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Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried 

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Fünftes Buch

VI

Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten

Alles ist in der Natur verbunden: ein Zustand strebt zum andern und bereitet ihn vor. Wenn also der  Mensch die Kette der Erdorganisation als ihr höchstes und letztes Glied schloß, so fängt er auch eben dadurch die Kette einer höhern Gattung von Geschöpfen als ihr niedrigstes Glied an; und so ist er wahrscheinlich der Mittelring zwischen zwei ineinandergreifenden Systemen der Schöpfung. Auf der Erde kann er in keine Organisation mehr übergehen, oder er müßte  rückwärts und sich im Kreise umhertaumeln; stillstehen kann er nicht, da keine lebendige Kraft im Reich  der wirksamsten Güte ruhet; also muß ihm eine Stufe  bevorstehn, die so dicht an ihm und doch über ihm so  erhaben ist, als er, mit dem edelsten Vorzuge geschmückt, ans Tier grenzet. Diese Aussicht, die auf  allen Gesetzen der Natur ruhet, gibt uns allein den  Schlüssel seiner wunderbaren Erscheinung, mithin die einzige Philosophie der Menschengeschichte. Denn  nun wird

1. der sonderbare Widerspruch klar, in dem sich  der Mensch zeiget. Als Tier dienet er der Erde und  hangt an ihr als seiner Wohnstätte; als Mensch hat er  den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fodert. Als Tier kann er seine Bedürfnisse befriedigen, und Menschen, die mit ihnen  zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgendeine edlere Anlage verfolgt, findet er  überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das  Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das  Reinste hat selten Bestand und Dauer gewonnen; für  die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser  Schauplatz immer nur eine Übungs- und Prüfungsstätte. Die Geschichte unsers Geschlechts mit ihren  Versuchen, Schicksalen, Unternehmungen und Revolutionen beweiset dies sattsam. Hie und da kam ein  Weiser, ein Guter und streuete Gedanken, Ratschläge  und Taten in die Flut der Zeiten; einige Wellen kreiseten sich umher, aber der Strom riß sie hin und nahm  ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Absichten  sank zu Grunde. Narren herrschten über die Ratschläge der Weisen, und Verschwender erbten die Schätze  des Geistes ihrer sammlenden Eltern. Sowenig das  Leben des Menschen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet ist, sowenig ist die runde, sich immer bewegende Erde eine Werkstätte bleibender Kunstwerke,  ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lustschloß ewiger  Wohnung. Wir kommen und gehen; jeder Augenblick  bringt Tausende her und nimmt Tausende hinweg von der Erde: sie ist eine Herberge für Wandrer, ein Irrstern, auf dem Zugvögel ankommen und Zugvögel  wegeilen. Das Tier lebt sich aus, und wenn es auch  höhern Zwecken zufolge sich den Jahren nach nicht  auslebet, so ist doch sein innerer Zweck erreicht;  seine Geschicklichkeiten sind da, und es ist, was es  sein soll. Der Mensch allein ist im Widerspruch mit  sich und mit der Erde; denn das ausgebildetste Geschöpf unter allen ihren Organisationen ist zugleich  das unausgebildetste in seiner eignen neuen Anlage,  auch wenn er lebenssatt aus der Welt wandert. Die  Ursache ist offenbar die, daß sein Zustand, der letzte  für diese Erde, zugleich der erste für ein andres Dasein ist, gegen den er wie ein Kind in den ersten  Übungen hier erscheinet. Er stellet also zwo Welten  auf einmal dar; und das macht die anscheinende Duplizität seines Wesens.

2. Sofort wird klar, welcher Teil bei den meisten  hienieden der herrschende sein werde. Der größeste  Teil der Menschen ist Tier; zur Humanität hat er bloß  die Fähigkeit auf die Welt gebracht, und sie muß ihm  durch Mühe und Fleiß erst angebildet werden. Wie  wenigen ist es nun auf die rechte Weise angebildet  worden! Und auch bei den Besten, wie fein und zart  ist die ihnen aufgepflanzte göttliche Blume, Lebenslang will das Tier über den Menschen herrschen, und  die meisten lassen es nach Gefallen über sich regieren. Es ziehet also unaufhörlich nieder, wenn der  Geist hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis  will; und da für ein sinnliches Geschöpf die Gegenwart immer lebhafter ist als die Entfernung und das  Sichtbare mächtiger auf dasselbe wirkt als das Unsichtbare, so ist leicht zu erachten, wohin die Waage  der beiden Gewichte überschlagen werde. Wie wenig  reiner Freuden, wie wenig reiner Erkenntnis und Tugend ist der Mensch fähig! Und wenn er ihrer fähig  wäre, wie wenig ist er an sie gewöhnt! Die edelsten  Verbindungen hienieden werden von niedrigen Trieben, wie die Schiffahrt des Lebens von widrigen Winden, gestört, und der Schöpfer, barmherzigstrenge, hat beide Verwirrungen ineinander geordnet, um eine  durch die andere zu zähmen und die Sprosse der Unsterblichkeit mehr durch rauhe Winde als durch  schmeichelnde Weste in uns zu erziehen. Ein vielversuchter Mensch hat viel gelernet; ein träger und müßiger weiß nicht, was in ihm liegt, noch weniger weiß er mit selbstgefühlter Freude, was er kann und vermag  Das Leben ist also ein Kampf, und die Blume der reinen, unsterblichen Humanität eine schwererrungene  Krone. Den Läufern steht das Ziel am Ende; den  Kämpfern um die Tugend wird der Kranz im Tode.

3. Wenn höhere Geschöpfe also auf uns blicken, so mögen sie uns wie wir die Mittelgattungen betrachten, mit denen die Natur aus einem Element ins andre  übergehet. Der Strauß schwingt matt seine Flügel nur  zum Lauf, nicht zum Fluge; sein schwerer Körper  zieht ihn zum Boden. Indessen, auch für ihn und für  jedes Mittelgeschöpf hat die organisierende Mutter  gesorget: auch sie sind in sich vollkommen und scheinen nur unserm Auge unförmlich. So ist's auch mit  der Menschennatur hienieden: ihr Unförmliches fällt  einem Erdengeist schwer auf; ein höherer Geist aber,  der in das Inwendige blickt und schon mehrere Glieder der Kette siehet, die füreinander gemacht sind,  kann uns zwar bemitleiden, aber nicht verachten. Er  siehet, warum Menschen in so vielerlei Zuständen aus der Welt gehen müssen, jung und alt, töricht und  weise, als Greise, die zum zweitenmal Kinder wurden, oder gar als Ungeborne. Wahnsinn und Mißgestalten, alle Stufen der Kultur, alle Verirrungen der  Menschheit umfaßte die allmächtige Güte und hat  Balsam gnug in ihren Schätzen, auch die Wunden, die nur der Tod lindern konnte, zu heilen. Da wahrscheinlich der künftige Zustand so aus dem jetzigen hervorsproßt wie der unsre aus dem Zustande niedrigerer  Organisationen, so ist ohne Zweifel auch das Geschäft desselben näher mit unserm jetzigen Dasein verknüpft, als wir denken. Der höhere Garte blühet nur  durch die Pflanzen, die hier keimten und unter einer  rauhen Hülle die ersten Sprößchen trieben. Ist nun,  wie wir gesehen haben, Geselligkeit, Freundschaft,  wirksame Teilnehmung beinahe der Hauptzweck,  worauf die Humanität in ihrer ganzen Geschichte der  Menschheit angelegt ist, so muß diese schönste Blüte  des menschlichen Lebens notwendig dort zu der erquickenden Gestalt, zu der umschattenden Höhe gelangen, nach der in allen Verbindungen der Erde  unser Herz vergebens dürstet. Unsre Brüder der höhern Stufe lieben uns daher gewiß mehr und reiner,  als wir sie suchen und lieben können; denn sie übersehen unsern Zustand klärer; der Augenblick der Zeit  ist ihnen vorüber, alle Disharmonien sind aufgelöset,  und sie erziehen an uns vielleicht unsichtbar ihres  Glückes Teilnehmer, ihres Geschäfts Brüder. Nur  einen Schritt weiter, und der gedrückte Geist kann  freier atmen, das verwundete Herz ist genesen; sie  sehen den Schritt herannahn und helfen dem Gleitenden mächtig hinüber.

4. Ich kann mir also auch nicht vorstellen, daß, da  wir eine Mittelgattung von zwo Klassen und gewissermaßen die Teilnehmer beider sind, der künftige  Zustand von dem jetzigen so fern und ihm so ganz un- mitteilbar sein sollte, als das Tier im Menschen gern  glauben möchte; vielmehr werden mir in der Geschichte unsres Geschlechts manche Schritte und Erfolge ohne höhere Einwirkung unbegreiflich. Daß  z.B. der Mensch sich selbst auf den Weg der Kultur  gebracht und ohne höhere Anleitung sich Sprache und die erste Wissenschaft erfunden, scheinet mir unerklärlich und immer unerklärlicher, je einen längern  rohen Tierzustand man bei ihm voraussetzt. Eine  göttliche Haushaltung hat gewiß über dem menschlichen Geschlecht von seiner Entstehung an gewaltet  und hat es auf die ihm leichteste Weise zu seiner  Bahn geführet. Je mehr aber die menschliche Kräfte  selbst in Übung waren, desto weniger bedorften sie  teils dieser höhern Beihülfe oder desto minder wurden sie ihrer fähig, obwohl auch in spätern Zeiten die größesten Wirkungen auf der Erde durch unerklärliche  Umstände entstanden sind oder mit ihnen begleitet gewesen. Selbst Krankheiten waren dazu oft Werkzeuge; denn wenn das Organ aus seiner Proportion mit  andern gesetzt und also für den gewöhnlichen Kreis  des Erdelebens unbrauchbar worden ist, so scheint's  natürlich, daß die innere rastlose Kraft sich nach andern Seiten des Weltalls kehre und vielleicht Eindrücke empfange, deren eine ungestörte Organisation  nicht fähig war, deren sie aber auch nicht bedurfte.  Wie dem aber auch sei, so ist's gewiß ein wohltätiger  Schleier, der diese und jene Welt absondert, und nicht ohne Ursach ist's so still und stumm um das Grab  eines Toten. Der gewöhnliche Mensch auf dem Gange seines Lebens wird von Eindrücken entfernt, deren ein einziger den ganzen Kreis seiner Ideen zerrütten und  ihn für diese Welt unbrauchbar machen würde. Kein  nachahmender Affe höherer Wesen sollte der zur Freiheit erschaffene Mensch sein, sondern, auch wo er geleitet wird, im glücklichen Wahn stehen, daß er selbst handle. Zu seiner Beruhigung und zu dem edlen Stolz, auf dem seine Bestimmung liegt, ward ihm der Anblick edlerer Wesen entzogen; denn wahrscheinlich  würden wir uns selbst verachten, wenn wir diese  kennten. Der Mensch also soll in seinen künftigen Zustand nicht hineinschauen, sondern sich hineinglauben.

5. So viel ist gewiß, daß in jeder seiner Kräfte eine  Unendlichkeit liegt, die hier nur nicht entwickelt werden kann, weil sie von andern Kräften, von Sinnen  und Trieben des Tiers unterdrückt wird und zum Verhältnis des Erdelebens gleichsam in Banden lieget.  Einzelne Beispiele des Gedächtnisses, der Einbildungskraft, ja gar der Vorhersagung und Ahnung  haben Wunderdinge entdeckt von dem verborgenen  Schatz, der in menschlichen Seelen ruhet; ja sogar die Sinne sind davon nicht ausgeschlossen Daß meistens  Krankheiten und gegenseitige Mängel diese Schätze  zeigten, ändert in der Natur der Sache nichts, da eben  diese Disproportion erfordert wurde, dem einen Gewicht seine Freiheit zu geben und die Macht desselben zu zeigen. Der Ausdruck Leibniz', daß die Seele  ein Spiegel des Weltalls sei, enthält vielleicht eine  tiefere Wahrheit, als die man aus ihm zu entwickeln  pfleget; denn auch die Kräfte eines Weltalls scheinen  in ihr verborgen, und sie bedarf nur einer Organisation oder einer Reihe von Organisationen, diese in Tätigkeit und Übung setzen zu dürfen. Der Allgütige  wird ihr diese Organisationen nicht versagen, und er  gängelt sie als ein Kind, sie zur Fülle des wachsenden Genusses, im Wahn eigen erworbener Kräfte und  Sinne allmählich zu bereiten. Schon in ihren gegenwärtigen Fesseln sind ihr Raum und Zeit leere Worte:  sie messen und bezeichnen Verhältnisse des Körpers,  nicht aber ihres innern Vermögens, das über Raum  und Zeit hinaus ist, wenn es in seiner vollen innigen  Freude wirket. Um Ort und Stunde deines künftigen  Daseins gib dir also keine Mühe; die Sonne, die deinem Tage leuchtet, misset dir deine Wohnung und  dein Erdengeschäft und verdunkelt dir so lange alle  himmlischen Sterne. Sobald sie untergeht, erscheint  die Welt in ihrer größern Gestalt; die heilige Nacht, in der du einst eingewickelt lagest und einst eingewickelt liegen wirst, bedeckt deine Erde mit Schatten und  schlägt dir dafür am Himmel die glänzenden Bücher  der Unsterblichkeit auf. Da sind Wohnungen, Welten  und Räume -

In voller Jugend glänzen sie, 
Da schon Jahrtausende vergangen: 
Der Zeiten Wechsel raubet nie 
Das Licht von ihren Wangen.

Hier aber unter unserm Blick 
Verfällt, vergeht, verschwindet alles: 
Der Erde Pracht, der Erde Glück 
Droht eine Zeit des Falles.

Sie selbst wird nicht mehr sein, wenn du noch sein  wirst und in andern Wohnplätzen und Organisationen Gott und seine Schöpfung genießest. Du hast auf ihr  viel Gutes genossen. Du gelangtest auf ihr zu der Organisation, in der du als ein Sohn des Himmels um  dich her und über dich schauen lerntest. Suche sie  also vergnügt zu verlassen und segne ihr als der Aue  nach, wo du als ein Kind der Unsterblichkeit spieltest, und als der Schule nach, wo du durch Leid und Freu- de zum Mannesalter erzogen wurdest. Du hast weiter  kein Anrecht an sie, sie hat kein Anrecht an dich; mit  dem Hut der Freiheit gekrönt und mit dem Gurt des  Himmels gegürtet, setze fröhlich deinen Wanderstab  weiter.

Wie also die Blume dastand und in aufgerichteter  Gestalt das Reich der unterirdischen, noch unbelebten Schöpfung schloß, um sich im Gebiet der Sonne des  ersten Lebens zu freuen, so stehet über allen zur Erde  Gebückten der Mensch wieder aufrecht da. Mit  erhabnem Blick und aufgehobnen Händen stehet er  da, als ein Sohn des Hauses den Ruf seines Vaters erwartend.

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