekannt, wie uns bekannt ist, daß das obige von dem sehr gelehrten englischen Verbreiter der Huxley-Haeckelschen Theorien auf das genus homo niemals angewendet worden ist. Er beschränkt dies auf Protoplasmaklümpchen, Pflanzen, Bienen, Schnecken u. s. w.  Aber wenn er der Abstammungstheorie gerecht werden will, muß er auch der Ontogenie gerecht werden, in welcher das fundamentale biogenetische Gesetz, wie uns gesagt wird, folgendermaßen lautet:

Die Keimesentwicklung (Ontogenesis) ist eine gedrängte und abgekürzte Wiederholung der Stammesentwicklung (Philogenesis); und zwar ist diese Wiederholung um so vollständiger, je mehr durch beständige Vererbung die ursprünglichere Auszugsentwicklung (Palingenesis) beibehalten wird; hingegen ist die Wiederholung um so unvollständiger, je mehr durch wechselnde Anpassung die spätere Störungsentwickelung (Cenogenesis) eingeführt wird. [7]


[3] Verfasser von Modern Science and Modern Thought.

[4] a. a. O., pp. 101, 103.

[5] a. a. O., II. 12, Wilsons Übers.

[6] Ebenda, pp. 104-106.

[7] Anthropogenie, 4. Aufl., p. 11.