Spielgemeinschaft ODYSSEE - Inhaltsübersicht
http://goethe.odysseetheater.com 

Johann Gottfried Herder

Johann Gottfried

Herder

aus

Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit

Sechstes Buch

VI

Organisation der Amerikaner

Es ist bekannt, daß Amerika durch alle Himmelsstriche läuft und nicht nur Wärme und Kälte in den  höchsten Graden, sondern auch die schnellesten Abwechselungen der Witterung, die höchsten und steilsten Höhen mit den weitesten und flachsten Ebnen  verbindet. Es ist ferner bekannt, daß, da dieser langgestreckte Weltteil bei großen Buchten zur rechten  Seite eine Kette von Gebirgen hat, die von Süden  nach Norden streicht, daher das Klima desselben so  wie seine lebendigen Produkte mit der Alten Welt  wenig Ähnliches haben. Alles dies macht uns auch  auf die Menschengattung daselbst als auf die Geburt  eines entgegengesetzten Hemisphärs aufmerksam.

Auf der andern Seite aber gibt es eben auch die  Lage von Amerika, daß dieser ungeheure, von der andern Welt so weit getrennete Erdstrich nicht eben von  vielen Seiten her bevölkert sein kann. Von Afrika,  Europa und dem südlichen Asien scheiden ihn weite  Meere und Winde; nur ein Übergang aus der Alten  Welt ist ihm nahe geworden an seiner nordwestlichen  Seite. Die vorige Erwartung einer großen Vielförmigkeit wird also hiedurch gewissermaßen vermindert;  denn wenn die ersten und meisten Einwohner aus  einer und der selben Gegend kamen und sich, vielleicht nur mit wenigen Vermischungen andrer Ankömmlinge allmählich herunterzogen und endlich das  ganze Land füllten, so wird trotz aller Klimate die  Bildung und der Charakter der Einwohner eine Einförmigkeit zeigen, die nur wenig Ausnahmen leidet.  Und dies ist's, was so viele Nachrichten von Nord- und Südamerika sagen, daß nämlich ohngeachtet der  großen Verschiedenheit der Himmelsstriche und Völker, die sich oft auch durch gewaltsame Kunst voneinander zu trennen suchten, auf der Bildung des Menschengeschlechts im ganzen ein Gepräge der Einförmigkeit liege, die selbst nicht im Negerlande stattfindet. Die Organisation der Amerikaner ist also gewissermaßen eine reinere Aufgabe als die Bildung irgendeines andern gemischteren Erdstrichs, und die  Auflösung des Problems kann nirgend als von der  Seite des wahrscheinlichen Überganges selbst anfangen.

Die Nationen, an die Cook in Amerika streifte [80],  waren von der mittlern Größe bis zu sechs Fuß. Ihre  Farbe geht ins Kupferrote, die Form ihres Gesichts  ins Viereckte mit ziemlich vorragenden Backenbeinen und wenig Bart. Das Haar ist lang und schwarz; der  Bau der Glieder stark und nur die Füße unförmlich.  Wer nun die Nationen im östlichen Asien und auf den nahe gelegnen Inseln innehat, der wird Zug für Zug  den allmählichen Übergang bemerken. Ich schließe  diesen nicht auf eine Nation ein; denn wahrscheinlich  gingen mehrere, auch von verschiednen Stämmen,  hinüber; nur östliche Völker waren's, wie ihre Bildung, selbst ihre Unförmlichkeit, am meisten aber ihr  Putz und ihre willkürlichen Sitten beweisen. Werden  wir einst die ganze nordwestliche Küste von Amerika, die wir jetzt nur in ein paar Anfurten kennen, übersehen und von den Einwohnern daselbst so treue Gemälde haben, als Cook z. B. uns vom Anführer in Unalaska u. f. gegeben, so wird sich mehreres erklären.  Es wird sieh ergeben, ob tiefer hinab auf der großen  Küste, die wir noch nicht kennen, auch Japaner und  Sinesen übergegangen und was es mit dem Märchen  von einer gesitteten bärtigen Nation auf dieser Westseite für Bewandtnis habe. Freilich wären die Spanier  von Mexiko aus die nächsten zu diesen schätzbaren  Entdeckungen, wenn sie mit den zwei größesten Seenationen Europas, den Engländern und Franzosen,  den rühmlichen Eroberungsgeist für die Wissenschaften teilten. Möge indes wenigstens Laxmanns Reise  auf die nördliche Küste und die Bemühungen der  Engländer von Kanada aus uns viel Neues und Gutes  lehren.

Es ist sonderbar, daß sich so viele Nachrichten  damit tragen, wie die westlichsten Nationen in Nordamerika zugleich die gesittetsten sein sollen. Die Assinipuelen hat man wegen ihrer großen starken, behenden Gestalt und die Christinohs wegen ihrer gesprächigen Munterkeit gerühmet. [81] Wir kennen indes diese Nationen und überhaupt alle Savanner nur als  Märchen; von den Nadowessiern an geht eigentlich  die gewissere Nachricht. Mit ihnen so wie mit den  Tschiwipäern und Winobagiern hat uns Carver [82], mit den Tscherakis, Tschikasahs und Muskogen Adair [83],  mit den sogenannten fünf Nationen Colden, Rogers,  Timberlake, mit denen nach Norden hinauf die französischen Missionare bekannt gemacht, und, bei allen Verschiedenheiten derselben, wem ist nicht ein Eindruck geblieben von einer herrschenden Bildung, wie  von einem Hauptcharakter? Dieser bestehet nämlich  in der gesunden und gehaltnen Stärke, in dem barbarisch-stolzen Freiheit- und Kriegsmut, der ihre Lebensart und ihr Hauswesen, ihre Erziehung und Regierung, ihre Geschäfte und Gebräuche zu Kriegs- und Friedenszeiten bildet. In Lastern und Tugenden  ein einziger Charakter auf unsrer runden Erde! Und wie kamen sie zu diesem Charakter? Mich  dünkt, auch hier erklärt ihr allmählicher Übergang aus Nordasien und die Beschaffenheit dieser neuen Weltgegend sehr vieles. Als rohe und harte Nationen  kamen sie herüber; zwischen Stürmen und Gebirgen  waren sie gebildet; als sie nun die Küste überstanden  hatten und das große, freie, schönere Land vor sich  fanden, mußte sich nicht auch ihr Charakter mit der  Zeit zu diesem Lande bilden? Zwischen großen Seen  und Strömen, in diesen Wäldern, auf diesen Wiesen  formten sich andre Nationen als dort auf jenem rauhen und kalten Abhange zum Meer. Wie Seen, Gebirge  und Ströme sich teilten, teilten sich die Völkerschaften: Stämme mit Stämmen gerieten in heftige Kriege,  daher auch bei denen sonst gleichmütigsten Nationen  jener Kriegshaß der Völker untereinander ein herrschender Zug wurde. Zu kriegerischen Stämmen bildeten sie sich also und verleibten sich allen Gegenständen des Landes ein, das ihnen ihr großer Geist  gegeben. Sie haben die Schamanenreligion der Nordasiaten, aber auf amerikanische Weise. Ihre gesunde  Luft, das Grün ihrer Wiesen und Wälder, das erquickende Wasser ihrer Seen und Ströme begeisterte  sie mit dem Hauch der Freiheit und des Eigentums in  diesem Lande. Von welchem Haufen elender Russen  haben sich alle siberische Nationen bis nach Kamtschatka hin unterjochen lassen! Diese festere Barbaren wichen zwar, aber sie dieneten nie.

Wie ihr Charakter, so lässet sich auch ihr sonderbarer Geschmack an der Verkünstelung ihres Körpers aus diesem Ursprunge erklären. Alle Nationen in  Amerika vertilgen den Bart; sie müssen also  ursprünglich aus Gegenden sein, die wenig Bart zeugten, daher sie von der Sitte ihrer Väter nicht abweichen wollten. Der östliche Teil von Asien ist diese  Gegend. Auch in einem Klima also, das reichern Saft  zu ihm hervortreiben mochte, hasseten sie denselben  und hassen ihn noch, daher sie ihn von Kindheit auf  ausraufen. Die Völker des asiatischen Nordens hatten  runde Köpfe, und östlicher ging die Form ins Viereckte über; was war natürlicher, als daß sie auch von  dieser Väterbildung nicht ablassen wollten und also  ihr Gesicht formten? Wahrscheinlich fürchteten sie  das sanftere Oval als eine weibische Bildung; sie blieben also auch durch gewaltsame Kunst beim zusammengedrückten Kriegsgesicht ihrer Väter. Die nordischen Kugelköpfe formten es rund, wie die Bildung  des höheren Nordens war; andre formten es viereckt  oder drückten den Kopf zwischen die Schultern, damit das neue Klima weder ihre Länge noch Gestalt verändern möchte. Kein andrer Erdstrich als das östliche  Asien zeigt Proben solcher gewaltsamen Verzierungen, und wie wir sahen, wahrscheinlich auch in der  nämlichen Absieht, das Ansehen des Stammes in fernen Gegenden zu erhalten; selbst dieser Geist der  Verzierung ging also vielleicht schon mit hinüber. Endlich kann uns am wenigsten die kupferrote  Farbe der Amerikaner irren; denn die Farbe der Geschlechter fiel schon im östlichen Asien ins  Braunrote, und wahrscheinlich war's die Luft eines  andern Weltteils, die Salben und andre Dinge, die hier die Farbe erhöhten. Ich wundre mich so wenig, daß  der Neger schwarz und der Amerikaner rot ist, da sie,  als so verschiedne Geschlechter, in so verschiednen  Himmelsstrichen jahrtausendelang gewohnt haben,  daß ich mich vielmehr wundern würde, wenn auf einer runden Erde alles schneeweiß oder braun wäre. Sehen wir nicht bei der gröbern Organisation der Tiere sieh  in verschiednen Gegenden der Welt sogar feste Teile  verändern? Und was hat mehr zu sagen, eine Veränderung der Glieder des Körpers in ihrer ganzen Proportion und Haltung oder ein etwas mehr und anders  gefärbtes Netz unter der Haut?

Lasset uns nach dieser Voreinleitung die Völker  Amerikas hinunter begleiten und sehen, wie sieh die  Einförmigkeit ihres ursprünglichen Charakters ins  Mannigfaltige mischt und doch nie verlieret.

Die nördlichsten Amerikaner werden als klein und  stark beschrieben; in der Mitte des Landes wohnen  die größesten und schönsten Stämme; die untersten  im flachen Florida müssen jenen schon an Stärke und  Mut weichen. »Auffallend ist es«, sagt Georg Forster [84], »daß bei aller charakteristischen Verschiedenheit  der mancherlei Nordamerikaner, die im Cookschen  Werk abgebildet sind, doch im ganzen ein  allgemeiner Charakter im Gesicht herrschet, der mir  bekannt war und den ich, wie ich mich recht erinnerte, auch wirklich im Pescheräh im Feuerlande gesehen  hatte.«

Von Neumexiko wissen wir wenig. Die Spanier  fanden die Einwohner dieses Landes wohlgekleidet,  fleißig, sauber, ihre Ländereien gut bearbeitet, ihre  Städte von Stein gebauet. Arme Nationen, was seid  ihr jetzt, wenn ihr euch nicht, wie die los bravos gentes, auf die Gebirge gerettet habet? Die Apalachen  bewiesen sich als ein kühnes schnelles Volk, dem die  Spanier nichts anhaben konnten. Und wie vorzüglich  spricht Pagès [85] von den Chaktas, Adaisses und  Tegas!

Mexiko ist jetzt ein trauriges Bild von dem, was es  unter seinen Königen war; kaum der zehnte Teil seiner Einwohner ist übrig. [86] Und wie ist ihr Charakter  durch die ungerechteste der Unterdrückungen verändert! Auf der ganzen Erde, glaube ich, gibt's keinen  tiefern, gehaltnern Haß, als den der leidende Amerika- ner gegen seinen Unterdrücker, den Spanier, nähret;  denn so sehr Pagès z. E. [87] die mehrere Milde rühmt,  die jetzt die Spanier gegen ihre Unterdrückten beweisen, so kann er doch auf andern Blättern die Traurigkeit der Unterjochten und die Wildheit, mit der die  freien Völker verfolgt werden, nicht verbergen. Die  Bildung der Mexikaner wird stark olivenfarb, schön  und angenehm beschrieben; ihr Auge ist groß, lebhaft, funkelnd; ihre Sinne frisch, ihre Beine munter; nur  ihre Seele ist ermattet durch Knechtschaft. In der Mitte von Amerika, wo von nasser Hitze  alles erliegt und die Europäer das elendeste Leben  führen, erlag doch die biegsame Natur der Amerika- ner nicht. Waffer [88], der, den Seeräubern entflohen,  sich eine Zeitlang unter den Wilden in Terra firma  aufhielt, beschreibt seine gute Aufnahme unter ihnen  nebst ihrer Gestalt und Lebensweise also: »Die Größe der Männer war 5 bis 6 Fuß, von starken Knochen,  breiter Brust, schönem Verhältnis; kein Krüppel und  Unförmlicher war unter ihnen. Sie sind geschmeidig,  lebhaft und schnelle Läufer. Ihre Augen lebhaftgrau,  ihr Gesicht rund, die Lippen dünn, der Mund klein,  das Kinn wohlgebildet. Ihr Haar ist lang und schwarz; das Kämmen desselben ist ihr öfteres Vergnügen. Ihre Zähne sind weiß und wohlgesetzt: sie schmücken und  malen sich wie die meisten Indianer.« - Sind das die  Leute, die man uns als ein entnervtes, unreifes Gewächs der Menschheit hat vorstellen wollen? Und  diese wohnten in der entnervendsten Gegend des Isthmus.

Fermin, ein treuer Naturforscher, beschreibt die Indier in Surinam als wohlgebildete und so reinliche  Menschen, als es irgend auf Erden gebe. [89] »Sie  baden sich, sobald sie aufstehn, und ihre Weiber  reiben sich mit Öl teils zur Erhaltung der Haut, teils  gegen den Stich der Moskitos. Sie sind von einer  Zimmetfarbe, welche ins Rötliche fällt, werden aber  so weiß als wir geboren. Kein Hinkender oder Verwachsner ist unter ihnen. Ihre langen pechschwarzen  Haare werden erst im höchsten Alter weiß. Sie haben  schwarze Augen, ein scharfes Gesicht, wenig oder  keinen Bart, dessen geringstem Merkmal sie durch  Ausreißen zuvorkommen. Ihre weißen schönen Zähne bleiben bis ins höchste Alter gesund, und auch ihre  Weiber, so zärtlich sie zu sein scheinen, sind von  starker Gesundheit.« Man lese Bankrofts Beschreibung [90] von den tapfern Caribben, den trägen Worrows, den ernsthaften Accawaws, den geselligen Arrowauks u. f., mich dünkt, so wird man die Vorurteile  von der schwachen Gestalt und dem nichtswürdigen  Charakter dieser Indianer selbst in der heißesten  Weltgegend aufgeben.

Gehen wir südlich in die ungezählten Völkerschaften Brasiliens hinunter, welche Menge von Nationen,  Sprachen und Charakteren findet man hier! die indes  alte und neue Reisende ziemlich gleichartig beschrieben haben. [91] »Nie grauet ihr Haar«, sagt Lery, »sie  sind stets munter und lustig, wie ihre Gefilde immer  grünen.« Die tapfern Tapinambos zogen sich, um dem Joch der Portugiesen zu entkommen, in die undurchsuchten und unabsehlichen Wälder wie mehrere  streitbare Nationen. Andre, die die Missionen in Paraguay an sich zu ziehen wußten, mußten mit ihrem  folgsamen Charakter fast bis zu Kindern ausarten;  auch dieses aber war Natur der Sache, und weder sie  noch ihre mutige Nachbarn können deswegen für keinen Abschaum der Menschheit gelten. [92]

Aber wir nähern uns dem Thron der Natur und der  ärgsten Tyrannei, dem silber- und greuelreichen Peru. Hier sind die armen Indianer wohl aufs tiefste unterdrückt, und wer sie unterdrückt, sind Pfaffen und  unter den Weibern weibisch gewordne Europäer. Alle Kräfte dieser zarten, einst so glücklichen Kinder der  Natur, als sie unter ihren Inkas lebten, sind jetzt in  das einige Vermögen zusammengedrängt, mit verhaltnem Haß zu leiden und zu dulden. »Beim ersten Anblick«, sagt der Gouverneur in Brasilien, Pinto [93],  »scheint ein Südamerikaner sanftmütig und harmlos;  betrachtet man ihn genauer, so entdeckt man in seinem Gesicht etwas Wildes, Argwöhnisches, Düsteres, Verdrüßliches.« Ob sich nicht alles dieses aus dem  Schicksal des Volks erklären ließe? Sanftmütig und  harmlos waren sie, da ihr zu ihnen kamet und das ungebildete Wilde in den gutartigen Geschöpfen zu  dem, was in ihm lag, hättet veredeln sollen. Jetzt,  könnet ihr etwas anders erwarten, als daß sie, argwöhnisch und düster, den tiefsten Verdruß unauslöschlich in ihrem Herzen nähren? Er ist der in sich  gekrümmte Wurm, der uns häßlich vorkommt, weil  wir ihn mit unserm Fuß zertreten. In Peru ist der Negersklave ein herrliches Geschöpf gegen den unterdrückten Armen, dem das Land zugehöret.

Doch nicht allenthalben ist's ihnen entrissen, und  glücklicherweise sind die Cordilleras und die Wüsten  in Chili da, die so viel tapfern Nationen noch Freiheit  geben. Da sind z. E. die unüberwundnen Malochen,  die Puelchen und Arauker und die patagonischen Tehuelhets oder das große, südliche Volk, sechs Fuß  hoch, groß und stark. »Ihre Gestalt ist nicht unangenehm; sie haben ein rundes, etwas flaches Gesicht,  lebhafte Augen, weiße Zähne und ein langes schwarzes Haar. Ich sah einige«, sagt Commerson [94], »mit  einem nicht sehr dichten, aber langhaarigen Knebelbart; ihre Haut ist erzfärbig, wie bei den meisten  Amerikanern. Sie irren in den weiten Ebnen des südlichen Amerika herum, mit Weib und Kindern beständig zu Pferde, und folgen dem Wildpret.« Falkner und Vidaure [95] haben uns von ihnen die beste Nachricht  gegeben, und hinter ihnen ist nichts übrig als der arme kalte Rand der Erde, das Feuerland, und in ihm die  Pescherähs, vielleicht die niedrigste Gattung der Menschen. [96] Klein und häßlich und von unerträglichem  Geruch; sie nähren sich mit Muscheln, kleiden sich in  Seehundsfelle, frieren jahrüber im entsetzlichsten  Winter, und ob sie gleich Wälder genug haben, so  mangelt's ihnen doch sowohl an dichten Häusern als  an wärmendem Feuer. Gut, daß die schonende Natur  gegen den Südpol die Erde hier schon aufhören ließ;  tiefer hinab, welche armselige Bilder der Menschheit  hätten ihr Leben im gefühlraubenden Frost dahingeträumet!

Dies wären also einige Hauptzüge von Völkern aus Amerika; und was folgte aus ihnen fürs Ganze? Zuerst, daß man so selten als möglich von Nationen eines Weltteils, das sich durch alle Zonen erstrecket, ins Allgemeine hin reden sollte. Wer da sagt: Amerika sei warm, gesund, naß, niedrig, fruchtbar,  der hat recht; und ein andrer, der das Gegenteil sagt,  hat auch recht, nämlich für andre Jahrszeiten und  Örter. Ein gleiches ist's mit den Nationen; denn es  sind Menschen eines ganzen Hemisphärs in allen  Zonen. Oben und unten sind Zwerge, und nahe bei  den Zwergen Riesen; in der Mitte wohnen mittelmäßige, wohl- und minder wohlgebildete Völker, sanft  und kriegerisch, träge und munter, von allerlei Lebensarten und von allen Charakteren.

Zweitens. Indessen hindert nichts, daß dieser vielästige Menschenstamm mit allen seinen Zweigen nicht  aus einer Wurzel entstanden sein könne, folglich auch Einartigkeit in seinen Früchten zeige. Und dies ist's,  was man mit der herrschenden Gesichtsbildung und  Gestalt der Amerikaner sagen wollte. [97] Ulloa bemerkt in der mittlern Gegend besonders die kleine mit Haaren bewachsne Stirn, kleine Augen, eine dünne,  nach der Oberlippe gekrümmte Nase, ein breites Gesicht, große Ohren, wohlgemachte Schenkel, kleine  Füße, eine untersetzte Gestalt; und diese Züge gehen  über Mexiko hinüber. Pinto setzt hinzu, daß die Nase  etwas flach, das Gesicht rund, die Augen schwarz  oder kastanienbraun, klein aber scharf und die Ohren  vom Gesicht sehr entfernt sein, [98] welches sich ebenfalls in Abbildungen sehr entlegner Völker zeiget.  Diese Hauptphysiognomie, die sich nach Zonen und  Völkern im Feinern verändert, scheint wie ein Familienzug auch in den verschiedensten noch kennbar und  weiset allerdings auf einen ziemlich einförmigen Ursprung. Wären Völker aus allen Weltteilen zu sehr  verschiednen Zeiten nach Amerika gekommen, mochten sie sich vermischen oder unvermischt bleiben, so  hätte die Diversität der Menschengattung allerdings  größer sein müssen. Blaue Augen und blonde Haare  findet man im ganzen Weltteil nicht; die blauäugigen  Cesaren in Chili und die Akansas in Florida sind in  der neuern Zeit verschwunden.

Drittens. Soll man nach dieser Gestalt einen gewissen Haupt- und mittlern Charakter der Amerikaner  angeben, so scheint's Gutherzigkeit und kindliche Unschuld zu sein, die auch ihre alte Einrichtungen, ihre  Geschicklichkeiten und wenigen Künste, am meisten  ihr erstes Betragen gegen die Europäer beweisen. Aus einem barbarischen Lande entsprossen und ununterstützt von irgendeiner Beihülfe der kultivierten Welt,  gingen sie selbst, so weit sie kamen, und liefern auch  hier in ihren schwachen Anfängen der Kultur ein sehr  lehrreiches Gemälde der Menschheit.

 

<zurück | Inhalt | weiter>

zurück zum Anfang

Diese Seite als PDF drucken
Wolfgang Peter, Ketzergasse 261/3, A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9 414 616 
www.odysseetheater.com             Impressum             Email: wolfgang@odysseetheater.com

Free counter and web stats