Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
       http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried 

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Viertes Buch

III

Der Mensch ist zu feinern Sinnen, zur Kunst und zur Sprache organisieret

Nahe dem Boden hatten alle Sinnen des Menschen  nur einen kleinen Umfang, und die niedrigen drängeten sich den edlern vor, wie das Beispiel der verwilderten Menschen zeiget. Geruch und Geschmack  waren, wie bei dem Tier, ihre ziehenden Führer. - Über die Erde und Kräuter erhoben, herrschet der  Geruch nicht mehr, sondern das Auge; es hat ein weiteres Reich um sich und übet sich von Kindheit auf in der feinsten Geometrie der Linien und Farben. Das  Ohr, unter den hervortretenden Schädel tief hinuntergesetzt, gelangt näher zur innern Kammer der Ideensammlung, da es bei dem Tier lauschend hinaufsteht  und bei vielen auch seiner äußern Gestalt nach zugespitzt horchet.

Mit dem aufgerichteten Gange wurde der Mensch  ein Kunstgeschöpf; denn durch ihn, die erste und  schwerste Kunst, die ein Mensch lernet, wird er eingeweihet, alle zu lernen und gleichsam eine lebendige  Kunst zu werden. Siehe das Tier! Es hat zum Teil  schon Finger wie der Mensch; nur sind sie hier in  einen Huf, dort in eine Klaue oder in ein ander  Gebilde eingeschlossen und durch Schwielen verderbet. Durch die Bildung zum aufrechten Gange bekam  der Mensch freie und künstliche Hände, Werkzeuge  der feinsten Hantierungen und eines immerwährenden  Tastens nach neuen klaren Ideen. Helvétius hat sofern recht, daß die Hand dem Menschen ein großes Hülfsmittel seiner Vernunft gewesen; denn was ist nicht  schon der Rüssel dem Elefanten? Ja dieses zarte Gefühl der Hände ist in seinen Körper verbreitet, und bei verstümmelten Menschen haben die Zehen des Fußes  oft Kunststücke geübet, die die Hand nicht üben  konnte. Der kleine Daum, der große Zeh, die auch der Struktur ihrer Muskeln nach so besonders gebildet  sind, ob sie uns gleich verachtete Glieder scheinen,  sind uns die notwendigsten Kunstgehilfen zum Stehen, Gehen, Fassen und allen Verrichtungen der  kunstarbeitenden Seele.

Man hat so oft gesagt, daß der Mensch wehrlos erschaffen worden und daß es einer seiner unterscheidenden Geschlechtscharaktere sei, nichts zu vermögen Es ist nicht also; er hat Waffen der Verteidigung wie  alle Geschöpfe. Schon der Affe führt den Prügel und  wehret sich mit Sand und Steinen; er klettert und rettet sich vor den Schlangen, seinen ärgsten Feinden; er  deckt Häuser ab und kann Menschen morden. Das  wilde Mädchen zu Songi schlug ihre Mitschwester  mit der Keule vor den Kopf und ersetzte mit Klettern  und Laufen, was ihr an Stärke abging. Also auch der  verwilderte Mensch ist seiner Organisation nach nicht ohne Verteidigung; und aufgerichtet, kultiviert -  welch Tier hat das vielarmige Werkzeug der Kunst,  was er in seinem Arm, in seiner Hand, in der Geschlankigkeit seines Leibes, in allen seinen Kräften  besitzet? Kunst ist das stärkste Gewehr, und er ist  ganz Kunst, ganz und gar organisierte Waffe. Nur  zum Angriff fehlen ihm Klauen und Zähne; denn er  sollte ein friedliches, sanftmütiges Geschöpf sein;  zum Menschenfressen ist er nicht gebildet.

Welche Tiefen von Kunstgefühl liegen in einem  jeden Menschensinn verborgen, die hie und da meistens nur Not, Mangel, Krankheit, das Fehlen eines  andern Sinnes, Mißgeburt oder ein Zufall entdecket  und die uns ahnen lassen, was für andre, für diese  Welt unaufgeschlossene Sinne in uns liegen mögen.  Wenn einige Blinde das Gefühl, das Gehör, die zählende Vernunft, das Gedächtnis bis zu einem Grad erheben konnten, der Menschen von gewöhnlichen Sinnen fabelhaft dünket, so mögen unentdeckte Welten  der Mannigfaltigkeit und Feinheit auch in andern Sinnen ruhen, die wir in unsrer vielorganisierten Maschine nur nicht entwickeln. Das Auge, das Ohr! Zu welchen Feinheiten ist der Mensch schon durch sie gelangt und wird in einem höhern Zustande gewiß weiter gelangen, da, wie Berkeley sagt, das Licht eine  Sprache Gottes ist, die unser feinster Sinn in tausend  Gestalten und Farben unablässig nur buchstabieret.  Der Wohllaut, den das menschliche Ohr empfindet  und den die Kunst nur entwickelt, ist die feinste Meßkunst, die die Seele durch den Sinn dunkel ausübet,  so wie sie durchs Auge, indem der Lichtstrahl auf ihm spielet, die feinste Geometrie beweiset. Unendlich  werden wir uns wundern, wenn wir, in unserm Dasein einen Schritt weiter, alle das mit klarem Blick sehn,  was wir in unsrer vielorganisierten göttlichen Maschine mit Sinne und Kräften dunkel übten und in welchem sich seiner Organisation gemäß das Tier schon  vorzuüben scheinet.

Indessen wären alle diese Kunstwerkzeuge, Gehirn, Sinne und Hand, auch in der aufrechten Gestalt unwirksam geblieben, wenn uns der Schöpfer nicht eine  Triebfeder gegeben hätte, die sie alle in Bewegung  setzte: es war das göttliche Geschenk der Rede. Nur  durch die Rede wird die schlummernde Vernunft erweckt, oder vielmehr die nackte Fähigkeit, die durch  sich selbst ewig tot geblieben wäre, wird durch die  Sprache lebendige Kraft und Wirkung. Nur durch die  Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefühl aller Sinne  eins und vereinigt sich durch sie zum schaffenden Gedanken, dem das Kunstwerk der Hände und andrer  Glieder nur gehorchet. Das Beispiel der Taub- und  Stummgebornen zeigt, wie wenig der Mensch auch  mitten unter Menschen ohne Sprache zu Ideen der  Vernunft gelange und in welcher tierischen Wildheit  alle seine Triebe bleiben. Er ahmt nach, was sein  Auge sieht, Gutes und Böses; und er ahmt es schlechter als der Affe nach, weil das innere Kriterium der  Unterscheidung, ja selbst die Sympathie mit seinem  Geschlecht ihm fehlet. Man hat Beispiele [30], daß ein  Taub- und Stummgeborner seinen Bruder mordete, da er ein Schwein morden sah, und wühlte, bloß der  Nachahmung wegen, mit kalter Freude in den Eingeweiden desselben: schrecklicher Beweis, wie wenig  die gepriesne menschliche Vernunft und das Gefühl  unsrer Gattung durch sich selbst vermöge. Man kann und muß also die feinen Sprachwerkzeuge als das  Steuerruder unsrer Vernunft und die Rede als den  Himmelsfunken ansehen, der unsre Sinnen und Gedanken allmählich in Flammen brachte.

Bei den Tieren sehen wir Voranstalten zur Rede,  und die Natur arbeitet auch hier von unten herauf, um  diese Kunst endlich im Menschen zu vollenden Zum  Werk des Atemholens wird die ganze Brust mit ihren  Knochen, Bändern und Muskeln, das Zwerchfell und  sogar Teile des Unterleibes, des Nackens, des Halses  und der Oberarme erfordert: zu diesem großen Werk  also bauete die Natur die ganze Säule der Rückenwirbel mit ihren Bändern und Rippen, Muskeln und  Adern; sie gab den Teilen der Brust die Festigkeit und Beweglichkeit, die zu ihm gehören, und ging von den  niedrigern Geschöpfen immer höher, eine vollkommenere Lunge und Luftröhre zu bilden. Begierig zieht  das neugeborne Tier den ersten Atemzug in sich, ja es dränget sich nach demselben, als ob es ihn nicht erwarten könnte. Wunderbar viel Teile sind zu diesem  Werk geschaffen; denn fast alle Teile des Körpers  haben zu ihrem wirksamen Gedeihen Luft nötig. Indessen sosehr sich alles nach diesem lebendigen Gottesatem drängt, so hat nicht jedes Geschöpf Stimme  und Sprache, die am Ende durch kleine Werkzeuge,  den Kopf der Luftröhre, einige Knorpel und Muskeln, endlich durch das einfache Glied der Zunge befördert  werden. In der schlichtesten Gestalt erscheint diese  Tausendkünstlerin aller göttlichen Gedanken und  Worte, die mit ein wenig Luft durch eine enge Spalte  nicht nur das ganze Reich der Ideen des Menschen in  Bewegung gesetzt, sondern auch alles ausgerichtet  hat, was Menschen auf der Erde getan haben. Unendlich schön ist's, den Stufengang zu bemerken, auf dem die Natur vom stummen Fisch, Wurm und Insekt das  Geschöpf allmählich zum Schall und zur Stimme hinauffördert Der Vogel freuet sich seines Gesanges als  des künstlichsten Geschäfts und zugleich des herrlichsten Vorzugs, den ihm der Schöpfer gegeben; das  Tier, das Stimme hat, ruft sie zu Hülfe, sobald es Neigungen fühlet und der innere Zustand seines Wesens  freudig oder leidend hinauswill. Es gestikuliert wenig; und nur die Tiere sprechen durch Zeichen, denen vergleichungsweise der lebendige Laut versagt ist. Die  Zunge einiger ist schon gemacht, menschliche Worte  nachsprechen zu können, deren Sinn sie doch nicht  begreifen; die Organisation von außen, insonderheit  unter der Zucht des Menschen, eilt dem innern Vermögen gleichsam zum voraus. Hier aber schloß sich  die Tür, und dem menschenähnlichsten Affen ist die  Rede durch eigne Seitensäcke, die die Natur an seine  Luftröhre hing, gleichsam absichtlich und gewaltsam  versaget [31].

Warum tat dies der Vater der menschlichen Rede?  Warum wollte er das Geschöpf, das alles nachahmt,  gerade dies Kriterium der Menschheit nicht nachahmen lassen und versperrte ihm dazu durch eigne Hindernisse den Weg unerbittlich? Man gehe in Häuser  der Wahnsinnigen und höre ihr Geschwätz; man höre  die Rede mancher Mißgebornen und äußerst Einfältigen, und man wird sich selbst die Ursache sagen. Wie wehe tut uns ihre Sprache und das entweihete Geschenk der menschlichen Rede! und wie entweiheter  würde sie im Munde des lüsternen, groben, tierischen  Affen werden, wenn er menschliche Worte, wie ich  nicht zweifle, mit halber Menschenvernunft nachäffen könnte. Ein abscheuliches Gewebe menschenähnlicher Töne und Affengedanken - nein, die göttliche  Rede sollte dazu nicht erniedrigt werden, und der Affe ward stumm, stummer als andre Tiere, wo ein jedes  bis zum Frosch und zur Eidechse hinunter seinen eignen Schall hat.

Aber den Menschen baute die Natur zur Sprache;  auch zu ihr ist er aufgerichtet und an eine emporstrebende Säule seine Brust gewölbet. Menschen, die  unter die Tiere gerieten, verloren nicht nur die Rede  selbst, sondern zum Teil auch die Fähigkeit zu derselben: ein offenbares Kennzeichen, daß ihre Kehle mißgebildet worden und daß nur im aufrechten Gange  wahre menschliche Sprache stattfindet. Denn obgleich mehrere Tiere menschenähnliche Sprachorgane haben, so ist doch, auch in der Nachahmung, keines derselben des fortgehenden Stroms der Rede aus unsrer erhabnen, freien, menschlichen Brust, aus unserm engern und künstlich verschlossenen Munde fähig. Hingegen der Mensch kann nicht nur alle Schälle und  Töne derselben nachahmen und ist, wie Monboddo  sagt, der Mock-bird unter den Geschöpfen der Erde,  sondern ein Gott hat ihn auch die Kunst gelehrt, Ideen in Töne zu prägen, Gestalten durch Laute zu bezeichnen und die Erde zu beherrschen durch das Wort seines Mundes. Von der Sprache also fängt seine Vernunft und Kultur an; denn nur durch sie beherrschet er auch sich selbst und wird des Nachsinnens und Wählens, dazu er durch seine Organisation nur fähig war,  mächtig. Höhere Geschöpfe mögen und müssen es  sein, deren Vernunft durch das Auge erwacht, weil  ihnen ein gesehenes Merkmal schon genug ist, Ideen  zu bilden und sie unterscheidend zu fixieren; der  Mensch der Erde ist noch ein Zögling des Ohrs, durch welches er die Sprache des Lichts allmählich erst verstehen lernet. Der Unterschied der Dinge maß ihm  durch Beihülfe eines andern erst in die Seele gerufen  werden, da er denn, vielleicht zuerst atmend und keuchend, dann schallend und sangbar seine Gedanken  mitteilen lernte. Ausdrückend ist also der Name der  Morgenländer, mit dem sie die Tiere die Stummen der Erde nennen; nur mit der Organisation zur Rede empfing der Mensch den Atem der Gottheit, den Samen  zur Vernunft und ewigen Vervollkommnung, einen  Nachhall jener schaffenden Stimme zu Beherrschung  der Erde, kurz, die göttliche Ideenkunst, die Mutter  aller Künste.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats