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Johann Gottfried
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IDie Sinnlichkeit unsres Geschlechts verändert sich mit Bildungen und Klimaten; überall aber ist ein menschlicher Gebrauch der Sinne das, was zur Humanität führetAlle Nationen, die kranken Albinos etwa ausgenommen, haben ihre fünf oder sechs menschliche Sinne; die Unfühlbaren des Diodorus oder die taub- und stummen Völker sind in der neuern Menschengeschichte eine Fabel. Indes, wer auf die Verschiedenheit der äußern Empfindungen auch nur unter uns acht hat und sodenn an die zahllose Menge denkt, die in allen Klimaten der Erde lebet, der wird sich hiebei wie vor einem Weltmeer finden, auf dem sich Wogen in Wogen verlieren. Jeder Mensch hat ein eignes Maß, gleichsam eine eigne Stimmung aller sinnlichen Gefühle zueinander, so daß bei außerordentlichen Fällen oft die wunderbarsten Äußerungen zum Vorschein kommen, wie einem Menschen bei dieser oder bei jener Sache sei. Ärzte und Philosophen haben daher schon ganze Sammlungen von eigentümlich sonderbaren Empfindungen, d. i. Idiosynkrasien, gegeben, die oft so seltsam als unerklärlich sind. Meistens merken wir auf solche nur in Krankheiten und ungewöhnlichen Zufällen; im täglichen Leben bemerken wir sie nicht. Die Sprache hat auch keinen Ausdruck für sie, weil jeder Mensch doch nur nach seiner Empfindung spricht und verstehet, verschiednen Organisationen also ein gemeinschaftliches Maß ihrer verschiednen Gefühle fehlet. Selbst bei dem klärsten Sinn, dem Gesicht, äußern sich diese Verschiedenheiten nicht nur in der Nähe und Ferne, sondern auch in der Gestalt und Farbe der Dinge; daher manche Maler mit ihren so eigentümlichen Umrissen und fast jeder derselben in seinem Ton der Farben malet. Zur Philosophie der Menschengeschichte gehöret's nicht, diesen Ozean auszuschöpfen, sondern durch einige auffallende Verschiedenheiten auf die feinern aufmerksam zu machen, die um uns liegen. Der allgemeinste und notwendigste Sinn ist das Gefühl: er ist die Grundlage der andern und bei dem Menschen einer seiner größesten organischen Vorzüge. [135] Er hat uns Bequemlichkeit, Erfindungen und Künste geschenkt und trägt zur Beschaffenheit unserer Ideen vielleicht mehr bei, als wir vermuten. Aber wie sehr ist dies Organ auch unter den Menschen verschieden, nachdem es die Lebensart, das Klima, die Anwendung und Übung, endlich die genetische Reizbarkeit des Körpers selbst modifizieret. Einigen amerikanischen Völkern z. B. wird eine Unreizbarkeit der Haut zugeschrieben, die sich sogar bei Weibern und in den schmerzhaftesten Operationen merkbar machen soll [136]; wenn das Faktum wahr ist, dünkt mich's sehr erklärlich, sowohl aus Veranlassungen des Körpers als der Seele. Seit Jahrhunderten nämlich boten viele Nationen dieses Weltteils ihren nackten Leib der scharfen Luft und den scharfstechenden Insekten dar und salbten ihn gegen diese zum Teil mit scharfen Salben; auch das Haar nahmen sie sich, das die Weiche der Haut mit befördert. Ein schärferes Mehl, laugenhafte Wurzeln und Kräuter waren ihre Speise, und es ist bekannt, in welcher genauen Übereinstimmung die verdauenden Werkzeuge mit der fühlenden Haut stehen; daher in manchen Krankheiten dieser Sinn völlig schwindet. Selbst ihr unmäßiger Genuß der Speisen, nach dem sie ebensowohl den entsetzlichsten Hunger ertragen, scheint von dieser Unempfindlichkeit zu zeugen, die auch ein Symptom vieler ihrer Krankheiten ist [137] und also zum Wohl und Weh ihres Klima gehöret. Die Natur hat sie mit derselben allmählich gegen Übel gewappnet, die sie mit einer größern Empfindlichkeit nicht ertragen könnten, und ihre Kunst ging der Natur nach. Qualen und Schmerzen leidet der Nordamerikaner mit einer heroischen Unfühlbarkeit aus Grundsätzen der Ehre; er ist von Jugend auf dazu gebildet worden, und die Weiber geben den Männern hierin nichts nach. Stoische Apathie also auch in körperlichen Schmerzen ward ihnen zur Naturgewohnheit, und ihr minderer Reiz zur Wohllust, bei übrigens muntern Naturkräften, selbst jene entschlafne Fühllosigkeit, die manche unterjochte Nationen wie in einen wachenden Traum versenkte, scheinen aus dieser Ursache zu folgen. Unmenschen also sind's, die einen Mangel, den die Natur ihren Kindern zum lindernden Trost gab, aus noch größerem Mangel menschlicher Empfindungen teils mißbrauchten, teils schmerzhaft erprobten. Daß ein Übermaß an Hitze und Kälte das äußere Gefühl versenge oder stumpfe, ist aus Erfahrungen bewiesen. Völker, die auf dem Sande mit bloßen Füßen gehen, bekommen eine Sohle, die das Beschlagen des Eisens erträgt, und man hat Beispiele, daß einige zwanzig Minuten auf glühenden Kohlen aushielten. Ätzende Gifte konnten die Haut verwandeln, daß man die Hand in geschmolznes Blei eintauchen lernte, und die starrende Kälte sowie der Zorn und andre Gemütsbewegungen tragen auch zur Abstumpfung des Gefühls bei. [138] Die zarteste Empfindlichkeit dagegen scheint in Erdstrichen und bei einer Lebensweise zu sein, die die sanfteste Spannung der Haut und eine gleichsam melodische Ausbreitung der Nerven des Gefühls fördert. Der Ostindier ist vielleicht das feinste Geschöpf im Genuß sinnlicher Organe. Seine Zunge, die nie mit dem Geschmack gegorner Getränke oder scharfer Speisen entnervt worden, schmeckt den geringsten Nebengeschmack des reinen Wassers, und sein Finger arbeitet nachahmend die niedlichsten Werke, bei denen man das Vorbild vom Nachbilde nicht zu unterscheiden weiß. Heiter und ruhig ist seine Seele, ein zarter Nachklang der Gefühle, die ihn ringsum nur sanft bewegen. So spielen die Wellen um den Schwan; so säuseln die Lüfte um das durchsichtige junge Laub des Frühlings. - Außer dem warmen und sanften Himmelsstrich trägt nichts so sehr zu diesem erhöheten Gefühl bei als Reinheit, Mäßigkeit und Bewegung: drei Tugenden des Lebens, in denen viele Nationen, die wir un- gesittet nennen, uns übertreffen und die insonderheit den Völkern schöner Erdstriche eigen zu sein scheinen. Die Reinigkeit des Mundes, das öftere Baden, Liebe zur Bewegung in freier Luft, selbst das gesunde und wohllüstige Reiben und Dehnen des Körpers, das den Römern so bekannt war, als es unter Indiern, Persern und manchen Tataren weit umher noch gewöhnlich ist, befördert den Umlauf der Säfte und erhält den elastischen Ton der Glieder. Die Völker der reichsten Erdstriche leben mäßig; sie haben keinen Begriff, daß ein widernatürliches Reizen der Nerven und eine tägliche Verschlemmung der Säfte das Vergnügen sein könne, dazu ein Mensch erschaffen worden; die Stämme der Brahminen haben in Ihren Vätern von Anfange der Welt her weder Fleisch noch Wein gekostet. Da es nun bei Tieren sichtbar ist, was diese Lebensmittel aufs ganze Empfindungssystem für Macht haben wieviel stärker muß diese Macht bei der feinsten Blume aller Organisationen, der Menschheit, wirken. Mäßigkeit des sinnlichen Genusses ist ohne Zweifel eine kräftigere Methode zur Philosophie der Humanität als tausend gelernte künstliche Abstraktionen. Alle grobfühlenden Völker in einem wilden Zustande oder harten Klima leben gefräßig, weil sie nachher oft hungern müssen; sie essen auch meistens, was ihnen vorkommt. Völker von feinerem Sinn lieben auch feinere Vergnügen. Ihre Mahlzeiten sind einfach, und sie genießen täglich dieselben Speisen; dafür aber wählen sie wohllüstige Salben, feine Gerüche, Pracht, Bequemlichkeit, und vor allem ist ihre Blume des Vergnügens die sinnliche Liebe. Wenn bloß von Feinheit des Organs die Rede sein soll, so ist kein Zweifel, wohin sich der Vorzug neige; denn kein gesitteter Europäer wird zwischen dem Fett- und Tranmahle des Grönländers und den Spezereien des Indiers wählen. Indessen wäre die Frage, wem wir, trotz unsrer Kultur in Worten, dem größesten Teil nach näher sein möchten, ob jenem oder diesem? Der Indier setzt seine Glückseligkeit in leidenschaftlose Ruhe, in einen unzerstörbaren Genuß der Heiterkeit und Freude; er atmet Wohllust; er schwimmt in einem Meer süßer Träume und erquickender Gerüche; unsere Üppigkeit hingegen, um deren willen wir alle Weltteile beunruhigen und berauben, was will, was suchet sie? Neue und scharfe Gewürze für eine gestumpfte Zunge, fremde Früchte und Speisen, die wir in einem überfüllenden Gemisch oft nicht einmal kosten, berauschende Getränke, die uns Ruhe und Geist rauben; was nur erdacht werden kann, unsre Natur aufregend zu zerstören, ist das tägliche große Ziel unsres Lebens. Dadurch unterscheiden sich Stände; dadurch beglücken sich Nationen. - Beglücken? Weshalb hungert der Arme und muß bei stumpfen Sinnen in Mühe und Schweiß das elendeste Leben führen? Damit seine Großen und Reichen ohne Geschmack und vielleicht zu ewiger Nahrung ihrer Brutalität täglich auf feinere Art ihre Sinne stumpfen. »Der Europäer ißt alles«, sagt der Indier, und sein feinerer Geruch hat schon vor den Ausdünstungen desselben einen Abscheu. Er kann ihn nach seinen Begriffen nicht anders als in die verworfne Kaste klassifizieren, der, zur tiefsten Verachtung, alles zu essen erlaubt ward. Auch in vielen Ländern der Mahomedaner heißen die Europäer, und nicht bloß aus Religionshaß, unreine Tiere. Schwerlich hat uns die Natur die Zunge gegeben, daß einige Wärzchen auf ihr das Ziel unsres mühseligen Lebens oder gar des Jammers andrer Unglücklichen würden. Sie überkleidete sie mit einem Gefühl des Wohlgeschmacks, teils damit sie uns die Pflicht, den wütenden Hunger zu stillen, versüßte und uns mit gefälligern Banden zur beschwerlichen Arbeit zöge, teils aber auch sollte das Gefühl dieses Organs der prüfende Wächter unsrer Gesundheit werden, und den haben an ihm alle üppige Nationen längst verloren. Das Vieh kennet, was ihm gesund ist, und wählt mit scheuer Vorsicht seine Kräuter: das Giftige und Schädliche berühret es nicht und täuscht sich selten. Menschen, die unter den Tieren lebten, konnten die Nahrungsmittel wie sie unterscheiden; sie verloren dies Kriterium unter den Menschen, wie jene Indier ihren reinern Geruch verloren, da sie ihre einfachen Speisen aufgaben. Völker, die in gesunder Freiheit leben, haben noch viel von diesem sinnlichen Führer. Nie oder selten irren sie sich an Früchten ihres Landes; ja durch den Geruch spürt der Nordamerikaner sogar seine Feinde aus, und der Antille unterscheidet durch ihn die Fußtritte verschiedner Nationen. So können selbst die sinnlichsten, tierartigen Kräfte des Menschen wachsen, nachdem sie gebauet und geübt werden; der beste Anbau derselben indessen ist Proportion ihrer aller zu einer wahrhaft menschlichen Lebensweise, daß keine herrsche und sich keine verliere. Dies Verhältnis ändert sich mit jedem Lande und Klima. Der Anwohner heißer Gegenden ißt mit wildem Geschmack für uns höchst ekelhafte Speisen; denn seine Natur fordert sie als Arzneien, als rettende Wohltat. [139] Gesicht und Gehör endlich sind die edelsten Sinne, zu denen der Mensch schon seiner organischen Anlage nach vorzüglich geschaffen worden; denn bei ihm sind die Werkzeuge dieser Sinne vor allen Tieren kunstreich ausgebildet. Zu welcher Schärfe haben manche Nationen Auge und Ohr gebracht! Der Kalmücke sieht Rauch, wo ihn kein europäisches Auge gewahr wird; der scheue Araber horcht weit umher in seiner stillen Wüste. Wenn nun mit dem Gebrauch dieser scharfen und feinen Sinne sich zugleich eine ungestörte Aufmerksamkeit verbindet, so zeigen es abermals viele Völker, wie weit es auch im kleinsten Werk der Geübte vor dem Ungeübten zu bringen vermöge Die jagenden Völker kennen jeden Strauch und Baum ihres Landes: die Nordamerikaner verirren sich nie in ihren Wäldern, Hunderte von Meilen suchen sie ihren Feind auf und finden ihre Hütten wieder. Die gesitteten Quaranier, erzählt Dobritzhofer, machen mit einer bewundernswürdigen Genauigkeit alles nach, was man ihnen an feiner, künstlicher Arbeit vorlegt; aber nach dem Gehör, aus beschreibenden Worten können sie sich wenig denken und nichts erfinden: eine natürliche Folge ihrer Erziehung, in der die Seele nicht durch Worte, sondern durch gegenwärtige, anschaubare Dinge gebildet wurde, da wortgelehrte Menschen oft so viel gehört haben, daß sie, was vor ihnen ist, nicht mehr zu sehen vermögen. Die Seele des freien Natursohnes ist gleichsam zwischen Auge und Ohr geteilet; er kennt mit Genauigkeit die Gegenstände, die er sah; er erzählt mit Genauigkeit die Sagen, die er horte. Seine Zunge stammelt nicht, so wie sein Pfeil nicht irret; denn wie sollte seine Seele bei dem, was sie genau sah und hörte, irren und stammeln? Gute Anlage der Natur für ein Wesen, bei dem die erste Sprosse seines Wohlgenusses und Verstandes doch nur aus sinnlichen Empfindungen keimet. Ist unser Körper gesund, sind unsre Sinne geübt und wohlgeordnet, so ist die Grundlage zu einer Heiterkeit und innern Freude gelegt, deren Verlust die spekulierende Vernunft mit Mühe kaum zu ersetzen weiß. Das Fundament der sinnlichen Glückseligkeit des Menschen ist allenthalben, daß er da lebe, wo er lebt; daß er genieße, was ihm vorliegt, und sich, sowenig es sein kann, mit zurück- oder vorwärtsblickenden Sorgen teile. Erhält er sich auf diesem Mittelpunkt fest, so ist er ganz und kräftig; irret er aber, wenn er allein an das Jetzt denken und dasselbe genießen soll, mit seinen Gedanken umher: o wie zerreißet er sich und wird schwach und lebt oft mühseliger als die zu ihrem Glück enge-beschränkten Tiere. Das Auge des unbefangenen Naturmenschen blickt auf die Natur und erquickt sich, ohne es zu wissen, schon an ihrem Gewande, oder es arbeitet in seinem Geschäft, und indem es die Abwechselung der Jahrszeiten genießt, altert es kaum im höchsten Alter. Unzerstreuet von Halbgedanken und unverwirrt von schriftlichen Zügen, höret das Ohr ganz, was es höret; es trinkt die Rede in sich, die, wenn sie auf bestimmte Gegenstände weiset, die Seele mehr als eine Reihe tauber Abstraktionen befriedigt. So lebet, so stirbt der Wilde, satt, aber nicht überdrüssig der einfachen Vergnügen, die ihm seine Sinne gaben. Aber noch ein wohltätiges Geschenk verlieh die Natur Unserm Geschlecht, da sie auch den gedankendürftigsten Gliedern desselben die erste Sprosse der feinern Sinnlichkeit, die erquickende Tonkunst, nicht versagte. Ehe das Kind sprechen kann, ist es des Gesanges oder wenigstens der ihm zutönenden Reize desselben fähig; auch unter den ungebildeten Völkern ist also auch Musik die erste schöne Kunst, die ihre Seele beweget. Das Gemälde der Natur fürs Auge ist so mannigfalt abwechselnd und groß, daß der nachahmende Geschmack lange umhertappen und sich an der Barbarei des Ungeheuern, des Auffallenden versuchen muß, ehe er richtige Proportionen lernet. Aber die Tonkunst, wie einfach und rohe sie sei, sie spricht zu allen menschlichen Herzen und ist nebst dem Tanz das allgemeine Freudenfest der Natur auf der Erde. Schade nur, daß aus zu zärtlichem Geschmack die meisten Reisenden uns diese kindlichen Töne fremder Völker versagen. So unbrauchbar sie dem Tonkünstler sein mögen, so unterrichtend sind sie für den Forscher der Menschheit; denn die Musik einer Nation, auch in ihren unvollkommensten Gängen und Lieblingstönen, zeigt den innern Charakter derselben, d. i. die eigentliche Stimmung ihres empfindenden Organs, tiefer und wahrer, als ihn die längste Beschreibung äußerer Zufälligkeiten zu schildern vermöchte. - Je mehr ich übrigens der ganzen Sinnlichkeit des Menschen in seinen mancherlei Gegenden und Lebensarten nachspüre, desto mehr finde ich, daß die Natur sich allenthalben als eine gütige Mutter bewiesen habe. Wo ein Organ weniger befriedigt werden konnte, reizte sie es auch minder und läßt Jahrtausende hindurch es milde schlummern. Wo sie die Werkzeuge verfeinte und öffnete, hat sie auch Mittel umhergelegt, sie bis zur Befriedigung zu vergnügen, so daß die ganze Erde mit jeder zurückgehaltnen oder sich entfaltenden Organisation der Menschheit ihr wie ein harmonisches Saitenspiel zutönet, in dem alle Töne versucht sind oder werden versucht werden. -
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Wolfgang
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